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Tugenden und Laster

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Im Mittelalter waren die spirituellen Bereiche „Zeit“, „Raum“ und „Arbeit“ zumindest teilweise darauf ausgerichtet, innerhalb der menschlichen Existenz die Sünde als gegeben anzunehmen, sie zugleich aber auch zu sühnen. Der liturgische Kalender oder das Jüngste Gericht, der tatsächliche Raum, in dem gebeichtet wurde, oder die Sphären von Himmel und Hölle, die tatsächlichen Handlungen des Beichteabnehmens oder Bußetuns – all dies definiert die Grenzen, außerhalb derer menschliches Verhalten nicht länger als moralisch legitim akzeptiert wurde. Die Sünde, verstanden als ein Rückzug von der Liebe Gottes und des Nächsten in eine selbstbezogene Begierde oder als Verletzung göttlichen Rechts, und die Tugend, verstanden als mithilfe der Gnade erworbenes Verhalten, zeigen, wie die Gemeinschaft, in der sie verortet sind, mit Begriffen der Begierde beschrieben werden kann: Die Laster werden somit zu vereinzelten Formen gestörter Realisierungen von akzeptierten Formen der Begierde, die Tugenden zu Idealen der Sozialisierung von Begierde. Beide können entlang gesellschaftlicher und geschlechtlicher Grenzen variieren. Die inhaltliche Unbeständigkeit der Listen von Todsünden ähnelt den nichttheologischen Listen, wie man sie vor allem im Spätmittelalter findet, als die Observanz korrekten Verhaltens die Vorherrschaft der Moraltheologie aufzubrechen begann, beispielsweise in Benimmbüchern und Anstandsbüchern für Edelmänner. Sofern seelsorgerische Erwägungen, die klösterliche Beschäftigung mit Meditation und scholastische Analyse häufig auf Spekulationen über physiologische und psychologische Ursachen für Sünden und Tugenden basierten, äußerte sich die genaue Untersuchung der menschlichen Natur in moraltheologischen Abhandlungen und Benimmbüchern, was als eine Form der „Paleopsychologie“ bezeichnet wird. Die Sünde wurde nicht als Ursache für Wahnsinn betrachtet, aber Abhandlungen über Laster und Tugenden können gut und gerne als Handbücher über abnorme Psychologie und deren therapeutische Gegenstücke verstanden werden; beide spiegeln ein mitunter implizites Bekenntnis zu Verhaltensnormen wider, welches in Benimmbüchern noch wesentlich expliziter gemacht wird.

RICHARD G. NEWHAUSER

Enzyklopädie des Mittelalters

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