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Vaganten

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Der moderne Begriff des „Vaganten“ erweckt romantische Assoziationen, die der Realität des Mittelalters nicht standhalten. Ein Terminus wie Vagantendichtung zum Beispiel ist eine Schöpfung der Wissenschaftssprache, bei der verschleiert wird, daß diese Dichter keine vagierenden Hungerleider, sondern hochgebildete Studenten waren, denen im 12. und 13. Jahrhundert eine gesicherte soziale Zukunft als wohlbepfründete Kleriker bevorstand, Studenten, die noch nichts gemein hatten mit den fahrenden Scholaren des späten Mittelalters.

Es ist hilfreich, den mit modernen Assoziationen behafteten Begriff des Vaganten in die mittelalterliche Realität mit einem Begriff zu übersetzen, der dieser Zeit entstammt, dem des „Fahrenden“. „Fahren“ ist ein mittelalterlicher Ausdruck für Mobilität. Eine Aufstiegsmobilität war in jener Zeit schwer und selten; unverzichtbar hingegen war die horizontale Mobilität, eben das Fahren. Fahren und Erfahrung hingen auch sachlich zusammen. Wissensaustausch: weswegen eine Bezeichnung für den dummen Menschen auch „Claus Ungewandert“ lauten konnte. Nur durch den Wissensaustausch, der über die Mobilität erfolgte, konnte die mittelalterliche Gesellschaft überleben.

Der Ausdruck Fahren ist mehrdeutig; er konnte zielgebundenes wie orientierungsloses Reisen benennen. Der durch die Lande ziehende Kaufmann hatte ebenso eine Heimat, in die er zurückkehrte, wie der – eine schon im Spätmittelalter weit verbreitete Erscheinung – Saisonarbeiter. Dem modernen Orientierungsbegriff des Vaganten sind allein alle jene Menschen zuzuordnen, die im Umherziehen ihr täglich Brot verdienen mußten. Am bekanntesten in dieser Hinsicht sind die Unterhaltungskünstler, die Spielleute, die Sprecher (die Experten gereimter Wortkunst) und die Gaukler [↗ Fahrendes Volk – Sänger und Spielleute]. Das Schicksal der Heimatlosigkeit aber teilen mit ihnen zahlreiche andere Berufsgruppen, etwa die Experten für die Ungezieferbekämpfung bis hin zum Rattenfänger oder jene Saisonarbeiter des Krieges, die Söldner, die seit dem späten Mittelalter sich auf den sich wandelnden Söldnermärkten verdingten.

Fließend sind die Grenzen zwischen Vagant und Wanderhändler. Die mittelalterlichen Hausierer, die „Wannenkrämer“ mit ihrem Tragekorb auf dem Rücken, bestenfalls einen Esel als Lasttier benutzend, hatten weite Wege zurückzulegen, woran in Oberdeutschland der Ausdruck „Kauderwelsch“ erinnert, der die vielfach aus Oberitalien stammenden, Südfrüchte verhökernden („kaudern“) Wanderhändler benennt. Wie die Spielleute im literarischen und musikalischen Bereich repräsentieren auch die Wanderhändler die Bedeutung des Vagantentums, das in Kommunikation und Erfahrungsaustausch zwischen den Siedlungen der Seßhaften besteht.

Ob angesehener fahrender Sänger, ob abenteuernder armer Schlucker: Allen Menschen, die wir mit den verallgemeinernden Begriffen als Vaganten oder fahrende Leute bezeichnen, war gemeinsam, daß sie ihren Nahrungserwerb durch Reisen erzielen mußten, die Härten des Wanderns über schlechte Straßen, Winterkälte oder Sommerhitze ebenso zu erdulden und zu ertragen hatten wie die Unsauberkeit, den Dreck, die Flöhe und die Läuse. Selbst ein so angesehener Dichter wie Walther von der Vogelweide, der nicht wie andere Sänger als adelige Gegengabe für seine Kunst mit gebrauchter Kleidung vorliebnehmen mußte, sondern Geld für einen Pelzrock geschenkt bekam, selbst ein in höfischen Kreisen derart angesehener Mann litt unter der Kälte des Februar ebenso wie unter der Mißachtung des Abtes von Tegernsee. Zweifelhaft erschien den Mitmenschen seine Existenz.

Ein ehrbares Leben war unter den dauernden Anstrengungen und Gefahren des Wanderns gar nicht möglich. Es ging allein um das Überleben. Seuchen und Ansteckungsherde waren nicht sichtbar, die lauernden Gefahren selten direkt erkennbar. Viel unmittelbarer wußte sich der Vagant durch Mitmenschen bedroht, die sich selbst an den schutzlosen fahrenden Schülern vergreifen konnten, wie für die Zeit um 1500 die Autobiographien eines Johannes Butzbach oder Thomas Platter berichten.

Angesichts der existentiellen Gefährdungen, die das Fahren mit sich brachte, ist es unrealistisch, eine genaue Grenze zwischen jenen Fahrenden, die orientierungslos durch die Lande vagierten, und jenen zu ziehen, die eine Heimat hatten. Die Übergänge sind fließend. Der Pilger, der sich auf eine Fernwallfahrt begab, traf dabei auf andere Wallfahrer, die als berufsmäßige Pilger stellvertretend für reiche Bürger, die sie bezahlten, zu den Andachtsstätten reisten, von denen sie als Beglaubigung die dortigen Pilgerzeichen mitbrachten [↗ Wallfahrten]. Weiterhin hatten auch die unbeheimateten Vaganten doch das Hoffnungsziel, eine feste Existenz zu gewinnen. Die spätmittelalterliche Mobilität, die sich in oberitalienischen Städten in einer Vielzahl von hier seßhaft gewordenen Deutschen widerspiegelt, die umgekehrt aber auch (wenngleich geringer an Zahl) Italiener in Deutschland, vor allem am Rhein ansässig werden ließ, bildet in ihrem Ausmaß den Rahmen, in den die verschiedenen Gestalten der Fahrenden, der Vaganten, eingeordnet werden müssen.

Über die Lebensumstände der Vaganten ist wenig zu erfahren. Partnerschaftsbeziehungen drücken sich darin aus, daß neben dem spielman auch das spielwib auftritt, zumeist als Dirne verdächtigt. Diese Gestalt weist darauf hin, daß so gut wie nichts, von den Wanderdirnen abgesehen, über weibliches Vagantentum zu ermitteln ist. Daß aber Frauen einen größeren Anteil an der Unterschichtsmobilität gehabt haben müssen, bezeugen Nachrichten in Bürgerbüchern (ist enweg) und die Praxis spätmittelalterlicher Städte, fahrende Frauen als Kundschafterinnen im Umland einzusetzen. Daß Armut und Not Begleiter dieser Lebensform waren, wird in den Quellen immer wieder bestätigt. Die Nähe zur Kriminalität, vor allen Dingen zur Kleinkriminalität, ist unter diesen Umständen wahrscheinlich. Die Fahrenden haben zur Verbreitung des seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert bezeugten Argot – in deutschen Landen: Rotwelsch – beigetragen. Die Nähe zur Kriminalität war aus der Not geboren; sie hatte nichts zu tun mit der Infamierung der Spielleute durch eifernde Kleriker, die vom Unwert des Lachens ausgingen. Nur bedingt wirkte diese Infamierung in die Welt hinein. Auch die Unehrlichkeit, welche die Rechtsspiegel des 13. Jahrhunderts den Spielleuten zuschrieb, ist nie wirklich rezipiert worden. Als im 16. Jahrhundert der Unehrlichkeitsverruf seine eigentliche Karriere begann, waren davon seßhafte Berufe, nicht aber die Nachfahren der Vaganten betroffen.

ERNST SCHUBERT

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