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Soziale Formationen

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Die „Gesellschaft“ ist nicht nur ein abstrakter Begriff, sondern sie ist der Ausdruck schlechthin dessen, was die Moderne als „abstrakt“ ansieht. Damit sind zwei Punkte angesprochen: 1. der Begriff der „Gesellschaft“ nimmt einen zentralen Platz in der Moderne ein und 2. zentral ist für die Moderne die „Selbstreferentialität“. Denn der Moderne liegt die Paradoxie zugrunde, daß sie sich als bürgerliches Zeitalter versteht und somit die Gesellschaft als ihre ureigene Organisationsform betrachtet, daß sie zugleich aber darauf insistiert, daß die Charakteristik ihrer Bürgerlichkeit in der Reflexion ihrer Organisationsform besteht. Daraus ergibt sich folgerichtig, daß „vormoderne“ soziale Formationen von vornherein als minderwertig angesehen werden. Diese normative Sichtweise muß eine Analyse mittelalterlicher sozialer Formationen aber gerade dann umgehen, wenn sie das kritische Potential moderner Geschichtsschreibung einlösen will.

Diese Herangehensweise birgt allerdings Schwierigkeiten. Eine kritische Analyse mittelalterlicher sozialer Formationen sollte – erstens – die Gesellschaft nicht voraussetzen – nicht einmal als potentielles Ziel ihrer Entwicklung. Eine Reihe von Arbeiten haben hierfür zwar eine beachtliche Vorleistung erbracht. Doch zeigt etwa das Werk O. Brunners, das diesen Ansatz besonders konsequent verfolgt, daß die Lösung – zweitens – nicht darin bestehen kann, die Selbstreflexion „vormoderner Gesellschaften“ zum Ausgangspunkt historischer Überlegungen zu machen. Denn damit wird die Tatsache, daß sich die Moderne in ihrer Organisationsform reflektiert, nicht kritisch perspektiviert. Mit anderen Worten kann eine historische Semantik nicht davon ausgehen, daß die Semantik ohne weiteres am Anfang jeglicher historischen Fragestellung stehen soll, wie es einst E. Cassirer forderte. Es ist im Gegenteil wichtig, daß die wissenssoziologische Prämisse dieser Ansicht hinterfragt wird. Die Kluft zwischen sozialen Formationen und Semantik sollte dabei nicht nur aus einer kritischen Betrachtung der Moderne heraus hingenommen, sondern vielmehr als Ausgangspunkt einer Geschichte sozialer Formationen angesehen werden. Gerade diese Möglichkeit unterlassen aber sowohl die Begriffsgeschichte wie auch der Kontextualismus angelsächsischer Prägung, um die zwei wichtigsten Richtungen der historischen Semantik zu benennen.

Daß Historiker nicht davon ausgehen können, daß die Semantik einer bestimmten Zeit oder gar Gruppe als geeigneter Ansatzpunkt für die Analyse sozialer Formationen dienen kann, weil deren gesellschaftlicher Status nicht vorausgesetzt werden kann, bedeutet keineswegs, daß die Semantik nutzlos ist bzw. daß die Analyse sozialer Formationen ohne sie auskommen muß. Wichtig ist nur die Einsicht, daß Genossenschaften oder Republiken nicht den Gesellschaftstheorien untergeordnet werden, sei es als Teilaspekte oder ideologische Ausdrucksweisen, sondern daß sie neben der Gesellschaft als verfügbare Modelle sozialer Organisationsformen und ihrer diskursiven Dimension angesehen werden sollen, wie auch immer letztere zu ihnen steht. Mehr noch: Ein Ineinandergreifen unterschiedlicher Modelle sollte nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Gerade im Hinblick auf das Mittelalter könnte sich ein solcher Ansatz als wichtig erweisen. Einerseits war der Nationalstaat und damit der politische Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft eine eher marginale und späte Erscheinung. Andererseits haben Genossenschaften und Republiken eine wichtige Rolle in der mittelalterlichen Entwicklung gespielt, die nach wie vor einer systematischen Betrachtung harrt.

MARTIAL STAUB

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