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Verwandtschaftliche Ordnungen

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Als kulturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand ist Verwandtschaft 1. ein begriffliches Ordnungssystem zur Definition sozialer Beziehungen, das seine Terminologie aus dem Wortfeld der biologischen Reproduktion bezieht, dessen Bezug zu Zeugung und biologischer Reproduktion aber weder notwendige noch zureichende Bedingung für Verwandtschaft ist, und 2. die mit diesem terminologischen Regulativ organisierte soziale Praxis.

Als Testfälle für die jeweils kulturspezifische Relation von Biologie und Verwandtschaft eignen sich besonders der Umgang mit Illegitimität, mit Adoption und mit der Frage, welche Personen eine Kultur als „wirkliche“ Eltern bezeichnet – die genitores oder die sozialen Eltern [↗ Lebenszyklus]. Mit der wissenschaftlichen Durchsetzung dieser Definition, die nicht an biologischen Relationen, sondern an „Denkfiguren“ ansetzt, hat sich das Bild der mittelalterlichen Verwandtschaft fundamental verändert. Zwei bislang kaum verbundene Forschungstraditionen haben die Einsichten hervorgebracht, die gegenwärtig zu einer neuen Makrodeutung (M. Mitterauer, B. Jussen 2007) zusammengefügt werden.

Die eine (im wesentlichen deutschsprachige) Tradition hat sich seit den 1960er Jahren auf die Suche gemacht nach den verschiedenen Akteursgruppen, die ihren Zusammenhalt je nach Situation in unterschiedlicher Weise mit der Denkfigur „Verwandtschaft“ definiert haben. Durch Deszendenz und Heiratsallianz konstituierte Gruppen gerieten so in einen Beobachtungszusammenhang mit Bruderschaften, Gilden, Pfarreien oder Klöstern, weil die Mitglieder all dieser Institutionen ihre Beziehungen mit dem Vokabular der Verwandtschaft reglementierten. Die Erforschung von Verwandtschaft ist seither eine Unterkategorie der Erforschung sozialer Gruppen. Im Rahmen dieser gruppensoziologischen Perspektive beobachtet man Abstam-mungs- und Heiratsverwandtschaft in ihrem Behauptungsvermögen gegenüber anderen Vergesellschaftungsformen. Dabei hat man sich erstaunlich lange auf ihr Verhältnis zu paritätischen Sozialformen konzentriert (Gilden, Bruderschaften, amicitiae), während hierarchische Institutionen wie Grundherrschaft und Lehnswesen als Konkurrenz- und Entlastungsinstitutionen von Deszendenz und Allianz erst jüngst systematisch einbezogen wurden. Insgesamt konnte der gruppensoziologische Ansatz zeigen, daß Abstammungs- und Heiratsverwandtschaft in Lateineuropa weit weniger soziale Funktionsbereiche organisiert hat als in vergleichbaren Gesellschaften. Sie ist schon sehr früh, seit der Durchsetzung des Christentums als herrschendes Deutungssystem, entlastet worden durch eine Vielzahl paralleler Sozialformen wie Gilden, Bruderschaften, Gemeinden (O. G. Oexle), Grundherrschafts- und Lehensbeziehungen (M. Mitterauer) oder später Universitäten (G. Algazi).

Die andere (im wesentlichen anglo- und frankophone) Forschungstradition untersuchte seit Mitte der 1980er Jahre, angeregt durch die makrohistorischen Deutungen des Ethnologen J. Goody, warum sich in Lateineuropa seit dem Ende des Römischen Reiches ein im weltweiten Kulturvergleich sehr ungewöhnliches Denk- und Ordnungssystem der Verwandtschaft entwickelt hat: „Wie kam es, daß sich etwa ab 300 n.Chr. bestimmte allgemeine Züge des europäischen Erscheinungsbildes von Verwandtschaft und Ehe anders gestalteten als im antiken Rom, Griechenland, Israel und Ägypten, anders auch als in den Gesellschaften an den Mittelmeerküsten des Nahen Ostens und Nordafrikas, die diese ablösten?“ Die Geschichte des lateineuropäischen Verwandtschaftssystems, so die seither diskutierte Hypothese, habe ihr eigentümliches und bis heute prägendes Profil mit der Durchsetzung des Christentums im 5. bis 7. Jahrhundert erhalten. Seinerzeit seien sämtliche Reparaturmechanismen des biologischen Zufalls (Scheidung, Polygynie und Konkubinat, Adoption) verschwunden, ein umfassendes System von Heiratsverboten etabliert und die Wiederheirat massiv pejorisiert worden bei gleichzeitiger religiöser Prämierung der asketischen Witwenschaft. Im lateinischen Westen seien zu jener Zeit die patriarchalischen Systeme der alten Mittelmeergesellschaften einem bilateralen – gleichermaßen mütterliche wie väterliche Verwandte berücksichtigenden – Verwandtschaftssystem gewichen, das in der Folge in Lateineuropa durchgängig zu beobachten sei. Als strukturierende Institution der Gesellschaft sei Verwandtschaft in jenen Jahrhunderten massiv entwertet worden und seither im lateinischen Europa – wie der Kulturvergleich lehrt – eine vergleichsweise strukturschwache Einrichtung geblieben. Diese seit Goodys Impuls diskutierte Hypothese von der Entfamiliarisierung des Sozialen in Lateineuropa seit dem frühen Mittelalter bedeutet natürlich nicht, daß Verwandtschaft unwichtig geworden oder verschwunden sei, sondern daß sie von einer das Soziale strukturierenden Institution zu einer Institution geworden ist, die der Strukturierungslogik anderer Institutionen unterworfen war (J. Morsel).

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Forschung sich intensiv damit befaßt, die Geschichte jeder einzelnen Erbschaftsstrategie erneut unter die Lupe zu nehmen. Dabei ist Goodys Deutung von seiner Beobachtung getrennt worden. Die Deutung (er hatte eine umfassende kirchliche Strategie der Besitzakkumulierung unterstellt) ist zügig abgelehnt worden, seine Beobachtung aber (das Verschwinden oder Unterdrücken aller Strategien zur Erbschafts- und Besitzarrondierung im frühen Mittelalter) hat der empirischen Überprüfung grosso modo standgehalten. Der Forschungsstand zu den einzelnen Strategien sei im Folgenden skizziert.

BERNHARD JUSSEN

Enzyklopädie des Mittelalters

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