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Ansehen und Schande

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Ansehen (fama) und Schande (infamia) zählten zu den zentralen Problemen der mittelalterlichen Gesellschaft. In der Wertschätzung, der sich ein Individuum erfreute, wie andererseits auch in der verwerflichen Lebensführung lag ein Kontinuum menschlichen Handelns und Verhaltens. Es war bestimmt vom Grad seiner Übereinstimmung mit Normen und Werten, welche man mit den Angehörigen einer Gruppe, eines Standes oder einer sozialen Ordnung teilte. Gutes wie schlechtes Ansehen beeinflußten in entscheidender Weise die Rechtsfähigkeit der Personen, die soziale Mobilität, die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen sowie das alltägliche, anonyme Leben der Mehrheit der Menschen. Sie dienten dazu, jedem gleichsam ein Brandmal aufzusetzen; sie waren selbst Zeichen und Zeugnis der Mentalität, der Gesinnung wie auch der Festigkeit oder Schwäche einer Gemeinschaft.

Jede soziale Gruppierung besaß ihre eigenen Regeln und ihr besonderes Wertesystem: Achtung durch Arbeit und politische Teilhabe etwa, wie sie den produktiven städtischen Gesellschaften zu eigen waren, standen dem ritterlichen Ehrencodex der aristokratischen Welt gegenüber [↗ Tugenden und Laster]. Die vorurteilsfreien Finanz- und Wirtschaftsaktivitäten der Bankiers und Kaufleute erweckten die besorgte Kritik eifernd beobachtender Prediger [↗ Kaufleute, Bankiers und Unternehmer].

Fama war kein juristischer Begriff, wenngleich er das Interesse der Rechtsgelehrten erweckte, die dort – neben anderen ebenfalls zweideutigen Elementen – einschlägige Möglichkeiten sahen, Interaktionsprozesse juridisch zu vermitteln. Das Recht war nämlich äußerst daran interessiert, soziale Normen mit hohem ethischen Gehalt aufzuladen und dann dergestalt zu standardisieren, daß diese als Wegweiser für Verhaltensweisen dienen konnten, die von der Gemeinschaft allgemein als richtig empfunden wurden [↗ Recht]. So geschah es, daß die mittelalterlichen Rechtsinterpreten den Begriff der fama in den Bereich der juristischen Terminologie aufnahmen, um damit einerseits die konkrete Reputation, der sich jeder einzelne in der Meinung der anderen erfreute, andererseits ein unsicheres und durch Fakten nicht belegbares Wissen auszudrücken: auf der einen Seite also die fama hominis, auf der anderen die fama alterius rei inter homines existentes.

Beide Bezeichnungen umfaßten die weiteren Begriffe opinio und publicum und bezogen sich auf Kommunikationsprozesse quer durch die öffentliche Meinung – eine öffentliche Meinung jedoch, die sich nicht als eine rationale und der juristischen Kritik taugliche Angelegenheit verstehen konnte; vielmehr bedeutete sie eine Realität, die sich in den Ansichten einer Menge verkörperte, welche sich darauf beschränkte, einen stillschweigenden Konsens über die Gewohnheiten eines normengerechten Lebens zum Ausdruck zu bringen.

In der mittelalterlichen Gesellschaft belebte ein engmaschiger Umgang mit signifikanten Symbolen die diskursiven Praktiken und die fachlichen Dispositionen der einzelnen Wissensbereiche – von der Theologie bis zum Recht, von der Alchemie bis zur Astrologie, von der Magie bis zur Medizin. Der mittelalterliche Symbolismus, durchdrungen von neuplatonischen Ideen, errichtete aus dem Universum eine bewundernswerte Theophanie und trug dazu bei, die Dinge der Schöpfung als das getreue signaculum eines kommunikativen Gottes darzulegen, welcher regulatives und „kybernetisches“ Prinzip zugleich war. Eine solche Welt der Symbole hatte ihre kohärente Repräsentation in der Ikonographie gefunden. Das Bild oder die scriptura ymaginaria war das Buch der Illiteraten; es bewegte die Seele der Geringen und ließ sie quasi ante oculos die heiligen Geschichten nachleben. Jene Kultur also war ein komplexes Kommunikationssystem, das in sich eine Vielfalt von impliziten oder expliziten Botschaften verbreitete und austauschte. Wie es noch heute der Fall ist, hatten ein solches Denken und die entsprechenden kognitiven Abläufe ihr Fundament und ihre Ursache im jeweiligen sozialen Milieu. Man kann also verstehen, warum in einer solchen Gesellschaft mit ganzheitlichen Konzepten sich niemand besonders stark von der Besonderheit der anderen ergriffen fühlte, so daß jeder gerne auf seinem allgemein akzeptierten Platz blieb.

Eine solche Gesellschaft wurde am Leben gehalten durch ihre Transparenz. Wenn jedoch die Besonderheit einzelner etwa die beunruhigende Form der Geisteskrankheit annahm, wurde die Verschiedenheit als Nichtzugehörigkeit zum sozialen Körper empfunden: Der „Schwachsinnige“ wurde der Fremde, brachte mit seinem Verhalten die Diskursordnung durcheinander und erweckte im Nächsten die Angst vor einer unbekannten Dimension des Seins. Der Wahnsinnige war unter anderem daran erkennbar, daß er Steine auf die Straße warf, ohne Grund lachte, sich unanständig benahm, sein Vermögen vergeudete, unzusammenhängende Worte hervorbrachte und sich nicht an seinen eigenen Namen erinnerte. Aber mehr noch zählte, daß im Grunde nur derjenige wahnsinnig dar, der per famam als wahnsinnig in der öffentlichen Meinung hingestellt wurde.

Die fama trug also zur sozialen Stabilität und Kohäsion bei: einerseits, weil sie die Figuration war, in welcher sich Kommunikation verwirklichte, und andererseits, weil sie ein effizientes System der Etikettierung darstellte. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einer sozialen Schicht, aber auch zu einer Gruppe von Übeltätern mußte erkennbar sein für alle. In einer Zeit wie dem späteren Mittelalter, in welcher durch den Aufstieg neuer Berufsgruppen und die Konsolidierung plötzlichen Reichtums die gesellschaftlichen Ursachen von Konflikten und Dynamiken permanent zu einer destabilisierenden Krise der sozialen und institutionellen Ordnungen führten, diente die Ostentation des Lebensstils, der Ehrbarkeit und der wirtschaftlichen Potenz eines Individuums im kollektiven Bewußtsein dazu, stabilisierend die Konturen und Besonderheiten derjenigen sozialen Schicht zu definieren, der man angehörte.

So ist beispielsweise zu verstehen, daß insbesondere die Kleidung nicht eine reine Funktion des Schutzes oder des Schmuckes hatte [↗ Kleidung, Tracht, Habit]. Sie war vielmehr im vollen Sinne eine gesellschaftliche Ausdrucksform, ein mehr oder minder standardisiertes Bild der erwarteten kollektiven Verhaltensweisen. Wie es in einer Glosse des Legisten Piacentino († 1192) hieß, stehe jedem status ein unterschiedliches Kleid zu: clamis militum, purpura regum, stola clericorum vel sacerdotum, toga advocatorum, birrus rusticorum, coculla monachorum. Auch sei an dieser Stelle auf die rituellen und symbolischen Momente hingewiesen, in denen sich die Gesellschaft selbst inszenierte, auf ihre Werte, ihre Hierarchien [↗ Symbolische Formen]. Als Beispiele seien nur die Krönung des Souveräns, die Ordination des Priesters oder des Ritters, die Verleihung der Doktorwürde oder der Eintritt des Lehrlings in die Zunft genannt. Mittels solcherart rituellen Handelns vermochte die Sichtbarkeit des Sozialprestiges dem status der Personen, ihren Titeln und ihren Rollen Legitimität zu verleihen [↗ Zeremoniell – Ritual]. Man denke an die Welt der Studenten, an die detaillierten Regeln, welche einen Rechtsschüler von seiner Immatrikulation bis zu seinem Examen begleiteten. Der Student der Bologneser Schulen zum Beispiel mußte einen von den Statuten vorgeschriebenen Rock anziehen, er mußte den Vorrang von Gebet und Studium beachten und er mußte, um die licentia zu erreichen, eine weltliche Liturgie befolgen, die zugleich ein festliches Gemeinschaftserlebnis war [↗ Universitäten].

Hinter der Spiegelung der fama befand sich allerdings gleichsam in einem Hinterhalt immer auch ihr Doppelgänger – man könnte mit S. Freud sagen: das Störende mit all seinem Bündel an Unglück, die Schande nämlich.

Schande (infamia) bewirkte eine Reihe von Einschränkungen: Verlust der Würden und der Ämter. Wer der Schande ausgesetzt war, konnte keine Ehrenämter mehr bekleiden, er konnte nicht mehr zugunsten von jemandem Forderungen stellen, er konnte weder ein Urteil in der Eigenschaft als Ankläger einfordern noch eine gültige Zeugenaussage machen; er verlor das Recht, ein Testament aufzusetzen und, wenn er als Erbe genannt war, stand den Brüdern und Schwestern des Verstorbenen zu seinen Ungunsten eine Testamentsanfechtung zu.

Die Auswirkungen, welche die Schande bei Individuen bewirkte, die bislang in vollem Besitz aller zivilen und politischen Rechte waren, die ihre wirtschaftliche Zukunft auf ihr Ansehen aufbauten und die in der sozialen Hierarchie eine Leitungsfunktion innehatten, waren erschreckend. Dies galt in der städtischen Realität, wo sich innovative Sichtweisen der Beziehungen zwischen Privatleuten durchsetzten, ebenso wie in der traditionalen, feudalen Welt, wo der Schutz der eigenen fama ein Imperativ für das Leben eines Herrn bedeutete und die Schande Grund für die Entfernung aus dem Adel war. Die Schande ist für die besitzenden Schichten das Äquivalent zur Todesstrafe für die Ausgeschlossenen und Entrechteten.

Auf diese Weise hatte die Schande spiegelbildlich zur fama eine regulierende Funktion bezüglich der Statusverhältnisse. Für die Angehörigen der unteren Schichten, für die Dirnen, die Zuhälter oder die Wucherer fand die von der öffentlichen Meinung von vornherein sanktionierte Marginalisierung eine Bestätigung durch konkrete Maßnahmen der Rechtsgewalt; für die Angehörigen der herrschenden Schichten wurde die Schande indes zur regelrechten Strafe mit desaströsen Folgen, weil sie zum plötzlichen Entzug der wichtigsten zivilen Rechte führte.

Eine detailllierte Klassifizierung der Schande stellte immerhin sicher, daß diejenigen Beurteilungskategorien zur Anwendung kamen, die von den Trägern der Definitionsmacht über Wahrheit aufgestellt worden sind. So war den respektablen Personen ein gewisser Schutz gegeben, nicht von vornherein falsch eingestuft zu werden. Ehrlose Menschen wußten genau, daß sie es sind, während alle anderen fürchteten, es zu werden.

Ordnung als feste Struktur brachte Beständigkeit, Festigkeit, Unabänderlichkeit und Regelmäßigkeit hervor. Veränderungen hingegen stellten die soziale Ordnung in Frage und waren eine nicht zu tolerierende Herausforderung für die soziale Stabilität. Für den mittelalterlichen Menschen gab es Einheit nur in der hierarchischen Verbindung ungleicher Teile. Gemäß dieser Sichtweise aber waren die einzelnen Teile dann auch Momente einer unlösbaren Einheit, Teile eines Körpers, der von der Ungleichheit, aber auch von der Solidarität seiner Glieder lebte. In diesem auf Stabilität ausgerichteten Gefüge ließen sich aber namentlich im Spätmittelalter Elemente finden, die kaum eingepaßt werden konnten: Kaufleute und Bankiers – sowohl in expansiven als auch in rezessiven Phasen. Die infamissimi mercatores, die aufgrund von Mißwirtschaft aus der Stadt flohen und dabei Güter wie Geld mit sich nahmen, repräsentierten eine unheilsame Aporie zwischen Risikobereitschaft, welche der Handelstätigkeit prinzipiell innewohnte, und der Idee von Ordnung und Harmonie. Man erinnerte sich in jeder Gelegenheit und an jedem Ort, daß die mercatores immer im Begriff sein konnten zu scheitern. Banken, die die Einlagen der kirchlichen Ämter, der Adligen, der Richter und Advokaten aufnahmen, investierten einen beträchtlichen Teil dieser Anlagen in die gewagtesten Wechselgeschäfte. Wenn aber, wie es oft geschah, die Bank scheiterte, dann zerriß der Bankrott den Schleier der undurchsichtigen Geschäfte und nötigte nicht nur der Welt des Handels, sondern der gesamten Gesellschaft eine harte Wirklichkeit auf [↗ Kaufleute, Bankiers und Unternehmer; ↗ Handel; ↗ Geld]. Die Kommunikation unter den Menschen, die den Kaufleuten aus Geschäftsinteresse so sehr am Herzen liegen mußte, wurde nun zu einem Werkzeug der sozialen Regulierung. Die Gescheiterten wurden an stark symbolischen Orten durch entsprechende bildliche Darstellungen verhöhnt: im Freudenhaus, auf dem zentralen Platz und noch öfter am Palast des Stadtregiments. Das läßt ermessen, welche kommunikative Macht die Ikonographie für lange Zeit über die Menschen hatte: eine beunruhigende Macht, die wir heute nur schwer verstehen können, da wir gewohnt sind, die Bilder zu beherrschen, sie auf Distanz zu halten und sie eher in ihrer ästhetischen Dimension zu bewerten. Immer jedoch trat die Schande, die infamia, im Verbund mit der fama auf. So wurde der gute wie der schlechte Ruf nicht nur einem einzelnen zuteil, sondern der gesamten Korporation. Er diente auch in beiden Formen dazu, die Konturen und Besonderheiten derjenigen Schicht zu bestimmen, der man angehörte. Er war Beweismittel bei Vorgängen des Handels, indem er aus sich heraus die Schriftstücke des mercator bonae conditionis et famae glaubwürdig oder unglaubwürdig werden ließ, oder er wurde dazu benutzt, den Zustand drohender Zahlungsunfähigkeit festzulegen oder von sich zu weisen.

Eine Vielfalt entscheidender Fragestellungen eröffnet sich: Wie gelang es, Ansehen und Schande durch einen Umgang mit einer Wahrheit, welche nicht auf einem allgemeinen Konsens gründete, eindeutig zu bestimmen? Wie war eine Koexistenz denkbar einerseits von einer öffentlichen Meinung, die von angeblich gesicherten Werten getragen wurde, und andererseits von einer abweichenden privaten Meinung, die sich eher als skandalbegierig zeigte? Mit welchen Verfahren wurde das Kriterium des Konsenses und der Allgemeingültigkeit hergestellt?

Das Thema consensus omnium wurde von Philosophen und Juristen unter Rückgriff auf eine Kategorie der aristotelischen Logik diskutiert – nämlich durch die Definition des Begriffes éndoxon. Éndoxon bedeutete in der klassischen Topik und Rhetorik dasjenige, das allen bzw. der Mehrheit oder zumindest den Gelehrten als richtig und anerkennenswert erschien. Neben einer quantitativen Gesamtheit (vox populi, vox Dei) bzw. neben den Mehrheitsentscheidungen (nach dem Vorbild des Konziliarismus [↗ Konziliarismus]) gab es auch Formen der qualitativen Mehrheit (die meisten, viele) sowie sogar der autoritären Minderheit (die Besten), die repräsentativ an die Stelle der opinio communis treten konnten. Am höchsten eingeschätzt wurde der öffentliche Charakter der individuellen Kompetenz von Gelehrten [↗ Gelehrte]. Das bedeutete aber, daß eher durch das Urteil von Personen als durch die Umstände der Sache selbst ausgedrückt wurde, was als allgemein ehrenhaft, anerkannt und approbiert zu gelten habe. Die Meinung eines sozialen Standes erhielt auf diese Weise durch seinen Ruf und seine Ehre eine universelle Würde, die ihn in die Lage versetzte, sagen zu können, was er wollte.

Was Schande, infamia, überhaupt bedeutete, welche Ursachen sie jeweils hatte, welche Verbindung sie mit einem Delikt, mit einem Gerichtsurteil und einer Strafe aufwies, welche die Zeitspanne ihrer Dauer und die Bedingung für ihre Aufhebung waren, wurde durch das ius commune bestimmt. Dabei bemühten sich die Interpreten des Rechts, eine maßlose Ausweitung der Anwendungsfelder von infamia zu verhindern. Sie ließen deren Konturen ganz bewußt im Unbestimmten und schufen gewissermaßen eine Art großen Behälter, aus dem sie mit geschickten hermeneutischen Manövern immer neue Typen und Klassifikationen schöpfen konnten.

Das partikulare Recht der verschiedenen Institutionen hingegen beschäftigte sich nicht mit der Definition der Schande, sondern mit deren tatsächlichem Funktionieren. Es zielte auf die Körper, auf ihre Haltung, ihre Anordnung im Raum und ihre Transparenz, die angeblich jede zerrüttete und entartete Seele bloßzustellen vermochten. Dabei unterschieden sich die städtischen Verordnungen von den königlichen nur durch den Eifer, mit dem die Verurteilten zu grausamen und entehrenden Strafen geführt wurden: verkehrt herum auf einem Esel, den Schwanz in beiden Händen haltend, durch die Stadt reiten zu müssen; einen Stein um den Hals gehängt zu bekommen, eine Mitra auf dem Kopf oder einen Sattel auf dem Rücken tragen zu müssen, für lange Zeit an den Pranger gekettet zu werden etc. Ferner wurde durch ein Brandzeichen auf die Stirn, die Schulter oder den Arm gestraft; Häretikern wurde das Tragen eines „Sanbenito“ – eines Armesünderhemdes – auferlegt oder der Dirne eine Kappe mit Glöckchen [↗ Strafwesen]. Diese grausamen Rituale waren eine wundersame Inszenierung der Verhöhnung und Erniedrigung; sie waren eine Art Dramatisierung der Schande für verachtenswertes Verhalten.

Wir sprechen von einem Zeitalter, in dem eine eigene, sichtbare Identität das Privileg von nur wenigen ehrbaren Individuen war, und es gab abgesehen von der fama kaum Möglichkeiten, sich der Dauerhaftigkeit dieses Privilegs zu versichern. In dieser Hinsicht kam es zu einem intensiven wechselseitigen Austausch von Alltagssprache und juristischer Sprache, welcher Folgen hatte. Üblicherweise konkurrierten nämlich die sozialen Selbstregulierungsmechanismen und die Mittel des Strafsystems miteinander in der Verteidigung der gesellschaftlichen Harmonie.

Die fama war indes keine moralische Tugend, sondern ein wertvolles, sorgfältig zu pflegendes Gut. Dieses betraf nicht so sehr das eigene Gewissen als vielmehr die persönliche Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung, zur konstanten Wachsamkeit, die jeder Mensch pflegen mußte, um nach außen hin Vertrauen in seine gute Reputation zu erwirken. Es handelte sich dabei um eine Art Selbstverteidigungsstrategie, die darauf zielte, den Verlust der fama zu verhindern. Si non caste tamen caute, ermahnten die Theologen, wenn sie auf die metamoralische Notwendigkeit verwiesen, daß, soweit irgendmöglich, die Gefahr eines durch infamia verursachten Skandals abzuwehren sei: Dies geschehe am besten durch eine achtenswerte Handlung, wenn nötig aber auch durch maßvolles Heucheln. Die verborgenen Sünden aber wurden dann verbannt in das vertrauliche Gespräch, welches der reuige Sünder in Gegenwart eines erfahrenen Seelsorgers mit seinem Gewissen aufnehmen sollte – fern von den Gerichten, wo man Gefahr gelaufen wäre, durch soziale Kommunikation einen noch größeren Schaden für das Gewissen der Allgemeinheit anzurichten.

FRANCESCO MIGLIORINO

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