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Kirchliche Tugenden und Laster

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Diese sozialen, psychologischen und geistlichen Erwägungen führten zu einer komplexen Mischung von Laster- und Tugendkatalogen und damit einhergehenden moralischen Eigenschaften verschiedener Art. In den ersten vier nachchristlichen Jahrhunderten verstand man Laster als innerhalb der Tradition der sieben Todsünden stehend – generell unsystematische Ansammlungen sündhafter Handlungen, von denen man annahm, daß sie zum Tod der Seele führen. Schriftliche Untersuchungen zur Tradition der sieben Todsünden beginnen in der rabbinischen Literatur bereits im ersten vorchristlichen Jahrhundert. Gründend auf augustinischem Gedankengut betrachteten vor allem frühmittelalterliche Theologen die Sünde als fehlgeleitete Liebe, als eine ich-gesteuerte Absonderung des Selbst sowohl von Gott als auch von der Glaubensgemeinschaft, dem zweiten Gegenstand christlicher caritas. Scholastische Theologen bevorzugten eine andere augustinische Definition, der zufolge die Sünde ein Wort, eine Handlung oder ein Verlangen ist, das vom Willen geleitet wird und dem Gesetz Gottes entgegengesetzt ist (Contra Faustum XXII 27). Von Augustinus stammt auch eine der grundlegenden Definitionen von Tugend als einem Verhalten des Geistes, das im Einklang steht mit der menschlichen Natur und dem menschlichen Verstand (De 83 diversis quaestionibus 31); von Boethius (ca. 480– ca. 525) übernahmen vor allem Theologen des 12. Jahrhunderts eine weitere Definition von Tugend als Zustand eines wohlgeordneten Geistes (De differentiis topicis 2).

Die Hauptlaster, die später als die sieben Todsünden charakterisiert wurden (Hochmut, Neid, Zorn, Geiz, Faulheit, Völlerei und Wollust – in ihrer häufigsten Anordnung), sind das bekannteste System mittelalterlichen moralischen Denkens über Laster, so wie es die Kardinal- und die theologischen Tugenden für die Tugenden sind, jedoch wurden diese – vor allem im Spätmittelalter – um Gruppierungen unterschiedlichen Umfangs ergänzt.

Veränderungen dieser Laster- und Tugendlisten – bezüglich Anzahl oder Anordnung, Bestimmung einer Haupt- oder Ursünde oder einer Haupt- oder Urtugend – und ein variierender Hauptakzent auf dem einen oder anderen Laster bzw. der einen oder anderen Tugend bestimmen die wechselnde Geschichte der Funktionen dieser Listen: Vier „Sünden, die zum Himmel schreien“, sechs „Sünden wider den Heiligen Geist“, neun „untergeordnete Sünden“ und wechselnde Gruppierungen von Sünden der Zunge wurden ab dem 13. Jahrhundert in Abhandlungen hervorgehoben. Kataloge moralisch positiver Eigenschaften beinhalteten die sieben Gaben des Heiligen Geistes (aus Jes 11,1–3 stammend), sieben leibliche Werke der Barmherzigkeit, sieben geistige Werke der Barmherzigkeit, sieben Vaterunser (Mt 6,9–15 [Lk 11,2–4]), acht Seligpreisungen (Mt 5,3–10), zehn Gebote (Ex 20,2–17, Dtn 5,6–21) sowie die Tugenden im engeren Sinne: drei theologische Tugenden (von Bedeutung, allgemein gesagt, als geistliche Kategorien [1 Kor 13,13]), vier Kardinaltugenden (in erster Linie moralische/politische Kategorien [siehe Plato, Politeía IV 427E; Cicero, De finibus V 23,67; Ambrosius, De excessu fratris Satyri I 56]) sowie Listen heilsamer Tugenden, die als therapeutische Gegenstücke zu Sündenlisten erstellt wurden.

Ausgehend von ihren technischen Ursprüngen in der Spätantike war die Lehre von den Hauptlastern gegen Ende des Mittelalters die meistverbreitete Äußerung der moralischen Tradition der lateinischen Christenheit geworden. Die zentrale Position der Hauptlaster ist um so bemerkenswerter vor dem Hintergrund, daß viele der einflußreichsten Autoren im Westen dieser Lehre wenig oder gar keine Beachtung schenkten. Augustinus von Hippo (354–430) entwickelte eine andere Triade von Sünden, basierend auf 1 Joh 2,16, die er als „Ursprünge des Bösen“ bezeichnete (Confessiones III 8,16, siehe auch X 30,41; De vera religione 38,70; Enarrationes in Psalmos 8,13): Hochmut, Neugier und Fleischessünden. Obwohl die Titel zweier Sententiae des Bernhard von Clairvaux darauf hinweisen, daß sie sich mit den sieben Hauptlastern befassen (De septem vitiis principalibus [Sent. 3,89], De septem vitiis [Sent. 3,98]; cf. Sermo 14 in diversis), sind diese Werke tatsächlich Untersuchungen einzelner Stadien innerhalb der psychologischen Entwicklung von Sündhaftigkeit, von denen Bernhard (1090–1153) andeutet, daß sie von den Gaben des Heiligen Geistes bekämpft werden. Im Liber de gradibus superbiae et humilitatis entwickelte Bernhard zwölf „Schritte“ zum Hochmut als Gegenstücke zu den Stadien vollkommener Demut innerhalb der Benediktinerregel. An keiner Stelle beziehen sich Augustinus oder Bernhard auf den Katalog von Lastern, um einen moralischen Standpunkt zu äußern. Obwohl Thomas von Aquin (1225/27–1274) einige Male auf die Hauptlaster Bezug nimmt, basiert sein moralisches Denken auf der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die um eine lange Liste von Tugenden herum angeordnet ist, innerhalb derer jeweils Lasterpaare als entgegengesetzte Extreme zu der Tugend erscheinen, die die „goldene Mitte“ zwischen ihnen bildet. Thomas akzeptierte den Katalog der sieben Todsünden als traditionelles moralisches Gedankengut, aber seine Analyse ersetzte sie in vielerlei Hinsicht.

Die Langlebigkeit und zentrale Bedeutung der Hauptlaster bezeugt dennoch die Maßgeblichkeit und Vielseitigkeit dessen, was als Bestandteil der monastischen Erziehung seinen Anfang nahm. Ihr Ursprung liegt in der Auflistung von acht „bösen Gedanken“ (Völlerei, Wollust, Geiz, Zorn, Traurigkeit, Faulheit, Eitelkeit und Hochmut), die in den nordägyptischen Einsiedlergemeinden entwickelt worden war. Diese acht logismoí mögen in den mündlichen Lehrpredigten der ägyptischen Mönche häufig vorgekommen sein, aber in geschriebener Form tauchen sie erstmals in den griechischen Werken des Evagrios Ponticus (ca. 345–399) auf. Evagrios übernahm viele Elemente dieser Oktade und ihrer Ordnung von dem alexandrinischen Theologen Origenes (ca. 185–254). Hellenistische Texte wie das pseudo-aristotelische Über Tugenden und Laster, eine weitverbreitete Synthese antiken moralischen Denkens, inspirierten ihn auch dazu, die acht logismoí zu entwickeln und eine Auflistung von acht Tugenden, die auch die Kardinaltugenden beinhaltete, mit dem platonischen Modell der dreiteiligen Seele (Praktikós, 89ff.) zu verbinden. In der Oktade systematisierte Evagrios die Theorie über die dämonischen Störungen der kontemplativen Arbeit von Einsiedlern dahingehend, daß der Mönch besser gegen die Dämonen gewappnet sein möge, die ihn durch Versuchungen daran hindern, das Stadium der apátheia („Leidenschaftslosigkeit“) zu erreichen. Johannes Cassian (ca. 360–433/35) lernte aus der Oktade des Evagrios und stellte die Anordnung der logismoí in Evagrios’ De octo spiritibus malitiae ins Zentrum seiner lateinischen Werke, die er für zönobitische Klöster in Marseille geschrieben hatte. Hierin wurden die „bösen Gedanken“ nun als vitia bezeichnet und jeder wurde mit einer Liste von Folgesünden versehen, die er hervorrief. Cassian betonte die Verkettung der ersten sechs Laster, die in einem sequentiellen Verhältnis zueinander stehen, indem das Übermaß eines Lasters die Grundlage für das nächstfolgende wird. Eitelkeit und Hochmut werden genau dann gefährlich, wenn die vorangehenden sechs Laster gänzlich beseitigt worden sind. Die asketische Ausrichtung dieser frühen monastischen Oktaden, die für religiöse Gemeinschaften geschrieben worden sind, muß vor dem Hintergrund betrachtet werden, daß man die Beherrschung körperlicher Begierden als Grundlage für die Bezwingung eher spiritueller Versuchungen verstand.

Die Sündenoktade blieb in der monastischen Literatur während des gesamten Mittelalters von Bedeutung – sie prägte die frühen Bußbücher und beeinflußte die spätmittelalterliche Spiritualität der devotio moderna –, jedoch war sie nicht die einzige bedeutende frühmittelalterliche Untersuchung des Kampfes gegen das Böse: Die Psychomachia des Prudentius (ca. 405) übernahm antike Morallehren und wurde für das gesamte Mittelalter zur Quelle bildlicher und textlicher Ikonographie des Kampfes zwischen personifizierten Lastern und Tugenden.

Papst Gregor I. (ca. 540–604) vereinte Cassians monastische Lehre mit der augustinischen Sicht von Sünde als Spiegel des Willens. Er übernahm die meisten Bestandteile der Oktade, änderte aber die Anordnung der Laster: Diejenigen, die er explizit als zwei „Fleischessünden“ bezeichnet, folgen auf fünf spirituelle Sünden, wobei Hochmut die Wurzel aller sieben „Hauptlaster“ bildet: Eitelkeit, Neid, Zorn, Traurigkeit, Geiz, Völlerei und Wollust (Moralia in Job XXXI 45,87–90). Würde Hochmut selbst der Auflistung hinzugefügt, könnte das Ergebnis als eine Variante der Sündenoktade verstanden werden, aber in jedem Fall betrachtete Gregor diese Laster als die Ursprünge aller Sündhaftigkeit. Die Exzesse des Egos, die in der Heptade spiritueller Sünden veranschaulicht werden, betonen die Bedeutsamkeit von Demut bei Gregor als die zentrale Tugend aktiven Gehorsams gegenüber Autoritäten innerhalb von Gemeinschaften sowohl in moralischer als auch in monastischer und säkularer politischer Hinsicht. Hochmut wurde im Frühmittelalter weitgehend (aber nicht ausschließlich) als Grundlage aller Sündhaftigkeit angesehen. Gregor behauptet, daß die Vorsätzlichkeit einer Handlung die genaue Untersuchung von Motiven erfordert, die möglicherweise eine Diskrepanz enthüllt zwischen der äußeren Erscheinung einer Tugend und deren Ursprung in einem lasterhaften Antrieb. Er setzt somit in jeder Handlung ein gewisses Maß an moralischer Ambiguität voraus.

Die Heptade spiegelt ein Ideal hierokratischer Ideologie und sozialer Hierarchie wider. Im frühen Mittelalter waren zahlreiche andere Darlegungen von Lastern und Tugenden an die Bedürfnisse des Adels gerichtet: Martin von Braga schrieb die weit verbreitete Formula vitae honestae (570–579), eine Abhandlung über die Kardinaltugenden, zur moralischen Erbauung des suebischen Königs Miro und seines Hofes. Ein typischer Vertreter jener Aristokraten, die unmittelbar in die ethische Erneuerung der karolingischen Reformen involviert waren, ist Wido, Markgraf der bretonischen Mark, an den Alkuin seine einflußreiche Schrift Liber de virtutibus et vitiis (ca. 800) richtete. Die Reformer betonten die ethica, die Lehre davon, daß Tugend zu korrekter Lebensweise führt, gemeinsam mit den freien Künsten und der Logik als Disziplin der Philosophie: Den Rahmen von Alkuins Abhandlung bilden Tugendsysteme (zu Beginn theologische, am Ende Kardinaltugenden). Seine Kompilation biblischer und patristischer Texte als führender Autoritäten diente ferner dem Zweck, die Einheit der karolingischen Kirche zu fördern, was wiederum seine und andere karolingische und nach-karolingische Abhandlungen über Moraltheologie mit dem Genre der Florilegien verbindet. Typische Vertreter sind die Rezensionen der Admonitio ad Nonswindam reclusam des Adalgerus über die Tugenden und Laster bei Albuin († 1031).

Die Verinnerlichung von Konzepten des Individuums und der Spiritualität im späten 11. und 12. Jahrhundert verankerte die Moraltheologie in psychologischen Prozessen. Hugo von St. Viktor (1096–1141) interpretierte die Verkettung neu als eine Beschreibung sich entwickelnder Sündhaftigkeit, die mit der allgemeinen Klassifizierung von Sünde gemäß dem Subjekt, gegen das sie gerichtet ist, begann: Hochmut entfernt den Sünder von Gott, Neid von seinem Nächsten, Zorn von sich selbst. Die letzten vier Laster markieren Stationen auf dem Abstieg des Sünders in die Sklaverei der Sünde (De quinque septenis). Das anvisierte Publikum für diese Sicht von Lastern beinhaltet jetzt neue Schichten urbaner Bevölkerung. Das neu aufflammende Interesse an augustinischer Theologie kann am Liber de humanis moribus (überarbeitet in Form des einflußreichen De similitudinibus), das die Worte Anselms von Canterbury († 1109) wiedergibt: Darin wird die Sündentriade des Augustinus gemäß der Verbindungen, die jedes Laster zu bestimmten Sinnesorganen eingeht, analysiert. Das Wiederaufleben der augustinischen Lehre zeigt auch eine Tendenz, caritas als die wichtigste Tugend anzusehen anstelle der Demut, die Gregor der Große betont. Die Ethica des Petrus Abaelard (1079–1142) analysierte erstmals systematisch die Wichtigkeit von Intention und Bewußtsein – das heißt die innere Veranlagung jedes menschlichen Wesens – für die Bestimmung dessen, was als Laster und Tugend gelten kann. Die gegenseitige Verkettung von monastischer Theologie und der sich neu entwickelnden „Theologie der Schulen“ brachte zahlreiche andere Darstellungen hervor, die die Symmetrie von Lastern und Tugenden (oder verwandte Eigenschaften, vor allem die Gaben des Heiligen Geistes) nutzten. Das Liber de fructu carnis et spiritus von Konrad von Hirsau (ca. 1070–ca. 1150) behandelt die gregorianische Heptade und eine entsprechende Liste von theologischen und Kardinaltugenden und war einflußreich in der Entwicklung von Illuminationen korrespondierender Laster- und Tugendbäume; Alanus von Lilles De virtutibus et de vitiis et de donis spiritus sancti (ca. 1170–1180) untersucht die Gaben des Heiligen Geistes, definiert die Laster und deren Auswüchse und macht die theologischen Tugenden zu einer Kategorie der Kardinaltugenden; die Fassade der Kathedrale Notre-Dame in Paris (frühes 13. Jahrhundert) ordnet personifizierte Tugenden zusammen mit Reigen exemplarischer Laster in einer Weise an, die deren Repräsentationstypen zusammenfaßt. Mit der anwachsenden Profitwirtschaft im 11. und 12. Jahrhundert begannen Abhandlungen über Habgier und ihre Untersünden (Zinswucher, unlautere Handelspraktiken etc.) mit jenen über Hochmut in Diskussionen darüber, welche Sünde die Wurzel aller anderen sei, zu wetteifern.

Die frühe scholastische Literatur ging dazu über, Sünde und Tugend innerhalb einer weiter gefaßten Annäherung an die systematische Theologie zu behandeln, obwohl Versuche, eine theologisch fundierte Erklärung für ein System von Sünden (im allgemeinen verstanden als Fehltritte des menschlichen Willens) zu erbringen, verschiedene Lasterklassifikationen hervorbrachten: Die Sententiae des Petrus Lombardus (ca. 1150), das Standardlehrbuch scholastischer Erziehung in der Theologie, hatte deren vier vorgeschlagen: die augustinische Unterscheidung von Sünden gemäß ihres Ursprungs in Begierde oder Furcht; die Klassifizierung des Hieronymus nach Sünden in Gedanken, Worten oder Taten; die Unterscheidung nach dem Subjekt, auf das die Sünde ausgerichtet ist; und die gregorianische Heptade (Sent. 2,30–44). Die Hauptlaster konnten nicht einfach als die wichtigsten oder schwersten Sünden bezeichnet werden. Die Phänomenologie von Sünde und Tugend wurde für die Theologie als Disziplin zentral, aber dies eröffnete neue Wege der Klassifizierung. Der Gebrauch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles verstärkte den Weg der akademischen Moraltheologie über die Hamartiologie = Sündenlehre (und ein Interesse allein an den sieben Hauptlastern) hinaus, um statt dessen eine Theorie der Tugenden zu werden, die sich Fragen der Unterteilung der Tugenden widmet (intellektuelle, moralische, theologische), sowie ihrer Ursachen und ihrer Verbindungen untereinander. Ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entwickelten Theologen auch die Kategorie natürlicher Tugenden, positiver Eigenarten, die ohne den Gnadenakt erworben wurden, der das soziale Leben erleichterte, so daß sie als zivile oder politische Tugenden bezeichnet wurden. Thomas von Aquin diskutierte die Hauptlaster noch in einer gewissen Breite; Johannes Duns Scotus († 1308) behandelte sie flüchtig als „Gelegenheiten“ zur Sündhaftigkeit, Wilhelm von Ockham († ca. 1348) behandelte sie überhaupt nicht.

Die Bedeutsamkeit des Bußsakraments beeinflußte häufige scholastische Versuche, zwischen expliziten Verletzungen von Gottes Gesetz (Todsünden) und Handlungen, die dieses Gesetz nicht direkt verletzen (läßlichen Sünden), zu unterscheiden. Die Versuche, verzeihliche Sünden zu definieren, beinhalteten auch die Idee einer Verminderung irgendeiner dem Menschen eigenen Sündhaftigkeit, die teils auf die unvollkommene Natur menschlicher Intentionen oder menschlichen Wissens zurückgeht, wie man beispielsweise in „Le profit de savoir quel est péché mortel et véniel“ und anderen Werken Jean Gersons († 1429) sehen kann. Die Hauptlaster reichen nicht länger aus zur schematischen Auflistung der Menge an Fehlern, die Gerson diskutiert, die sich in einer Abhandlung auf 58 verschiedene Arten teuflischer Täuschungen beläuft (z.B. Laster, die als Tugenden verkleidet sind). Mit einer schier endlosen Auswahl vorgetäuschter Tugenden, die eine eingehende Selbstprüfung als Laster entlarven wird, hat Gersons Sünder jenen Punkt erreicht, der als die für die spätmittelalterliche Schuldkultur charakteristische „Ohnmacht der Seele“ beschrieben worden ist. Ein Interesse an jüdischen Schriften, das im 12. Jahrhundert begonnen hatte, ein Unbehagen angesichts mangelnder biblischer Fundierung der Hauptlaster sowie das Anliegen, Moral in ein Rechtssystem einzubinden, führten dazu, daß die Zehn Gebote, insbesondere unter franziskanischen Theologen, angefangen bei Duns Scotus, zu dem moralischen System wurden, das nach dem 16. Jahrhundert universell gelehrt wurde.

Innerhalb der seelsorgerischen Theologie, der Kunst und der Literatur blieb die Tradition der Hauptlaster bis zum 16. Jahrhundert vorherrschend. Die Reformierungsbestrebungen der Kirche, die Inhalte der Katechese zu kontrollieren, indem Gemeinden auf allen gesellschaftlichen Ebenen in Angelegenheiten des Glaubens verstärkt unterrichtet wurden, gipfelte in Kanon 21 des 4. Laterankonzils (1215), das gesetzlich erließ, daß alle Christen mindestens einmal jährlich die Beichte ablegen. Viele Regionalkonzilien forderten auch, daß der Klerus über Laster und Tugenden predigt. Die Untersuchung des Gewissens, die hierbei anvisiert wurde, beinhaltete auch Material, das insbesondere Frauen und alle Gesellschaftsschichten ansprach. Die Frage, auf welche Art die Sünden, die gebeichtet und gepredigt werden sollten, zu kategorisieren seien, wurde schon sehr früh beantwortet, indem man auf die Hauptlaster zurückgriff, die nun die sieben Todsünden wurden. Robert von Flamboroughs Liber poenitentialis aus dem frühen 13. Jahrhundert empfahl die Heptade gerade deswegen, weil die genetische Verwandtschaft der Laster (und ihrer Auswüchse) die Beichte erleichterten. Schließlich wurde die Anzahl der Auswüchse immens ausgeweitet, aber die Basisklassifikation von sieben Hauptsünden und ihrer Hauptheilmittel blieb bestehen, jedoch häufig Seite an Seite mit anderen katechetischen Systemen. Die hohe Anzahl an Buß- und homiletischen Schriften, die sich mit Laster und Tugend befaßten und die ursprünglich an den Klerus gerichtet waren, ging insbesondere auf die Arbeit der Dominikaner und Franziskaner zurück und beeinflußte die Entwicklung volkssprachlicher Werke über Moral, die sich nunmehr an Laien richteten. Die zahlreich überlieferte Summa virtutum ac vitiorum (1236–1250) des Wilhelm Peraldus, die eine fruchtbare Rolle bei der Entwicklung der Sünden der Zunge spielte, beeinflußte bedeutende volkssprachliche Betrachtungen der Laster und Tugenden wie die Somme le roi (1280) des Bettelmönchs Laurent von Bois und (indirekt) Chaucers Parson’s Tale (spätes 14. Jahrhundert). Die Erkenntnis des kognitiven Wertes von Bildern zur Erziehung frommer Christen führte im Spätmittelalter dazu, daß man auf Schnittpunkte zwischen seelsorgerischer Literatur, dem naturphilosophischen Verständnis von Tieren und traditioneller Moralikonographie zurückgriff, um symbolische Darstellungen der Laster und Tugenden in zahlreichen Medien und für zahlreiche Zwecke herzustellen, von der Unterstützung der benediktinischen Reform bis hin zur Förderung städtischer Ethik (wie beispielsweise im Regensburger Teppich der Laster und Tugenden, ca. 1400). Das Zusammenspiel seelsorgerischer Literatur mit einer hohen Zahl emblematischer Ikonographie ist auch bezeichnend für spätmittelalterliche literarische Behandlungen der Laster und Tugenden sowie solche der Renaissance, von Dantes (1265–1321) Divina Commedia hin zu Moralitäten, und für individuelle Tugenden wie Heiligkeit oder die Prozession von Lastern in Buch I von Spensers Faerie Queene (1590).

RICHARD G. NEWHAUSER

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