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Normen

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Gegenstand. Normen (von lat. norma, „Richtschnur“, „Regel“, „Maßstab“, „Vorschrift“) sind die zentralen Stabilisierungsinstanzen sozialer Ordnungen; sie transformieren die relativ unspezifischen Werte einer Gesellschaft in Verhaltensregeln und ziehen die Grenze zwischen dem akzeptierten und dem als deviant ausgegrenzten Verhalten. Aus einer kommunikationstheoretischen Sicht, wie sie in der aktuellen Mediävistik verbreitet ist, können Normen als Rahmungen von Kommunikationssituationen gelten oder (mit N. Luhmanns Worten) als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen“. Sie machen Verhaltenserwartung vorhersehbar, strukturieren Sequenzen von erwartbarem Verhalten und Anschlussverhalten (Th. Luckmann und A. Schütz), sind mithin Medien der Institutionalisierung. Ihre Akzeptanz hängt wesentlich von der Erwartungssicherheit ab, die sie bieten.

Verhaltenserwartungen – Normen – Recht. Die mediävistische Erforschung von Normen hat sich längst aus der Konzentration auf Rechtsnormen gelöst (C. Gauvard, N. Bulst). Erwartenssicherheit erfolgt nie nur aus Rechtsnormen, das Feld der Verhaltens- und Verfahrensregeln ist viel weiter als das des Rechts (logische, ästhetische, ethische, soziale etc. Normen). Daraus ergibt sich zunächst die geschichtswissenschaftliche Aufgabe, den Gegenstand einzugrenzen und die Grenze zwischen bloßen Verhaltenserwartungen und Normen zu bestimmen. Ferner gilt es zu beobachten, unter welchen Umständen Normen, seien sie schriftlich fixiert oder nicht, eine Angelegenheit des Brauchs, der Sitte oder auch der Verwaltung (Verfahrensnormen) blieben, unter welchen Umständen sie eine Angelegenheit des Rechts wurden und was die Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Bereich über Geltungsanspruch und Akzeptanz aussagt. In der antiken römischen Gesellschaft etwa war die väterliche Allmacht, die patria potestas, im ius fixiert, die ebenso verbindliche väterliche Fürsorge, die pietas, hingegen im mos.

Apparate. Üblicherweise sind Normen durch einen umfangreichen Apparat geschützt und auf Dauer gestellt. Dazu gehörten die professionellen Pfleger der Normensysteme (Priester, Rechtsspezialisten etc.) und die Entscheidungs- und Entwicklungsinstitutionen der verschiedenen normativen Systeme (von der Kloster- und Kirchenorganisation mit Konzilien etc. bis zu den diversen Institutionen der herrschaftlichen Rechtssetzung und -pflege). Je allgemeiner Normen formuliert waren, desto leichter waren sie im einzelnen an die Wirklichkeit anpaßbar; je konkreter sie waren, desto eher waren sie mit Normbruch konfrontiert (J. Assmann und D. Harth, E. Ostrom). Schriftliche Fixierung, etwa in dogmatischen Lehrgebäuden, machte Normen im Konfliktfall besonders anfällig und bedurfte spezifischer Institutionen der Wirklichkeitsanpassung. Im religiösen Bereich etwa waren dies Instanzen autoritativer Lehrentscheidungen (Papst, Konzilien), der Auftritt von Propheten oder auch Glaubensspaltungen wie die Reformation (R. Schlögl).

Medialität. Normen sind grundsätzlich auf Medialität, also auf ihre visuelle und sprachliche Seite, angewiesen. Sie lassen sich nur untersuchen mit Blick auf die Medien ihrer Darstellung (Predigtsammlungen, moralische Abhandlungen, Rechtscodices, Gesetzestexte etc.), auf die funktionalen Kontexte der einzelnen Medien (z.B. in bestimmten Kontexten die Wichtigkeit auratischer Bücher wie der Heiligen Schrift und der Rechtscodices), auf ihre symbolischen Verdichtungen (Dienstkleidung und -insignien, Riten und Rituale, Gesten, Habitusformen etc.) und die Verfahren ihrer Einverleibung (Normen werden „automatisch“ befolgt), Anerkennung, Einforderung und Durchsetzung.

Pluralität. Die Mittelalterforschung hat es mit vergleichsweise komplexen Gesellschaften zu tun, in denen durchweg verschiedene Normensysteme nebeneinander gepflegt wurden. Die verschiedenen Rollen, die jedes Individuum in seinem Verhalten ausfüllen mußte, gehörten zu verschiedenen Normensystemen (christianitas, Pfarrei, ständische Ordnung, Dorfgemeinschaft, Stadtkommune, Gilde, Grundherrschaft, Lehenssystem, Geschlechterverhältnisse, Verwandtschaft und Familie etc.). Die durchaus unterschiedlichen Weltentwürfe dieser Normensysteme (Kontrakt gegen Schöpfungsordnung, Parität gegen schöpfungsbedingte Ungleichheit etc.) und ihre im einzelnen inkompatiblen Erwartungen an das Individuum wurden im Normalfall nicht zu Konflikten stilisiert, boten aber im Konfliktfall das symbolische und argumentative Reservoir. Daß z.B. die Verwandtschaft einer verwitweten Frau deren Rückkehr auf den Heiratsmarkt erwartete, die Verwandtschaft ihres verstorbenen Mannes aber im Einklang mit der kirchlichen Lehre ihre lebenslange, enthaltsame Treue zum Verstorbenen im Dienste seiner Memoria, war ein zwar latenter, aber normalerweise folgenloser Widerspruch, der freilich jederzeit aktualisiert werden konnte (B. Jussen). Die verschiedenen Normensysteme – rechtliche, religiöse, soziale – hatten verschiedene Geltungsgründe, verschiedene Autoritäten mit je nach normiertem Feld mehr oder weniger scharfer Normsetzungskompetenz, verschiedene Durchsetzungstechniken und Befolgungsmotivationen.

Kulturelle Veränderungsdynamiken. Die Historisierung von Normen zielt auf ein zentrales Feld des geschichtswissenschaftlichen Verständnisses von Kulturen: auf das Ineinander von Stabilisierungsanstrengungen und Veränderungsdynamiken. Die Erforschung von Normen zeigt, was eine Gesellschaft an Spezialisten, Institutionen und Medien zur Anpassung der Normen an die Wirklichkeit bereithielt. Anpassung der Normen an die Wirklichkeit war andauernd nötig, da in komplexen Gesellschaften wie den mittelalterlichen (entgegen einer alten, inzwischen wohl überwundenen Ansicht der Mittelalterforschung) nicht Statik, sondern Veränderung als gesellschaftlicher Normalfall anzusehen ist.

Solche Veränderungsdynamiken zeigen sich etwa mit Blick auf die Bedingungen, unter denen die Inkompatibilität von Normen latent bleiben konnte und unter denen es zum Konflikt kam. Sie zeigen sich auch im Verhältnis von Normen und ihren symbolischen Verdichtungen. Die normativ vorstrukturierten Sequenzen von Verhalten und Anschlußverhalten und ihre jeweiligen symbolischen Verdichtungen standen in einem labilen Verhältnis zueinander, das immer wieder auf einer Seite verändert wurde. Symbole etwa änderten immer wieder ihre Konnotationen (durch dogmatische und politische Auseinandersetzungen, häretische Bewegungen, Medienwechsel etc.), ohne daß sich auf der Normenebene etwas ändern mußte. Auch die materiellen Bedingungen änderten sich bisweilen, insbesondere durch neue Techniken, was die Lesbarkeit von Symbolen zerstören konnte (so wurde mit der Einführung des Buchdrucks die tradierte christliche Rechts/Links-Symbolik etwa bei Darstellungen des Sündenfalls unlesbar durch die vielen – seitenverkehrten – Kopien von Druckgrafiken).

Die folgenden Kapitel des Abschnitts „Normen“ führen in das breite Spektrum mittelalterlicher Normierungen ein und konzentrieren sich auf die für politik- und sozialwissenschaftliche Interessen relevanten Normen. Andere Bereiche der Normenreflexion, insbesondere die philosophiegeschichtliche Dimension (logische Normen, ästhetische Normen), bleiben hier weitgehend unberücksichtigt.

BERNHARD JUSSEN

Enzyklopädie des Mittelalters

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