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Sie befand sich in einem Zustand vollster Konzentration, war auf das Ziel fokussiert, in eine Form des meditativen Selbstverlustes gefallen. Der Kolben lag an ihrer Schulter, ihre Beine waren ausgestreckt und gespreizt, beide Ellbogen ruhten auf dem Boden, ihr gesamter Torso ruhte auf dem Boden, verschmolz damit, sie ließ die Kühle und Stabilität des Untergrundes zu einer des Körpers werden. Dann drückte sie vorsichtig das rechte Auge gegen das Okular, schloss das linke. Das Ziel lag genau im Fadenkreuz. Sie ließ sich Zeit. Die rechte Hand bewegte sich um Nuancen, zeitlupengleich umfasste der Zeigefinger den Abzughahn. Ein Atemzug noch. Die Luft anhalten. Der Knall, der Stoß gegen die Schulter, der scharfe Geruch nach verbranntem Pulver.

Christina setzte das Gewehr ab und schaute zur Zielscheibe. Sie erhob sich und streckte ihre Glieder. Der Trainer stand ein paar Schritte neben ihr und nahm das Fernglas von seinen Augen sowie die Ohrenschützer vom Kopf. Er lächelte Christina breit an und hob den Daumen. Auch sie streifte die Ohrenschützer ab.

„Tadellos, Frau Kollegin!“, rief der Mann. „Das waren jetzt eine Menge Ringe. Die genaue Auswertung schau ich mir später an. Sie haben wirklich Talent, Frau Kayserling. Ein gutes Auge, eine ruhige Hand.“

Christina fühlte, wie die Spannung von ihr abfiel, ein Lächeln legte sich in ihr Gesicht.

„Vielen Dank.“

Sie begann das Scharfschützengewehr, so wie sie es im Kurs gelernt hatte, zu zerlegen und zu reinigen. Präzisionsinstrumente erforderten penible Pflege und Wartung, das war die erste Lektion gewesen.

„In drei Monaten findet der Kurs für Fortgeschrittene statt. Ich hoffe stark, dass wir uns wiedersehen. Dann werden wir die großen Distanzen in Angriff nehmen“, sagte der Trainer und machte einen Vermerk auf seiner Liste.

Christina wiegte den Kopf.

„Na, ich weiß nicht.“

Der Trainer starrte Christina an.

„Was soll das heißen? Zaudern wird nicht gestattet!“

Christina zuckte mit den Schultern.

„Das Kurszeugnis kriege ich, damit habe ich die Fortbildungsmaßnahme für heuer erledigt. Ich glaube, dabei werde ich es bewenden lassen.“

Der Trainer stemmte seine Fäuste in die Hüften.

„Das will ich aber jetzt nicht gehört haben. Ich habe nicht jeden Tag so talentierte Schützen auf dem Schießstand.“

„Erstens bin ich eine Schützin und zweitens reicht der Basiskurs für meinen Geschmack vollständig aus. Ich kann jetzt mit einem SSG69 umgehen. Das ist genug.“

Der Trainer verzog seine Miene.

„Na geh, Frau Kollegin, Sie haben das Zeug zur Scharfschützin. So ein Talent muss doch gefördert werden!“

Christina schloss den Gewehrkoffer.

„Scharfschützin will ich eigentlich gar nicht werden. Der Job gefällt mir nicht.“

„Ein Job wie jeder andere bei der Polizei.“

„Das schon, aber dafür bin ich schon zu alt und ich habe nicht die richtigen Nerven.“

„Glaub ich weniger. Mit etwas Übung wird Ihre Hand noch ruhiger und sicherer.“

„Die Hand ist nicht das Problem“, gab Christina zurück. „Eher der Kopf. Als Scharfschütze muss man, wenn es darauf ankommt, auch abdrücken.“ „Das natürlich schon“, räumte der Trainer ein.

„Ich habe schon einmal auf einen Menschen geschossen. Vorschriftsmäßig in den Oberschenkel, keine bleibenden Verletzungen, die Untersuchungskommission hat meinen Einsatz sogar gelobt. Aber mir ist es monatelang nicht gut gegangen. Trotz psychologischer Betreuung“, erläuterte Christina und grinste verschmitzt. „Oder vielleicht gerade deswegen!“

Der Trainer lachte kurz und nickte ihr zu.

„Alles klar, Frau Abteilungsinspektor. Das Zeugnis für den Kurs kriegen Sie in ein paar Tagen zugestellt. Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Und wenn Sie mal etwas brauchen, jetzt wissen Sie ja, wo ich zu finden bin.“

Christina schüttelte dem Polizeimajor die Hand, packte den Gewehrkoffer und marschierte zum Depot, während er die Ohrenschützer überstreifte und zum nächsten Kursteilnehmer trat, um dessen Schussleistung beim Abschlusstest zu beobachten.

Tatsächlich hatte das viele Blut dieses einen Abends sie nicht nur monatelang verfolgt, sondern in manchen Momenten tauchte nach wie vor die Erinnerung an diesen Nachtdienst in ihr auf. Jetzt zum Beispiel. Es hatte sich im zweiten Jahr ihrer Dienstzeit zugetragen, sie war mit einem erfahrenen Kollegen unterwegs gewesen, sie hatten einen Funkspruch erhalten, waren zum Ort des Geschehens gefahren und hatten in einer Wohnung einen Mann völlig außer Kontrolle vorgefunden, der zuvor seine Exfrau mit einer Serie von Messerstichen schwer verletzt hatte. Der Mann war auf den Kollegen gestürzt und hatte auch ihm das Messer in den Bauch gerammt. Danach war er auf Christina losgestürmt und war nur durch einen Schuss zu stoppen gewesen. Ein klarer Fall von Notwehr im Einsatz, dennoch war dies der scheußlichste Abend ihres Lebens gewesen. Zum Glück hatte sie danach nie wieder ihre Waffe gegen einen Menschen abfeuern müssen.

Sie hasste die Erinnerung an dieses Ereignis, aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, diese Erinnerung als einen Teil ihres Lebens zu akzeptieren. Mit einem Gedanken an den vor ihr liegenden gemütlichen Abend mit Wilhelm gelang Christina die Vertreibung der alten Bilder.

Als Polizistin brauchte man durchaus ledrige Haut. Und ein dichter Pelz konnte auch nicht schaden.

Neumondnacht

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