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Scheidung, Konkubinat, Polygynie

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In der Forschung herrscht Einigkeit, daß im lateinischen Europa bis zum 9. Jahrhundert alle Scheidungsgründe außer der Mißachtung von Eheverboten beseitigt waren. Das Verbot der Scheidung war im frühen Mittelalter stets verbunden mit der Ablehnung der Polygynie und aller Lebensformen, die die Kirche unter das Stichwort „Konkubinat“ subsumierte. Nach gängiger Auffassung war vergleichsweise zügig die irreversible, lebenslange monogame Verbindung von Mann und Frau als einziges Modell durchgesetzt. Konkubinat, Polygynie, Scheidung und Wiederheirat waren schnell verboten (A. Esmyol).

Diese Erfolgsgeschichte ist für weite Bereiche Europas plausibel; gleichwohl scheint sie das Produkt eines einseitigen Blicks auf die christlichen Kerne Europas zu sein. Studien, die Europa großflächiger in den Blick nehmen, betonen einen „polygynen Kreis um die christlichen Kerne Europas, der sich mit der muslimischen Welt in Spanien und Sizilien zusammenschloß, wo die Mehrehe sogar durch religiöse Vorschriften erlaubt war“. Während die Zentren der orthodoxen und römisch-lateinischen Länder prinzipiell monogam strukturiert waren, will die noch junge Forschung zur Polygynie „geradezu von einer Kultur der Mehrfachbeweibung im Osten und Norden, im Westen und Süden sprechen“. Durch diese Kultur der „Mehrfachbeweibung“ seien in diesen Gebieten des „polygynen Kreises“ die Gegensätze zwischen den drei monotheistischen Religionen entschärft worden (M. Borgolte). Freilich ist die soziale Semantik der Polygynie nur noch schwer zu erkennen, weil alle Sozialformen und Sprachregelungen jenseits der christlich legitimierten Ehe einheitlich als Konkubinat konzeptualisiert und negativ stigmatisiert wurden. Gleichwohl läßt sich noch erkennen, daß die Ehe in den Regionen des polygynen Kreises nicht mehr war als ein „Teilbereich der Polygynie“ – und zwar bis wenigstens ins 13. Jahrhundert. Insbesondere die „nordeuropäische Polygynie mit der in sie inkorporierten Ehe“ dürfte „ein bewußt gepflegtes oder sogar ausgearbeitetes System“ gewesen sein (J. Rüdiger).

Für die Thesen J. Goodys, aber auch für das allgemein akzeptierte lateineuropäische Verchristlichungsnarrativ sind diese Forschungen eine Herausforderung. Ihr Ansatz – die Ausweitung des Blicks über den „europäischen Kern“ hinaus – ist unbestreitbar ein methodisch notwendiger Schritt, der im übrigen auch mit Blick auf die anderen Parameter europäischer Verwandtschaftsgeschichte einzufordern wäre. Die Folgen für die Langzeitthesen der europäischen Verwandtschaftsgeschichte müssen erst noch diskutiert werden.

BERNHARD JUSSEN

Enzyklopädie des Mittelalters

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