Читать книгу Neumondnacht - Günter Neuwirth - Страница 20
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ОглавлениеDer Geruch sickerte in ihr Gehirn. Kaltes Fleisch. Christina ließ den Blick schweifen. Brummende Kühlaggregate, Sichtbeton und lackierter Stahl, und nirgendwo auch nur ein Staubkörnchen. Neben und hinter Christina standen Raimund Brandstätter, der Mann des Wachdienstes und Gernot Anzengruber am Rande der Halle in der Ecke, die die Kollegen der Spurensicherung ihnen zugewiesen hatten. Sie warteten auf deren Freigabe, um näher an den Tatort heranzudürfen. Christina wandte sich Anzengruber zu.
„Herr Anzengruber, geben Sie mir mal ein paar allgemeine Infos. Wie funktioniert der Betrieb bei Ihnen?“
Gernot Anzengruber schluckte betreten. „Na, wir lagern halt Fleisch und Wurst.“
„Ja, das ist wirklich unverkennbar. Aber wie laufen die Prozesse?“
„Die Ware kommt rein, wird gelagert, dann geht sie wieder raus.“
Christina verzog ihre Miene. Aus diesem Mann war wohl nicht allzu viel an brauchbarer Information herauszubekommen.
„Gib ihm Zeit, Christina“, raunte Raimund. „Er ist völlig konfus.“
Sie nickte dem Kommandanten der hiesigen Bezirkspolizeistation zu.
Dann winkte der Leiter der Spurensicherung Christina zu.
„Bitte, meine Herren, warten Sie hier. Raimund, wir gehen.“
Raimund Brandstätter winkte mit gequältem Blick ab.
„Ich warte auch. Hab alles schon begutachtet. Geh du nur. Ich bin ja hier nur der Hilfssheriff.“
Christina streifte die Schuhüberzieher über ihre Füße und Gummihandschuhe über ihre Hände, dann stapfte sie quer durch die Kühlhalle auf den Kollegen zu. Dieser nickte ihr zu und führte sie an den Förderstrecken vorbei bis an eine Gitterwand. An der Gitterwand hing eine große Tafel mit dem Buchstaben E. Der Mann blieb am Gitter stehen und wartete, bis Christina einen Blick in die Gasse zwischen zwei Regelreihen geworfen hatte.
„Also der erste Anschein ist folgender“, hob Pokorny an und wies auf seine zwei Kollegen und den Gerichtsmediziner, die in der Lagergasse arbeiteten. „Laut Führerschein, den der Tote im Jackett bei sich trug, hieß der Mann Herbert Felder. Der Kopf ist nur geringfügig beschädigt, das Foto im Führerschein passt. Der Mann hielt sich im hinteren Teil des Ganges auf. Der Zweck seines Aufenthalts im Gang ist unklar. Die Maschine stand in jedem Fall still, anderenfalls wäre er gar nicht nach hinten gekommen, Sie sehen ja, wie eng hier alles ist. Irgendwer oder irgendetwas hat die Maschine eingeschaltet. Der Mann hat einen Fluchtversuch unternommen, ist von der Maschine erfasst und gegen einen Stahlpfeiler geworfen worden. Dabei muss sich der Mann erhebliche, aber wahrscheinlich keine tödlichen Verletzungen zugezogen haben. Bei der Rückfahrt der Maschine ist er erneut erfasst worden, wahrscheinlich lag er benommen oder bewusstlos auf dem Boden, und da ist es dann mit großer Wahrscheinlichkeit zu den letalen Verletzungen gekommen. Das rechte Bein wurde abgetrennt, ziemlich sicher lag es auf der Bodenschiene des Geräts, der Torso wurde mitgeschleift, der Oberkörper verfing sich an einer der Kunststoffwannen und die Bauchdecke wurde aufgerissen. Kein erheblicher Austritt der inneren Organe, aber eine großflächige Wunde war die Folge. Das linke Bein und beide Arme weisen multiple Frakturen auf. Der Tod ist wahrscheinlich durch den Blutverlust nach der Abtrennung des Beines eingetreten. Soweit die Erkenntnisse der ersten Sichtung, wir sind ja noch bei der Arbeit.“
Christina schluckte einen bitteren Geschmack hinunter.
„Es heißt Gasse, nicht Gang“, korrigierte Christina.
Pokorny zog die Augenbrauen hoch.
„Gasse?“
„In Automatiklagern spricht man nicht von Gängen, sondern von Gassen. Da geht niemand, sondern da fahren Maschinen.“
„Haben Sie Erfahrungen mit Hallen wie dieser?“
„Nur theoretische. Könnte es Ihrer Ansicht nach ein Unfall gewesen sein?“ Der Mann wiegte den Kopf.
„Das ist unklar, Frau Kayserling. Nachts steht die Anlage still. Ob sich die Maschine regelmäßig bewegt oder nicht, weiß ich nicht. Das sollte aber durch eine Analyse der Steuerungstechnik zu klären sein. Es ist auch möglich, dass die Maschine vom Leitstand aus bewusst eingeschaltet worden ist. Das kann ich hier und jetzt nicht beantworten.“
„Herbert Felder, sagten Sie. Den Namen habe ich schon gehört, ein bedeutender Geschäftsmann. Was macht ein Unternehmer mitten in der Nacht in einem Automatiklager?“
„Glaube fast, dass Sie diese Frage klären müssen. Überhaupt schaut die Sache nach verflixt viel Arbeit für uns alle aus“, sinnierte Pokorny. Christina nickte mit zusammengekniffenen Lippen.
„Die Lagerfächer sind sehr klein. Hätte er sich vor dem heranrollenden Regalbediengerät in einem Fach verstecken können?“, fragte Christina. „Möglich. Der Mann war von großer Statur und korpulent, er hätte in einem leeren Fach schwer Platz gefunden, aber er hätte eine Chance gehabt. Wir werden das prüfen. Er hat sich aber leider für das Falsche entschieden, für eine Flucht in der Gasse. Das konnte sich nicht ausgehen.“
Christina starrte auf die zerschundene Leiche neben und unterhalb des Regalbediengerätes, das die längste Zeit wieder an seiner Ruheposition stand und auf neue Arbeitsaufträge wartete.
„Tod durch Regalbediengerät“, murmelte Christina.
Der Leiter der Spurensicherung nickte zustimmend. Christina blickte auf drei Etiketten, die an der Gittertür angebracht waren. Ein Etikett zeigte das Logo der Bernsteiner Fleischwaren AG, ein weiteres das Etikett der Firma, die hier den gesamten Stahlbau durchgeführt hat, und das dritte Etikett zeigte ein ihr bestens bekanntes Logo, nämlich das Logo der W. Kayserling Logistiksysteme GmbH. Der Polizist neben ihr verfolgte Christinas Blick.
„W. Kayserling? Ein Verwandter von Ihnen?“, fragte er betont unbeteiligt.
„Immerhin mein Ehemann.“
Der Mann aus Linz hob die Augenbrauen.
„Ach so. Und deshalb Ihre Fachkenntnisse.“
„So ist es.“