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Gewohnheitsrecht

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1916 und 1919 veröffentlichte F. Kern in der „Historischen Zeitschrift“ zwei Beiträge über die Entwicklungsformen und begriffliche Darstellung mittelalterlichen Rechts, insbesondere des Gewohnheitsrechts, und provozierte damit eine bis zum heutigen Tag andauernde Auseinandersetzung über Fragen der Legitimierung von Recht durch Alter, über Invarianz und Disponibilität mittelalterlicher Rechtsnormen. Nach Auffassung Kerns ist das mittelalterliche Recht eine objektive Ordnung, gegründet in Gott, wodurch ein „einheitsstiftendes Band“ durch das Mittelalter gelegt werde, gleichsam als „unbeugsamer Trotz des Rechts gegen die Zeit“. Im Gegensatz zum modernen, vom Staat gesetzten Recht sei für das Rechtsverständnis „des Mittelalters“ kennzeichnend, daß es „alt und gut“ sei: „Für uns (heute) hat das Recht, damit es gelte, nur eine einzige Eigenschaft nötig: die unmittelbare oder mittelbare Einsetzung durch den Staat. Dem mittelalterlichen Recht dagegen sind zwei andere Eigenschaften anstatt dieser einen wesentlich: es ist ‚altes‘ Recht und es ist ‚gutes‘ Recht. Dagegen kann es das Merkmal der Einsetzung durch den Staat entbehren. Ohne jene zwei Eigenschaften des Alters und des Gutseins […] ist Recht kein Recht, selbst wenn es vom Machthaber in aller Form eingesetzt sein sollte.“ Mittelalterliches Recht werde nicht gesetzt, sondern „im Gesamtwissen des Volkes, im Rechtsgefühl der Volksgemeinde oder ihrer Vertrauensmänner, der erlesenen Schöffen […] gefunden“. Rechtsänderung präsentiere sich als Wiederherstellung des „gekränkten guten alten Rechts“. Rechtssetzung im Sinne einer Schaffung neuen Rechts sei Unrecht gewesen; es gelte der Grundsatz, wonach altes Recht das jüngere breche.

In der Auseinandersetzung um das „gute alte Recht“ dokumentierte vor allem G. Köbler mit umfangreichen statistischen Befunden zu ius, lex, mos, consuetudo vom 8. bis zum 11. Jahrhundert, daß für den Ausdruck „gutes altes Recht“ kein Quellenbeleg zu finden sei. Wo einschlägige lateinische Begriffe für „Gewohnheit“ gebraucht werden, werde der „Sachinhalt des spätantiken Begriffsguts […] fortgeführt“. Die Kritik kulminierte im – unbestreitbaren – Aufweis der Zeitgebundenheit der Kernschen Vorstellungen und einer grundsätzlichen Ablehnung, die auch in die Neuauflagen von Lehrbüchern Eingang fand. Dieser Verwerfung wurde (und wird) aber auch vereinzelt mit Skepsis begegnet. So verwies etwa H. Krause in mehreren Studien (und mit deutlicher Sympathie für Kern) auf zwei Formen von „Geltungskraft“ mittelalterlichen Rechts mit der scheinbaren paradoxen Feststellung, es sei alt, aber auch jung gewesen. Das „allgemeine Lebensgefühl des Mittelalters“ habe dem Alter einen Vorrang eingeräumt; doch müsse mittelalterliches Recht ebenfalls möglichst neu sein, wie zum Beispiel die zahlreichen Privilegienbestätigungen dokumentierten. Krause konstatierte daher auch eine spezifische „Geltungsschwäche“ mittelalterlichen Rechts und unterstrich damit, daß der Geltungsbegriff des modernen Rechts (wie auch andere moderne rechtstheoretische Vorgaben) in seiner Anwendung auf das Mittelalter zu hinterfragen ist.

Der Demontage wurde aber auch mit einer gewissen Skepsis bezüglich der Dominanz einer ausschließlich philologisch orientierten Methode begegnet (z.B. W. Trusen, G. Dilcher, H. Siems) und der durchaus als berechtigt anerkannten Dekonstruktion einer „naiv geglaubten germanischen/deutschen Rechtswelt“ wurde entgegengehalten, diese „bringe nicht ohne weiters ein alternatives Bild der mittelalterlichen Rechtsgeschichte hervor“ (D. Willoweit).

Aus diesen Diskussionen erwuchsen wichtige Fragestellungen und Detailuntersuchungen; doch ist mittlerweile unübersehbar, daß mit der Begrifflichkeit Kerns mittelalterliches Gewohnheitsrecht nicht adäquat beschreibbar ist. Die griffige Vorstellung des „guten alten Rechts“ evoziert Vorstellungen, die einen rationalen Erkenntnisgewinn erschweren. Einen neuen Ansatz für die Erfassung von Recht im allgemeinen und Gewohnheitsrecht im besonderen bot die Übernahme ethnologischer Erkenntnisse über oral bestimmte Gesellschaften. Eine Grundbefindlichkeit mittelalterlichen Rechtsbewußtseins ist die Dominanz des ungelehrten Rechts, geprägt durch Oralität in einem von illiteraten Laien geprägten Umfeld. Die „oral society“ des frühen und hohen Mittelalters [↗ Schriftlichkeit und Mündlichkeit] lebt in einem starken Ausmaß in einem „régime coutumier“. In einer solchen Kultur ist der Begriff Gewohnheitsrecht mißverständlich. Gewohnheitsrecht impliziert eine wie immer geartete „Rechtstheorie“ bezogen auf ein schriftlich fixiertes Recht. Diese gedankliche Alternative fehlte jedoch dem „Rechtsverständnis“ einer „oral society“. Deren Rechtsverständnis ist nicht auf einen Normtext und dessen Interpretation hin orientiert, sondern auf faktische und mündliche Formen von Kommunikationen. Es gibt daher in einem „régime coutumier“ keine in Analogie zum Schriftrecht gedachten allgemeinen Normen; es fehlt auch an einer theoretischen Erfassung eines Gewohnheitsrechts. Deshalb schlug bereits vor 30 Jahren K. Kroeschell vor, den Begriff Gewohnheitsrecht durch „Rechtsgewohnheiten“ zu ersetzen, um durch diesen Verfremdungseffekt die Andersartigkeit gegenüber dem Gewohnheitsrecht der juristischen Fachterminologie deutlich zu machen. Dieser Vorschlag hat sich auch weitgehend durchgesetzt und wurde mit Überlegungen zur „oral society“ vertieft und ergänzt.

Ein plausibles und verschiedenen Forschungsansätzen Rechnung tragendes Modell entwickelte J. Weitzel. Danach können diese Rechtsgewohnheiten auch „alt“ sein, da viele Lebensbereiche von Konstanz geprägt waren bzw. die Einschätzung als „alt“ einer traditionalen Gesellschaft entspricht. Modell der Rechtsfindung ist das „dinggenossenschaftliche Verfahren“. Im Konfliktfall wird im einheimischen Verfahren das Recht von den Rechtsgenossen „gefunden“ und vom Richter „geboten“. Mittelalterliches Recht ist „Überzeugungsrecht“. Die im Konfliktfall „gebrochene Rechtsgewohnheit“ wird im Verfahren geschaffen. Sie kann bestanden haben oder nicht, sie kann als rechtlich bewußt geworden sein oder nicht; entscheidend ist der gegenwärtige Konsens der Genossen vor Gericht. Dazu korrespondiert ein konsentiertes Recht in der „Ruhelage“. Diesem billigt Weitzel Normqualität zu, wenn auch im „schlicht konsentierten Vollzug der Lebensordnung“ der Gegensatz zwischen Norm und Faktum auf das Äußerste reduziert ist, „Recht und Sein nahezu in einem liegen“. Der Ansatz Weitzels läßt sich auch mit dem von G. Dilcher vorgeschlagenen, rechtsanthropologischen Überlegungen verpflichteten Ansatz von „Ordnung und Konflikt“ in oralen Kulturen, womit spezifische Rechtsvorstellungen einer literalen Kultur vermieden werden, verbinden.

Diesem Befund entspricht auch, daß „Gesetzgebung“ im Mittelalter ein „konservatives Unternehmen“ (D. Willoweit) geblieben ist; im Vordergrund stand die Vorstellung von Rechtssetzung als Feststellungsakt im Zusammenhang mit dem tradierten Recht. Die spezifische Gemengelage von Gewohnheit und Rechtssetzung läßt auch eine Differenzierung zwischen Geltung und Wirksamkeit von Normen für das Frühmittealter nur schwer durchführen. Eine Änderung erfolgte erst durch das gelehrte Recht, insbesondere durch das kanonische Recht, indem Gewohnheitsrecht, Rechtssetzung etc. rechtstheoretisch erfaßt und auch ein allgemeiner Konsens über Geltungskriterien hergestellt wurden.

Demgegenüber ist im Bereich der Kirche und insbesondere im Religiosentum [↗ Religiosenrecht] die Schriftkultur und damit ein Rechtsverständnis, das sich an einem schriftlichen Normtext und dessen Interpretation orientiert, tradiert worden. Allerdings sind Interferenzen und Prägungen mit und durch das oral geprägte Umfeld mitzuberücksichtigen. Die Vorstellung eines Gewohnheitsrechtes wurde von der Kirche tradiert und weiterentwickelt und im 12. Jahrhundert von Gratian und seinen Nachfolgern zu einer Theorie systematisiert. Gratian entwickelt im Anschluß an die Etymologiae des Isidor von Sevilla († 636) eine an der consuetudo ausgerichtete Rechtslehre, wobei unter Rückgriff auf die Kirchenväter ratio und veritas Maßstab und Geltungsgrund der consuetudo sind. Die Dekretisten setzten in ihren Überlegungen beim Gesetz an und anerkannten unter dem Einfluß der Glossatoren die derogatorische Kraft des Gewohnheitsrechts. Der tacitus consensus omnium des römischen Rechts (D 1.3.32.1) wurde von den Kanonisten mit einer Bindung des tacitus consensus an die umfassende Gesetzgebungsbefugnis des Papstes für eine consuetudo contra legem überspielt. Verwendeten noch die Kirchenväter consuetudo, mos und traditio synonym, so wird nun der zentrale fachspezifische Begriff im Sinne einer Rechtsquelle consuetudo. Zentrale Bedeutung kommt der Dekretale Cum tanto (X 1.4.11) Papst Innozenz’ III. zu. Unter Bezugnahme auf eine Konstitution Kaiser Konstantins (C 8. 52. 2), welche dem Gesetz widersprechende Gewohnheiten verwirft, modifiziert Innozenz den Text, indem er die Rechtsverbindlichkeit einer consuetudo auch contra legem unter den Bedingungen der Rationabilität und der legitima praescriptio von 40 Jahren akzeptiert sowie als Gegenbegriff zur consuetudo den Begriff ius positivum festlegt. Jetzt wurde die rechtliche Gewohnheit, das bislang „als von Zeit und Güte unabhängige, anpassungsfähige Überzeugungsrecht“ (J. Weitzel), im Sinne des Schriftrechts zurückgedrängt und umgedeutet. Die consuetudo wurde in eine schriftfixierte Rechtsquellentheorie eingeordnet. Das Alter der consuetudo wurde juristisch determiniert und mit dem Erfordernis der Rationabilität und der zumindest stillschweigenden Billigung durch den Träger der Gesetzgebungsbefugnis wurde der „Legalisierungstendenz“ des Spätmittelalters Rechnung getragen.

HERBERT KALB

Enzyklopädie des Mittelalters

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