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Ausnahme
ОглавлениеAls A. gilt jener Fall, der nicht der Regel gehorcht. Im politischen Raum (↗ Geopolitik) wird eine Situation als A.zustand bezeichnet, sobald der Bestand des Staates, die politische ↗ Ordnung oder die Ausübung politischer Grundfunktionen als gefährdet betrachtet werden. Um der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit entgegenzutreten, werden Notstandsregelungen vom politischen Souverän oder dessen Repräsentanten (↗ Repräsentation) eingesetzt, die von intrakonstitutioneller oder extrakonstitutioneller Art sind: Das heißt, entweder ist die ↗ Aufhebung der Verfassung bzw. die Inkraftsetzung von Notstandsgesetzen in der Verfassung verankert, oder es werden im Fall eines A.zustandes Notmaßnahmen ergriffen, die nicht von der Verfassung gedeckt sind. Eine einflussreiche und umstrittene Theorie des A.zustandes legt Carl Schmitt (1888–1985) in dem Buch Politische Theologie von 1922 vor: Nach Schmitt ist der Souverän derjenige, der über den A.zustand und über die Frage, wer Freund oder Feind ist, entscheidet (2009, 25). Oftmals wird das A.recht in Bezug zu Diktatur, Totalitarismus oder zum Nationalsozialismus gesetzt. Das Problem einer Theorie des A.zustandes besteht darin, die ↗ Aufhebung einer Rechtsordnung in eine Verfassung zu integrieren, damit die Suspendierung der Rechtsordnung im A.zustand legitim ist. Von Giorgio Agamben stammt eine jüngere Auseinandersetzung mit dem A.zustand, die in sein mehrbändiges Werk Homo sacer eingebettet ist, das sich mit den Lagern des Nationalsozialismus beschäftigt: Den A.zustand beschreibt Agamben (2004, 101) als eine ↗ Zone zwischen Anomie (Rechtlosigkeit) und Nomos (↗ Nahme), die als ↗ Matrix dem Politischen des Abendlandes (↗ Okzident) zugrunde liegt. Nach Agamben ist der Staat weder ↗ Ausdruck einer sozialen (↗ Sozialraum) ↗ Struktur, noch das Resultat eines Gesellschaftsvertrages (↗ Öffentlichkeit); vielmehr gründet sich der Staat paradoxerweise auf eine Auflösung (↗ Verstreuung) sozialer Bande, die er gleichzeitig verbietet. Nicht der Staat, sondern das ↗ Lager als ein ↗ Ort des A.zustandes bildet das biopolitische ↗ Paradigma des Abendlandes, in dem ein Konflikt (↗ Kampf) zwischen dem Staat und der ↗ Singularität ausgetragen wird. Agamben (2002) betrachtet das Lager als eine Spiegelfigur der abendländischen Staatsform, die im Konflikt mit der Singularität im A.zustand agiert. Eine weitere Auseinandersetzung mit dem A.zustand findet in der ↗ Stadt- und Metropolenforschung statt: Hier wird der Begriff weniger in seiner politischjuristischen Bedeutung untersucht, vielmehr wird dieser auf Phänomene der Kriegsführung (↗ Strategie), urbaner Verwahrlosung, der Überwachungstechnologie (↗ Teletopologie), sozialer In- und Exklusionen (↗ Ausschluss), der Aufstandsbekämpfung oder ökonomischer Krisen und ökologischer Katastrophen bezogen. Die doppelte Bedeutung des Begriffes A.zustand wird im Englischen mit der Unterscheidung zwischen state of emergency und state of exception wiedergegeben: Im A.zustand wird der Raum der Stadt zum physisch (↗ Physik) umkämpften Ort. Im Zuge des New Military Urbanism (Graham 2010) rückt eine systematische Zerstörung des urbanen Raums, insbesondere des Verkehrs (↗ Straße), der Versorgung (↗ Türwächter), der Energie, des Wassers (↗ Kanal) und des Transportes (↗ Erreichbarkeit) ins Zentrum militärischen Handelns (↗ Operation). Für die Beschreibung der Zerstörung hat sich der Begriff urbicide durchgesetzt, um auf die Urbanisierung des Krieges (↗ Schlacht) hinzuweisen.
Literatur: Geulen 2009; Graham 2004; Norris 2005.
Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer, Frankfurt a. M. [ital. 1995].
Ders. (2004): Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. [ital. 2003].
Geulen, Eva (22009): Giorgio Agamben, Hamburg.
Graham, Stephen [Hg.] (2004): Cities, War, and Terrorism, Oxford.
Ders. (2010): Cities Under Siege, London/New York.
Norris, Andrew (2005): The Exemplary Exception, in: Politics, Metaphysics, and Death, hg. v. dems., Durham/London, 262–283.
Schmitt, Carl (82009): Der Begriff des Politischen, Berlin [1927].
Ralf Rother