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Bürgerliche Tugenden und Laster

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Der im 11./12. Jahrhundert einsetzende städtische Aufschwung im lateinischen Westen ging mit einer doppelten Entwicklung der moralischen Vorstellungen einher: Die Welt wurde nun – anders als im monastischen und im aristokratischen Umfeld üblich – überhaupt bzw. als Ganzes als der Bereich angesehen, in dem sich die christliche Sittlichkeit entfalten sollte; außerdem wurde der Hochmut (superbia) in den Tugendkatalogen sowie in der Ikonographie der Tugenden und Laster durch den Geiz (avaritia) als größtes Laster abgelöst, wie schon J. Huizinga zeigen konnte.

Diese veränderte Wahrnehmung ist nicht einfach auf den städtischen Aufschwung zurückzuführen, war sie doch durch die zunehmende Kritik der Käuflichkeit kirchlicher Ämter (Simonie) durch die Gregorianer vorbereitet worden. In diesem Zusammenhang sei insbesondere auf Gerhoh von Reichersbergs De quarta vigilia noctis (1167) hingewiesen. In diesem Werk wird die Kirchengeschichte in vier Zeitalter eingeteilt, die jeweils durch eine besondere Herausforderung an die Kirche definiert werden. So stehe das vierte und letzte Zeitalter, das mit Gregor VII. begonnen habe, im Zeichen des Kampfes gegen den Geiz. Allerdings argumentierten etliche geistige Größen des 12. Jahrhunderts wie zum Beispiel Bernhard von Clairvaux, Hugo von St. Viktor oder Caesarius von Heisterbach gemäß der auf Gregor den Großen zurückgehenden Überlieferung, während andere wie etwa Rupert von Deutz den Hochmut und den Geiz wiederum als gleich gefährlich ansahen.

Daß ein Zusammenhang zwischen dem städtischen Wachstum [↗ Städtischer Raum] einerseits und dem Wandel der moralischen Vorstellungen andererseits bestanden hat, ist indes nur schwer bestreitbar. Es steht allerdings offen, ob diese auf die mit dem Aufschwung einhergehende Verbreitung der Geldwirtschaft [↗ Geld] zurückzuführen ist. Zwar hat diese Entwicklung zweifelsohne zur Auflösung traditioneller Bande beigetragen. Doch muß der zunehmende Geldumlauf nicht zwingend zum Verlust persönlicher Bindungen geführt haben. Denn der Aufschwung der Städte stand vielerorts im Zeichen der Kommune. Die Kommune ist es auch, die mit vergleichbaren, ebenfalls auf Willkür basierenden Vereinigungen die Kritik der Vertreter althergebrachter, herrschaftlicher wie genossenschaftlicher Bindungen auf sich zog [↗ Genossenschaftliche Organisationsformen]. Mit dem Vorwurf des Geizes wurden hiermit konkurrierende bzw. als illegitim betrachtete Formen sozialer Organisation denunziert [↗ Ansehen und Schande]. Die Warnungen vor den Folgen einer ungebändigten Habgier laufen etwa wie ein Leitmotiv durch Bernhard von Clairvaux’ berühmte Predigten über die Bekehrung, die er im Jahre 1142 vor Pariser Studenten hielt.

Der Vorwurf des Geizes wurde jedoch nicht nur von den Gegnern willkürlicher Lebensformen bemüht, sondern vielmehr im Zusammenhang mit der Semantik der Korruption zur Artikulierung kommunaler bzw. republikanischer Ideale verwendet. Kommunen waren Friedenseinungen, die durch den Schwur ihrer Bürger konstituiert und erneuert wurden. Damit Kommunen auf Dauer in einem teilweise feindseligen Umfeld bestehen konnten, mußte die Bürgerschaft folglich davon überzeugt sein, daß die Gleichheit unter Bürgern gewährt war. Der Grundsatz, wonach diejenigen, die regieren, von denjenigen, die regiert werden, nicht grundsätzlich unterschieden seien, wurde dabei allerdings nicht materiell aufgefaßt, denn die Güterverteilung blieb weitgehend untangiert, und er ging über das Gerechtigkeitsideal der Rechtskunde weit hinaus. Vielmehr gründete der Gleichheitsgrundsatz der Kommunen in einer Vorstellung der Gerechtigkeit, die eminent politisch war, indem ihr Ideal die Tyrannei der Einzelinteressen in der Ausübung politischer Ämter und Funktionen ausschloß. Der Friede – so das von Marsilius von Padua explizierte Prinzip – werde am besten durch die Freiheit des einzelnen hergestellt, und nicht gegen sie. Die Freiheit des einzelnen Bürgers wiederum hing von der Freiheit aller ab und setzte, wie Q. Skinner gezeigt hat, eine bürgerliche Tugendhaftigkeit voraus, die erst im 18. Jahrhundert durch Montesquieus Begriff der politischen Tugend („vertu politique“) eine positive Charakterisierung erhalten sollte. Ihre Abwesenheit war allerdings lange zuvor als „Korruption“ bekämpft worden. Dabei wurde gerade nicht die Übertretung der Grenze zwischen staatlich-öffentlichem und bürgerlich-privatem Raum thematisiert, sondern im Gegenteil, wie J. Pocock nachgewiesen hat, das Bestreben, sie einander gegenüberzustellen, das im kommunalen Kontext eine Gefahr für den Erhalt des Gemeinwesens, der res publica, darstellen mußte.

Johann von Salisbury hatte bereits im 8. Buch des Policraticus (1163/64) den Geiz als ein besonderes Übel in der Ausübung öffentlicher Ämter hingestellt und den Tyrannenmord unter Umständen gerechtfertigt. Die spätmittelalterlichen Städte bieten indes etliche Beispiele für die Denunziation der Korruption als Tyrannei bis hin zur Hinrichtung der vermeintlichen Übeltäter, wie etwa im Fall des Nürnberger Losungers Niklas Muffel (1469), des Augsburger Zunftbürgermeisters Ulrich Schwarz (1478) oder des Zürcher Bürgermeisters Hans Waldmann (1489) geschehen. Die Gestaltung moralischer Vorstellungen im städtischen Kontext tritt freilich am deutlichsten in den zahlreichen Allegorien der Tugenden und Laster in der kommunalen Ikonographie des Tre- und Quattrocento in Italien hervor, angefangen mit Lorenzettis berühmten Fresken über den Buon und Mal governo im Palazzo Communale von Siena (1338/39).

Am Wandel moralischer Vorstellungen im städtischen Kontext hat zweifellos auch jene religiöse Kultur einen wesentlichen Anteil, die sich ab dem 11./12. Jahrhundert, insbesondere aber in der Gestalt der Bettelorden ab dem 13. Jahrhundert in den Städten entwickelt hat. Auch wenn der Beitrag der Mendikanten zu den moralischen Vorstellungen der italienischen Städte ab dem 15. Jahrhundert in der Forschung seit H. Barons These vom „bürgerlichen Humanismus“ bzw. „civic humanism“ umstritten ist, bleibt festzuhalten, daß Regularkanoniker wie Bettelmönche durch ihre Betonung der freiwilligen Armut nicht mehr so sehr den Hochmut, der mit der Ausübung der Herrschaft einhergeht, als Gefahr für das Heil ansahen, sondern eher den Geiz, der der persönlichen Bereicherung dient. Der Regularkanoniker Gerhoh vom Reichersberg setzte denn auch die freiwillige Armut auf eine Stufe mit dem Märtyrertum früherer Zeiten und sah ihre Vertreter als Wächter des vierten und letzten Zeitalters. Ebenso standen die moralischen Vorstellungen der Humanisten des 14. Jahrhunderts mit der Ausnahme von Petrarca noch ganz im Zeichen der Synthese zwischen dem franziskanischen Armutsideal und dem Stoizismus, der seit dem 11. Jahrhundert Cicero und Seneca zugeschrieben wurde. In seinem späten Werk De casibus virorum illustrium von 1356–1360 bezeichnete Boccaccio die Armut sogar als die „Mutter aller geistigen Tätigkeiten“.

MARTIAL STAUB

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