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Heiratsverbote und Exogamie, Heiratsgebote und Endogamie

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Das zweite für die lateineuropäische Geschichte signifikante Instrument der Verwandtschaftsregulierung sind die im 6. und 7. Jahrhundert plötzlich auftauchenden und dann sehr schnell ausgeweiteten Eheverbote (P. Bonte, J. Eming). Ihre Deutung bereitet insofern große Schwierigkeiten, als die Verbote über die Blutsverwandten hinaus nicht nur auf Affinalverwandte ausgeweitet wurden (z.B. Schwagerehen), sondern auch auf geistliche Verwandte (z.B. Ehen zwischen Paten desselben Kindes). Dieser über Jahrhunderte umfassend und vergleichsweise homogen betriebene Verbotsaufwand kann nicht plausibel erklärt werden mit Hinweis auf sozialpolitische (Friedenswahrung unter Bewohnern eines Hauses), machtpolitische (Implementierung der Priester in die sozialen Vollzüge) oder besitzstrategische (Verhinderung von Erben) Interessen der Kirche. Der Impuls für die Verbote muß in der Mitte jenes religiösen Sinnuniversums gesucht werden, das sich seit etwa dem 5. Jahrhundert in einer zölibatären, mithin verwandtschafts- und sexualitätsfeindlichen Institution manifestiert hat. So kann man die Eheverbote – im Sinne von M. Douglas’ Purity and Danger – als Ausdruck der Angst vor Pollution, also vor der Vermischung des Heiligen mit dem Sexuellen deuten (M. de Jong). In die Mitte des christlichen Sinnsystems zielt auch die Deutung, die Verbote seien gegen ein System bevorzugter Ehen im Interesse von Clan-Allianzen gerichtet, also gegen die Praxis, Allianzen zwischen Verwandtengruppen über Generationen hinweg durch immer neue Heiraten zu stabilisieren. Die weit ausgreifenden, auch Paten einschließenden Verbote blockierten diese Clan-Allianzen und zwangen zu Fernehen. Die Heiratsverbote sind in diesem Sinne ein wesentliches Indiz für die Annahme, daß „die Kirche gegen alle Praktiken gekämpft hat, die die familialen Solidaritäten stärkten, um statt dessen das monogame und unlösbare eheliche Paar zu isolieren und zu stärken“ (R. Le Jan).

Anders als die islamische, die semitische oder die römische Kultur hat die christliche von Anfang an nicht Verwandtschaft, sondern Ehe religiös prämiert – unter massiver Abwertung der Verwandtschaft. Dieser religiös motivierte Schutz der Ehe konterkarierte die Ausbildung von Systemen, die an der langfristigen Stabilisierung verwandtschaftlicher Allianzen über Generationen hinweg orientiert waren. Die kirchlichen Eingriffe in das Verwandtschaftssystem scheinen an allen Stellen darauf gezielt zu haben, Zwang (Ehegebote, bevorzugte Ehen) zu beseitigen. Allein einen Zwang hat die Kirche durchgesetzt, nämlich den zur monogamen, lebenslangen Ehe (M. Mitterauer) [↗ Ehe].

Die Frage nach Ehegeboten (Heiratspräferenzen, Zwangsheiraten) spielt in der mediävistischen Verwandtschaftsforschung bislang keine Rolle, obwohl sich entscheidende Einsichten in das europäische Verwandtschaftssystem gerade mit Blick auf dasjenige ergeben, was in den christlich geformten Gesellschaften nicht vorkommt: „Das Christentum ist keine Kultur der Eheempfehlungen. Es unterscheidet sich diesbezüglich von vielen seiner Vorgänger- und Nachbarkulturen im Osten“ (M. Mitterauer). Denn wo Abstammung „dem Fleische nach“ keinerlei religiöse Bedeutung hat, kann es auch keine religiös begründete Eheempfehlung geben. Der Vergleich mit semitischen und islamischen Kulturen öffnet den Blick für eine signifikante religiöse Grundhaltung, die sich auf das Verwandtschaftssystem anscheinend massiv ausgewirkt hat durch die Beseitigung von Heiratsgeboten und religiös indizierten Endogamieregeln. Die christliche Kultur prämierte die Ehe, nicht die Abstammung. Die Eheverbote lesen sich wie ein Ausdruck der Abneigung gegen jene Abstammungs- und Allianzverbände, die sich üblicherweise durch Ehegebote stabilisieren.

Allerdings ist diese Geschichte der lateineuropäischen Exogamie nur die halbe Geschichte, der eine Geschichte der lateineuropäischen Endogamie zur Seite zu stellen ist. Wer statt der Bistümer die Grundherrschaften zu Beobachtungseinheiten macht, wer die Eingriffe der Grundherren statt die der Bischöfe deutet, findet nicht Eheverbote, sondern Ehezwang als signifikantes Phänomen. Die Geschichte der lateineuropäischen Endogamie läuft von der grundherrschaftlichen Endogamie zur Gemeinde-Endogamie. Sowohl das „European Marriage Pattern“ (hohes Heiratsalter bei Frauen und Männern, Neolokalität, hohe Quote lebenslang Lediger) als auch die hohe Wiederheiratsquote von Witwen und Witwern „konnten sich nur dort durchsetzen, wo Heirat nicht von Verwandtschaftsverbänden zur Fortführung der Abstammungsgemeinschaft, sondern von Herrschaftsträgern zur Sicherung rationaler Formen der Arbeitsorganisation genutzt wurden“ (M. Mitterauer).

Die Geschichte der lateineuropäischen Verwandtschaftssysteme muß also als Exogamiegeschichte erzählt werden mit Blick auf die religiösen Grundhaltungen und zugleich als Endogamiegeschichte mit Blick etwa auf die grundherrliche Herrschaftsökonomie oder die soziale Logik gemeindlicher Kontrolle des Heiratsverhaltens (vgl. Rügebräuche).

BERNHARD JUSSEN

Enzyklopädie des Mittelalters

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