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„Die Armut wird von vielen gelobt und von wenigen gesucht.“ Das mittelalterliche Sprichwort konfrontiert die kirchliche Lehre der Verdienstlichkeit der Armut mit der Realität, mit einer Realität, die damit angedeutet sei, daß die Bettler sich auf Friedhöfen Behelfshütten zimmerten, daß sie oft in windschiefen Katen in den Flußniederungen hausen mußten – Elendsbilder. Verfehlt ist die Auffassung, das Mittelalter sei den Bettlern und den bedürftigen Armen mit stets bereitem Erbarmen begegnet. Betteln war schwer, wie man schon in jener Zeit wußte. Das läßt sich am einfachsten daran erkennen, daß schon seit den frühen Zeiten arme Leute durch Betrug versuchten, eine besondere Bedürftigkeit vorzutäuschen. Der Betrugsbettel weist mit seinen Täuschungsversuchen auf reale Notlagen zurück. Vortäuschen von Krankheiten ist das häufigste Bettelargument, gefolgt vom Vortäuschen einer großen Kinderzahl. Aus den zahlreichen Betrugsformen wählen wir nur eine aus, um beispielhaft zu zeigen, wie eng verzahnt der Bettel mit existentiellen Notlagen, die tief in die Gesellschaft hineinreichten, gewesen war. Vor den Kirchentoren lagen Bettlerinnen in blutgetränkte Lumpen gehüllt und behaupteten, eine Fehlgeburt erlitten zu haben. Jeder war von der Hilfsbedürftigkeit solcher Frauen überzeugt, die in einer Welt, in der die Frauenarbeit, insbesondere bei den kleineren Leuten unverzichtbar war, während des Kindbetts keinen Verdienst hatten.

Schon im Verlauf des 15. Jahrhunderts mehren sich insbesondere in den größeren Städten Stimmen, welche die Bettler des Müßiggangs verdächtigen und behaupten, daß es mehrheitlich Arbeitsscheue seien, welche sich aufs Betteln verlegten. Die Haltlosigkeit dieser Verdächtigungen zeigte sich etwa dann, wenn, wie in Straßburg, die Obrigkeiten genauere Untersuchungen veranlaßten. Dennoch führten solche Verdächtigungen mit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zum Begriff des „starken Bettlers“, der dann in den Armenordnungen der Reformationszeit vom neugestalteten städtischen Armen- und Almosenwesen ausgeschlossen werden sollte. Diese Ausschließung ist aber kein spezifisch reformatorischer Vorgang; er läßt sich im 16. Jahrhundert allenthalben in Westeuropa – etwa im Begriff der „masterless men“ in England – unabhängig von den konfessionellen Gegebenheiten nachweisen.

ERNST SCHUBERT

Enzyklopädie des Mittelalters

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