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Recht

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Orientiert man sich an der modernen Rechtstheorie, ist der Begriff der Rechtsordnung von drei Bedingungen abhängig: der Vorstellung der Rechtsordnung als Sollensordnung, dem Verständnis von Rechtsordnung als bewußt zu schaffende und veränderbare Ordnung sowie der Abgrenzung der Rechtsordnung von anderen Sollensanforderungen, zum Beispiel moralischen, sittlichen, Vorschriften. Eine naive Rückprojektion derartigen „Verfügungswissens“ aus dem geltenden Recht führt zu Anachronismen, die eine adäquate Erfassung „mittelalterlichen Rechts“ weitgehend verunmöglichen. Eine Reihe von aktuellen Forschungskontroversen, etwa bezüglich des „guten, alten Rechts“ (F. Kern), der Geltungsproblematik, der Typologie des Rechtsquellenbestandes, des Rechtsbegriffs, sind durch unterschiedliche „Instrumentalisierungen“ (mit-)bedingt. Um einen rechtshistorischen Diskurs aber überhaupt sinnvoll führen zu können, ist eine Antizipation am juristisch-begrifflichen Verständnishorizont der Gegenwart unumgänglich. Eine derartige Orientierung an modernen Ordnungsbegriffen führt bei dessen Bewußtmachung nicht zu unreflektierten Anachronismen und einer Fokussierung „zeitgebundener Leitbilder“ im Mittelalter, sondern sichert in der distanzierenden Verwendung, Offenlegung und kritischen Hinterfragung einen beachtlichen Erkenntnisgewinn.

Bei einer Charakterisierung des „mittelalterlichen Rechts“ sind zwei Traditionslinien zu unterscheiden, das gelehrte römisch-kirchliche und das „ungelehrte“ Recht. Die mittelalterliche Rechtskultur umschließt zwei Rechtswelten: Die eine ist den Menschen vertraut, weil sie jenes Recht einfängt, das diese meist selbst durch dauernde Übung oder vertragliche Vereinbarung hervorbringen, sehr oft bloß mündlich an die nächste Generation weitergeben und aus ihrer Mitte heraus durch Laienschöffen anwenden. Dieses Recht wird als „heimisches“ und, weil es zersplittert ist, auch als „partikuläres“ Recht bezeichnet, später von der Rechtswissenschaft im Hinblick auf seine germanisch-fränkischen Wurzeln als „Deutsches Recht“ im Sinne einer dialektischen Gegenposition zum „Römischen Recht“ und „Kanonischen Recht“ begrifflich erfaßt.

Die andere Rechtswelt ist die durch die Kirche bewahrte Rechtskultur. Sie war jene Organisation, die von der Antike übernommene Denkmuster, Organisationsformen und Rechtsvorstellungen übernahm, weiterentwickelte und tradierte und mit der Etablierung einer europäischen Rechtswissenschaft seit dem 12. Jahrhundert den europäischen rechtswissenschaftlichen Diskurs bestimmte. Die Anwendung der scholastischen Methode auf das „wiederentdeckte“ römische Recht (Digesten) sowie auf das von Gratian bereits nach scholastischer Methode aufbereitete kirchliche Recht, die Organisation eines Rechtsstudiums in Bologna sowie das Entstehen eines „gelehrten Juristenstandes“ veränderte das traditionale Verständnis von Recht. Es ist ein „gelehrtes“ Recht, das nicht auf den heimischen Partikularrechten aufbaut, sondern auf dem „römischen“ und „kanonischen“ Recht. Die „Rückwirkung“ dieses gelehrten Rechtes auf das heimische Recht wird als Rezeption bezeichnet. Dabei steht keineswegs nur die Übernahme von Lehrsätzen des ius commune in das heimische Recht im Vordergrund, sondern entscheidend ist ein damit verbundener umfassender Rationalisierungsprozeß, der das gesamte Rechtsverständnis verändert. „Wir verstehen darunter“ – so F. Wieacker – „die intellektuelle Rationalisierung des gesamten öffentlichen Lebens: den Austrag politischer und privater Konflikte nicht mehr durch Gewalt, Emotion oder unreflektierte Lebenstradition, sondern durch logische Erörterung der autonomen juristischen Sachproblematik.“

Geographisch ist zwischen den mediterranen Gebieten und den Ländern nördlich der Alpen zu unterscheiden. In der mediterran geprägten Welt [↗ Mediterraner Raum] ist der Einfluß der römisch-kirchlichen Rechtskultur dominierender als in den Gebieten nördlich der Alpen [↗ Zentraleuropäischer Raum]. Diesen angedeuteten Traditionslinien entspricht auch eine soziokulturelle Differenzierung in eine lateinisch-klerikale und eine volkssprachliche, beinahe ausschließlich illiterale Laienkultur, deren Nebeneineinader und Interdependenzen eine spezifische Gemengelage von Erscheinungsformen des schriftlich-gelehrten und des mündlichungelehrten Rechts mit sich bringt.

Ausgangspunkt ist die Errichtung von Reichen germanischer Eroberungsvölker auf römischem Reichsboden, deren Recht „ungeschrieben“ war [↗ Völkerwanderung]. Die damit verbundene Begegnung mit der Schriftlichkeit, für deren Ausbreitung zunächst die Kirche sorgte, führte bereits im Frühmittelalter zu Aufzeichnungen von Stammesrechten (leges). Die Sprache dieser Rechtssammlungen ist Latein [↗ Latein]; die dort enthaltenen Hinweise auf römisches Recht beziehen sich nicht auf das klassische Recht, sondern das römische Vulgarrecht des 4. und 5. Jahrhunderts. Die Stammesrechte beinhalteten Aufzeichnungen von Rechtsgewohnheiten, aber auch Rechtserneuerung. Herrschergebote als Form von Gesetzgebung sind die Privilegien, zum Beispiel bereits in merowingischer Zeit Schutz-, Geleit- und Immunitätsprivilegien. Dem fehlenden Rechtsetzungs- und Gewaltmonopol des Herrschers im mittelalterlichen Personenverbandsstaat entsprechend [↗ Königsherrschaft], kommen Einungen für die Entstehung von Normen wesentliche Bedeutung zu. Schwureinungen sind „durch Konsens, Vereinbarung und Gleichordnung gekennzeichnete, in wechselseitig geleisteten Versprechenseiden gründende und die Verwirklichung selbst gesetzter Ziele verfolgende Vergesellschaftung sozialer Gruppen“ (J. Weitzel). Klerikergilden und Schutzeinungen sind bereits für die Merowingerzeit nachgewiesen. Kapitularien, nach Kapiteln (capitula) eingeteilte königliche „Erlasse“, dokumentieren eine frühe gesetzgebungsähnliche Tätigkeit (Rechtsgebote) im fränkischen Großreich. Die Zeit nach dem Zerfall dieses fränkischen Großreiches hat kaum Rechtsquellen hinterlassen. Schrift- und insbesondere Gesetzgebungsrecht erreichen einen Tiefpunkt; dominierend sind die Rechtsgewohnheiten. Kaiser und Könige erließen Gesetze nur noch für Italien, maximal 20 Stück in 226 Jahren. Nördlich der Alpen hatten Stammesrechte und Kapitularien „bald nur noch Erinnerungswert“ (J. Weitzel). Vereinzelt kam es unter meist kirchlichen Grundherren zu Aufzeichnungen von Hof- und Dienstrechten (z.B. Wormser Hofrecht von 1024). Deutlicher als im Frühmittelalter sind die Schwureinungen mit ihrer normsetzenden Tätigkeit zu erfassen. Im 11. Jahrhundert entsteht die für die mittelalterliche Rechtserneuerung wichtige kommunale Bewegung, die mit dem oft jährlich zu erneuernden genossenschaftlichen Gesamteid der Bürgergemeinde ihr autonomes, gewillkürtes Recht schafft (Stadtrechte). Der Friedenssicherung verpflichtet ist eine weitere normbildende Erscheinung dieser Epoche, die sogenannten Gottes- und die ihnen nachfolgenden Landfrieden, deren Geltungsgrund in der eidlichen Verwillkürung der Betroffenen liegt. Da die „Zentralgewalt“ den Frieden nicht gewährleisten konnte, nahmen Bischöfe und Äbte sich dieser Aufgabe an. Auf Diözesansynoden und anderen großen Versammlungen wurde der Adel dazu bewogen, sich durch Eid zur Einhaltung der Pax Dei, zum Gottesfrieden [↗ Gottesfriede, Landfrieden], zu verpflichten; als Sanktionen waren vor allem kirchenrechtliche Nachteile wie Exkommunikation, Sakraments- und Grabverweigerung etc. vorgesehen. Die Gottesfriedensbewegung erreichte das Reich gegen Ende des 11. Jahrhunderts (Lüttich 1082, Köln 1083, Bamberg 1085). Allmählich entwickelte sich der Schutz einzelner Tage und bestimmter Personen zu dem ganzer Zeiträume bzw. des ganzen Landes; peinliche Strafen warteten auf die Übertreter. Aus dem Gottesfrieden wurde der Landfrieden, der im deutschen Reich ab dem 11. Jahrhundert immer wieder zwischen König, Reichsfürsten und dem Adel vereinbart und beschworen wurde. Auch in den Territorien entstanden parallel zur Entwicklung auf Reichsebene Landfriedenseinungen des Landesherrn mit den Landständen oder einseitige landesherrliche Landfriedensgesetze.

Die „immer noch nicht hinreichend ausgerichtete Schattenlage der Rechtsgeschichte“ von der Mitte des 9. bis zum 11. Jahrhundert (H. Schlosser) wurde Ende des 12. Jahrhunderts und während des 13. Jahrhunderts von einer gesamteuropäischen Rechtsdokumentationswelle abgelöst. Es machte sich geradezu ein Hang zu (privaten wie amtlichen) schriftlichen Rechtsaufzeichnungen bemerkbar. Sie sind in erster Linie Zustandsbilder partikularer Rechtsgewohnheiten und geben als solche die Zersplitterung des spätmittelalterlichen Rechts wieder, enthalten aber auch ernstzunehmende Versuche der Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortbildung. Unter den privaten Rechtssammlungen erwarben sich die Land- und Lehnrechtsbücher (seit dem 13. Jahrhundert) besonderes Ansehen, da sie die einzig greifbaren geschlossenen Rechtsdarstellungen waren und damit zur unmittelbaren Erkenntnisquelle für die Rechtsanwendung wurden.

Diese Verschriftlichung hängt – wenn auch in unterschiedlicher Intensität und Beeinflussung – mit der Entstehung der europäischen Rechtswissenschaft, dem gelehrten Recht zusammen. Die bisher dominierende Vorherrschaft der Rechtsgewohnheit wurde im Sinne des Schriftrechts zurückgedrängt und umgedeutet. Die Entwicklung einer Rechtstheorie und insbesondere die rechtstheoretische Erfassung des Gesetzgebungsrechts weltlicher Herrscher und des Papstes durch die gelehrten Juristen führten zu modernen Kodifikationen. Die Kollisionsprobleme, die sich aus der Partikularisierung des Rechts und der Rechtszersplitterung ergaben, wurden dadurch verschärft, daß jeder Rechtsgenosse seinem Recht (dem Recht seines Geburtsortes) unterworfen blieb, wo immer er sich gerade aufhielt (Personalitätsprinzip). Aber auch die im ausgehenden Hochmittelalter zunehmende Vorstellung eines großräumigen territorialen Geltungsbereiches des Rechts (Territorialitätsprinzip) schloß lokale Besonderheiten neben dem „Landrecht“ nicht aus. Es blieb ein Kennzeichen des mittelalterlichen Rechts, daß es den Menschen in seinem typischen Lebensbereich erfaßte, ihn persönlich und örtlich einem besonderen Herrschafts- und Rechtskreis zuordnete [↗ Herrschaft]. Eine die Rechtsvielfalt harmonisierende zentrale Gesetzgebungsgewalt fehlte, ebenso eine entwicklungsfähige Justizverfassung und die wissenschaftliche Bearbeitung des heimischen Rechts.

Anregend ist auch die von D. Willoweit verwendete Kategorisierung von „innergesellschaftlicher und hierarchisch begründeter Rechtsbildung“, die es ermöglicht, „charakteristische Gemeinsamkeiten mittelalterlicher Rechtsfiguren aus ihrer Genese zu erklären“ und Spannungen und ein über Jahrhunderte bestehendes Nebeneinander verschiedener Entwicklungslinien zu erklären. „Um einen Konflikt“ – so D. Willoweit – „zwischen germanischem und römischkanonischem Recht handelt es sich dabei nicht. Der Einfluß der gelehrten Rechte prägte zunehmend beide Wege der Rechtsbildung. Aber der eine, eher altertümliche, endet in einer Sackgasse, während der andere in die moderne Freiheit des Gesetzgebers mündet.“

Um das heimische Recht bis zu dessen zunehmender „Verwissenschaftlichung“ im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit zu beschreiben, wurde in den letzten Jahren als zentrales heuristisches Kriterium jenes der „oral society“ fruchtbar gemacht. Die Forschung orientiert sich an den Charakteristika von Gesellschaften mit vornehmlich mündlicher Kommunikation und deren Problemen des Überganges zur Schriftlichkeit [↗ Schriftlichkeit und Mündlichkeit], ein interdisziplinärer Zugang aus Ethnologie, Geschichtswissenschaft sowie mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen. Danach ist wesentlich für das „Verstehen“ einer durch Oralität geprägten Kultur, daß diese Prägung nicht nur „akzidentiell“, sondern prinzipiell und konstitutiv ist. Für einen einer Schriftkultur verpflichteten retrospektiven Beobachter resultiert daraus das Erfordernis, sich von Relationen zur Schriftkultur weitgehend (gedanklich) zu entfernen und zu versuchen, „Eigengesetzlichkeiten“ von Oralität gerecht zu werden. Entscheidend ist, daß bei kulturprägender Mündlichkeit die gedankliche Alternative des Schriftrechts fehlt (H. Vollrath).

Dominierend in dieser oralen Kultur waren Rechtsgewohnheiten. Mit dem Begriff „Rechtsgewohnheit“ wird bewußt die Einheitsbezeichnung eines „mittelalterlichen Gewohnheitsrechts“ vermieden. Gewohnheitsrecht orientiert sich stark an der modernen Rechtssprache und setzt das Pendant einer schriftlichen Rechtsordnung voraus. Dem Mittelalter fehlen aber die „gedanklichen Alternativen des Schriftrechts und seiner vor dem Rechtsbewußtsein des einzelnen und vor dem gegenwärtigen Konsens liegenden Normativität“ (J. Weitzel).

F. Kern vertrat die folgenreiche These, im Gegensatz zum modernen, vom Staat gesetzten Recht sei für das Rechtsverständnis „des Mittelalters“ kennzeichnend, daß es „alt und gut“ sei. Diese suggestive These, stark bestimmt durch zeitgebundene Leitbilder (z.B. das „gute alte“ Recht als Antithetik zum „schlechten modernen“ Recht) ist von der rechtshistorischen Forschung „dekonstruiert“ und mit den Mechanismen einer oralen Rechtskultur erklärt worden. Recht einer „oral society“ (wenn auch nicht im Sinne Kerns) ist „alt“, weil Neuerungen sehr rasch Traditionen zugerechnet werden, die solche Gesellschaften typischerweise konstituieren bzw. weil in einer derartigen Gesellschaft viele Lebensbereiche von Konstanz geprägt sind.

Allerdings, worauf J. Weitzel aufmerksam macht, ist nicht das Alter konstitutiv, sondern die Überzeugung von der gegenwärtigen Richtigkeit. Der oral geprägten Kultur korrespondiert ein Entscheidungsmodell, das auf einer verfahrensförmlich herbeigeführten Konsensbildung der Gerichtsversammlung abstellt. Die Findung des Rechts liegt in der Hand der Urteiler, der Gerichtsgenossen; der Richter „gebietet“ das zuvor konsentierte Urteil (dinggenossenschaftliches Verfahren). Insoweit ist das Urteil Einzelfallentscheidung und Norm zugleich. Das schriftlose Recht ist „Überzeugungsrecht“ und wird im Konfliktfall einer „zerbrochenen Rechtsgewohnheit“ im Verfahren von den Gerichtsgenossen „hergestellt“.

Konsequent identifiziert K. Kroeschell den Rechtsbegriff des mittelalterlichen ungelehrten Rechts mit Verfahrensrecht. Von den Prozeßregeln abgesehen, habe es keine allgemeinen geltenden Normen gegeben; die „gedankliche Alternative des sonst geltenden Rechts gab es nicht“. Demgegenüber beharrt G. Köbler aufgrund seiner umfangreichen wortgeschichtlichen Untersuchungen auf dem Vorhandensein einer objektiven Rechtsordnung. Die germanische Rechtstradition habe mit dem Begriff ewa einen Regelbestand gekannt, der „das Verbindliche, das gesetzt und geschrieben sein kann, aber weder gesetzt noch geschrieben zu sein braucht, und das mißachtet oder verändert werden kann“, umfaßt. Plausibel ist die vermittelnde Position Weitzels, der dem konsentierten Vollzug der Lebensordnung Normcharakter zuspricht (konsentierte Übung) bzw. im Konfliktfall die Rechtsgewohnheit im Zwangskonsens des dinggenossenschaftlichen Verfahrens (neu) konstituiert sieht.

HERBERT KALB

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