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Gelehrte

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Nach mittelalterlichem Verständnis galten die Gelehrten nicht als eigenständige Einheit in der Gesellschaft. Weder idealtypische Modelle sozialer Ordnung (Adalbero von Laon) noch die verschriftlichten Gewohnheitsrechte (Lehnsordnung) kannten sie. Erst in den Ständeordnungen des Spätmittelalters (städtischen Kleiderordnungen) kam der Gelehrte (Ratssyndicus) vor, wiederum nicht als solcher, sondern über seinen (durch die Ausführung gelehrter Tätigkeiten erworbenen) sozialen Rang innerhalb der Bürgerschaft [↗ Gesellschaft].

Auch ein Gelehrter definierte sich vor allem über seine familiär bedingte, sozialständische Zugehörigkeit und erst innerhalb dieser durch seinen Bildungsstand. Angesichts eines insgesamt hohen Analphabetismus und fehlender obligater Bildungsformen ist zwischen gänzlich Ungebildeten, elementar oder trivial Gebildeten und auf höherem Anspruchsniveau [↗ Trivium; ↗ Quadrivium] oder durch ein universitäres Studium geformten Gelehrten zu unterscheiden.

Wer durch elementare Schreibfähigkeit [↗ Schriftlichkeit und Mündlichkeit] oder grundlegende Lateinkenntnisse [↗ Latein] rudimentäre Bildung erwarb und damit Auskommen und Versorgung fand, galt noch nicht als gelehrt. In der satirischen Schwankliteratur wurden jene Artes-Studenten gescholten, die nach kurzem Universitätsaufenthalt ungraduiert zurückkehrten und vergeblich soziale Anerkennung für ihren vermeintlichen Bildungsstand reklamierten.

Vielmehr sind die Gelehrten (eruditi) in der mittelalterlichen Gesellschaft stets als Wissenselite zu verstehen, die partiell mit einer Standeselite (↗ Klerus), einer Herkunftselite (↗ Kaufmannschaft; ↗ Adel) oder einer Funktionselite (ebenfalls meist bürgerlich) identisch sein konnte und der in der gesellschaftlichen Ordnung durch ihr Fachwissen (das als theoretisches erworben, aber auf praktische Anwendung angelegt war und eingesetzt wurde) Karrieren offenstand. Als Faktor sozialer Mobilität hat gelehrtes Wissen dennoch kaum gewirkt; die im einzelnen beachtlichen Karrieren Gelehrter verliefen innerhalb ihres sozialen Standes (abgesehen von der Konversion in den geistlichen Stand), bedingten aber vielfach regionale Mobilität (so bei städtischen Syndici) und konnten in den Dienst höherer Stände führen, ohne die eigene soziale Stellung zu ändern (so bei Juristen oder Medizinern im Königsdienst).

Die gesellschaftliche Stellung Gelehrter hing wesentlich von einer ideellen Wertung gelehrter Bildung wie von einer (über ihre Funktionalität vermittelten) praktischen Bedeutung des Wissens und entsprechenden sozialen Geltung seiner Träger ab [↗ Glaube und Wissen]. Aus frühmittelalterlichen monastischen Idealen speiste sich eine (in Kontexten religiöser Reform während des gesamten Mittelalters fortwirkende) Ablehnung ungelenkten, im Verdacht der Gottesferne stehenden menschlichen Wissenwollens (curiositas, Verdikte gegen eine Überbetonung der Ratio, spätere Häresie-Vorwürfe) [↗ Monastik]. Wurde hierbei der illiteratus zum Ideal erhoben, so stand bald der literatus als der (mit kirchlichen Vorgaben konform) Gebildete höher; Johannes von Salisbury formulierte im 12. Jahrhundert das Verdikt des Rex illiteratus quasi asinus coronatus („ungebildeten Königs als eines gekrönten Esels“). Entsprechend wurde gelehrter, fachlicher Rat für die Herrschaft von immer größerer Bedeutung. Seit um 1200 profitierten die Gelehrten von den entstehenden westeuropäischen Zentralmonarchien und ihrem Bedarf an gelehrter Verwaltung, Rechtsprechung und Politikberatung. Damit war eine folgenreiche Verschiebung zwischen den Disziplinen verbunden: Die Absolventen universitärer Studien, vor allem der oberen Fakultäten, verdrängten die Repräsentanten schulischer, artistischer Bildung, wobei die Juristen, insbesondere die Legisten (nur ansatzweise auch die Mediziner) allmählich gegenüber den Theologen dominierten. Im Spätmittelalter kam das geflügelte Wort von Jura und Medizin als den scientiae lucrativae („einträglichen Wissenschaften“) auf [↗ Bildungseinrichtungen].

Aus der wirtschaftlichen und politischen Potenz des gebildeten Stadtbürgertums und dem Eindringen gelehrter (geistlicher und zunehmend bürgerlicher) Kräfte in die Zentren der Herrschaft folgte seit dem 13., stetig verstärkt im 14. und 15. Jahrhundert ein folgenreicher sozialer Dynamisierungsprozeß: Vor allem im französischen Kulturkreis spiegelten literarische, fiktive Streitdialoge zwischen dem Typus des (geistlichen und bürgerlichen) Gelehrten („clerc“) und des ungebildeten Adeligen („chevalier“) über ihre sozialen Vorrechte eine reale gesellschaftliche Spannung wider: Das gelehrte Bürgertum verdrängte durch Wissen, Wohlstand und politische Partizipation vielfach den (vor allem landsässigen) Adel und imitierte dessen ständisch geprägte Lebensformen; im Gegenzug begann der (zunächst vor allem regierende) Adel, Interesse an der Indienstnahme gelehrter Kräfte und im ausgehenden Mittelalter zunehmend auch eigener Bildung, sogar eigener Universitätsstudien (mit R. C. Schwinges als „Standesstudenten“) zu gewinnen.

MARTIN KINTZINGER

Enzyklopädie des Mittelalters

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