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Bischof Burchard und seine Zeit: Worms als Großbaustelle (1000–1025)

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Jede Beschäftigung mit der hochmittelalterlichen Wormser Stadtgeschichte muss ihren Ausgangspunkt von der Figur, den Leistungen und der Zeit Bischof Burchards (1000–1025) nehmen31. Welche Quellen stehen für die Beschäftigung mit Burchard und seiner Zeit zur Verfügung? In erster Linie ist die Vita Burchards zu nennen. Mit der vom Domscholaster Ebbo, dem späteren Konstanzer Bischof, bald nach Burchards Tod verfassten Lebensbeschreibung und ihrer Einschätzung hat sich die jüngere Forschung intensiv beschäftigt. Der Autor, der geradezu als der »Testamentsvollstrecker« Burchards bezeichnet werden kann, wollte mit seinem Text dessen Bedeutung als entscheidender Förderer der Wormser Stifte besonders hervorheben. Die Vita kann als ein Vermächtnis des Bischofs für die ihm in Seelsorge und Verwaltung zugewiesenen Kanoniker gelten.32 Dazu kommen die Urkunden, das so genannte »Hofrecht« für den Personenverband der Domkirche, die ältere Wormser Briefsammlung und das Dekret, also die bedeutende, von der kirchen- und rechtsgeschichtlichen Spezialforschung nach wie vor intensiv untersuchte kirchenrechtliche Sammlung des Bischofs. In gewissem (allerdings sehr begrenztem) Umfang treten archäologische Quellen und Beobachtungen vor allem der letzten drei Jahrzehnte hinzu. Burchards umfangreiche Bautätigkeit hat zudem kunsthistorische Forschungen ermöglicht, die unser insgesamt schmales, großenteils mindestens unsicheres Wissen ebenfalls erweitern helfen.

Wie auch in den benachbarten Kathedralstädten der Zeit hatten sich seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts auch in Worms die wirtschaftlichen Verhältnisse verbessert. Spiegel der beginnenden Aufbruch- und Wachstumsphase war das Münzwesen. In den 960er Jahren setzten Wormser Münzprägungen ein, nachdem hier bereits bis zur Zeit Karls des Großen eine Prägestätte bestanden hatte; es begann die »Glanzzeit der Wormser Münzgeschichte« (Heß). Unter Otto III. (983–1002) setzte die Sonderentwicklung der bis dahin dem Mainzer Vorbild folgenden Wormser Pfennige bzw. Denare ein. Diese trugen den Namen des Herrschers als Münzherrn sowie das Wormser Münzzeichen, den Halbmond mit Punkt33. Die Nachfolge der Friesen als Träger des Handelsverkehrs am Rhein haben die kurz vor 1000 erstmals bezeugten Juden angetreten.

Ein Schwerpunkt des Wirtschaftslebens dürfte sich im Gebiet der Pfauenpforte und des späteren Niedermarkts, dem Eintritt der alten Römerstraße in die Stadt, befunden haben. Der bis heute bestehende wirtschaftliche Schwerpunkt an der Nord-Süd-Achse (Neumarkt, Kämmererstraße) hat sich erst seit dem hohen Mittelalter herausgebildet. In den Jahren um 1000 ist der Wormser Markt in Herrscherurkunden ausdrücklich bezeugt34. Über die Frage der überregionalen Bedeutung des Markt- und vielleicht auch Jahrmarktplatzes Worms sowie den Stellenwert von Fernhandel und überregional wichtigem Gewerbe in der Stadt fehlt es bis weit in das Mittelalter hinein an verlässlichen Quellen, was zu unterschiedlichen Einschätzungen seines Stellenwertes in der Literatur geführt hat. Bemerkenswert genug ist, dass – neben anderen – der Wormser Markt bei der Marktrechtsverleihung Ottos III. an den Abt von Reichenau für Allensbach am Bodensee im Jahr 998 neben den Märkten (mercati) und der Münze von Mainz und Konstanz gleichsam als Vorbild und Bezugsgröße genannt wird35. Zu den wenigen Belegen für Handelsverkehr gehört neben der zwischen 1074 und dem 13. Jahrhundert sich wandelnden Liste der für die Wormser Händler zollfreien Handelsorte im Reich gemäß den herrscherlichen Privilegien der im so genannten Trierer Stadtrecht der Zeit um 1190 für die Moselmetropole genannte Handel Wormser Kaufleute sowie die Nennung von Worms mit anderen Orten im so genannten Koblenzer Zolltarif, der trotz der vermutlichen Fälschung der entsprechenden Urkunde Heinrichs V. vom Jahr 1104 reale Verhältnisse des 11. Jahrhunderts widerspiegelt36. Erstmals wird den Wormser Bischöfen im Jahre 1044 durch ein königliches Diplom ausdrücklich das Münzrecht bestätigt; seit etwa 1050 erlangten die Bischöfe das Recht auf Prägung ihres Bildnisses mit Namensnennung auf den hier geprägten Münzen37.

Burchard wurde vermutlich um 965 als Sohn einer an der oberen Eder begüterten nordhessischen Adelsfamilie geboren38. Seine Ausbildung als Geistlicher erhielt er u.a. in Koblenz. Im Jahre 993 wurde er vom einflußreichen Mainzer Erzbischof Willigis (975–1011), seinem eigentlichen ‘Lehrer’, in seine Bischofsstadt geholt, wo er seine entscheidende Formung erhielt. Um 995 wurde er erster Propst des neu gegründeten Mainzer Kollegiatstifts St. Viktor, 997 folgte dann die Priesterweihe. Willigis übertrug dem jungen Kleriker mit der erzbischöflichen Verwaltung in Mainz eine verantwortungsvolle Position, in der Burchard für die Beziehungen zur Stadt verantwortlich wurde. Hier muss er sich besonders bewährt haben. Inzwischen war er auch in die königliche Hofkapelle aufgenommen worden, trat also in direkten Kontakt mit dem unmittelbaren personellen Umfeld von König Otto III. (983–1002). In dieser Zeit war der Wormser Bischof Hildibald (979–998, s.o.) als dessen Kanzler tätig. Nach einigen Pontifikaten kurzzeitiger Bischöfe bestimmte Otto III. im März/April 1000 in Heiligenstadt (Eichsfeld) Burchard zum neuen Bischof von Worms, wobei vermutlich Willigis entscheidenden Einfluss auf die Wahl genommen hat. Burchard hielt während seines Episkopats stets enge Beziehungen zu Otto III. und seinen Nachfolgern auf dem Königsthron (1002–1024 Heinrich II., 1024–1039 Konrad II.). Der Oberhirte fand angeblich schauderhafte Verhältnisse in seiner Stadt vor39: Die Stadt habe – ohne effektive Befestigung – fast schutzlos dagelegen, sei eine friedlose Brutstätte für Räuber und Gesindel geworden, die Bewohner hätten begonnen, die Stadt zu verlassen, um auswärts Schutz zu suchen usw.

Wenngleich der nach dem Tod Burchards schreibende Chronist die von Burchard vorgefundenen Zustände in den dunkelsten Farben schildert, um daraufhin die Leistungen des Geistlichen umso heller erstrahlen zu lassen, so dürfte der Bericht im Kern doch zutreffen. Durch die Vernachlässigung der Stadtbefestigung und das Fehlen der herrschaftlichen Gewalt sowie die ungehemmte Machtausübung der seit dem 10. Jahrhundert in Stadt und Region starken salischen Herzogsfamilie war die Stadt in eine tiefe Krise geraten. Die erste Maßnahme zur Besserung der Lage war dabei die äußere Sicherung der Existenz der Bewohnerschaft. Neben der erneuten Befestigung der Stadt verstärkte Burchard als zusätzliche Verteidigungsmaßnahme auch den höher gelegenen Bereich um den Dom und sein bauliches Umfeld, eine Maßnahme, die wohl vor allem gegen die salischen Herzöge und ihre starke herrschaftliche Stellung in der Stadt gerichtet war. Unklar ist, ob es unter Burchard auch zu einer äußeren Stadterweiterung gekommen ist. Die zunächst ungünstige Lage änderte sich erst, als König Heinrich II. nach seiner von Burchard unterstützten Wahl 1002 den Salierherzog Otto von Kärnten dazu bewegen konnte, seine Besitzungen in Worms – allen voran die vielleicht von Konrad dem Roten (gefallen 955, Grab im Dom) errichtete Burganlage an der Rheinfront – gegen königliche Besitzungen in Bruchsal einzutauschen, um sie Bischof Burchard als Belohnung dafür zu schenken, dass er ihn bei der Königswahl unterstützt hatte. Zu den weitreichenden Folgen der für Burchard wichtigen Demontage der salischen Stellung in der Stadt gehört die zunehmende Ausrichtung der neuen Königsfamilie, deren Angehörige seit der Mitte des 10. Jahrhunderts im Wormser Dom ihre letzte Ruhe gefunden hatten40, auf ihre künftige Grablege in Speyer.

Das Ziel Burchards musste die Herstellung und Sicherung der bischöflichen Stadtherrschaft auf der Grundlage der bis zum Jahr 979 den Bischöfen bestätigten Grafenrechte (Bannrechte, Zollrechte) sein. Der Rückzug der Salier bedeutete ohne Zweifel eine erhebliche Stärkung der Position des Bischofs. Allerdings kann das Verhältnis beider Seiten nicht so zerrüttet gewesen sein, wie dies die Burchard-Vita glauben machen will, zumal die Grablege der Familie im Dom auch nach Burchards Neubau fortbestanden hat. Bemerkenswert an dem beeindruckenden »großangelegten Urbanisierungsprogramm«41 ist vor allem, dass es ohne vorherige Ansätze erfolgt ist, wie diese in den weitaus meisten Kathedralstädten links des Rheins zu beobachten sind. Burchard verlieh seiner Stadt innerhalb von 25 Jahren ein völlig neues Gesicht.

Nach dem Vorbild seines Mainzer Lehrers ging Burchard sofort nach seinem Amtsantritt an den Neubau einer überaus großzügig geplanten Domkirche. Burchard setzte an die Stelle eines offenbar ungenügenden Gebäudes ein völlig neu konzipiertes Bauwerk in riesigen Dimensionen. Diese kann man an dem heutigen, aus dem 12. Jahrhundert stammenden Dom noch gut ablesen, denn der Grundriss wurde von Burchards Nachfolgern weitestgehend übernommen. Von dem Dom, bei dem nur die Apsiden eingewölbt waren, sind heute noch die Untergeschosse der Westtürme, die Sockelmauern der Ostteile und des südlichen Querschiffs sowie Reste des Fußbodens erhalten. Der noch nicht ganz fertig gestellte Dom wurde im Sommer 1018 anläßlich eines Aufenthalts von König Heinrich II. auf dessen Bitten hin geweiht. Zwei Jahre später stürzte der Westteil der Kirche ein. Innerhalb kurzer Zeit konnte dieser Rückschlag jedoch überwunden und der Dom – vielleicht 1022 – fertiggestellt werden. Als Spezifikum von Burchards Lebenswerk kann die Gründung, Förderung und Ausstattung von Kollegiatstiften angesehen werden42. Das Gefüge dieser mit Ausnahme von St. Cyriakus/Neuhausen bis zur Säkularisierung kurz nach 1800 bestehenden Institutionen blieb über Jahrhunderte ein typischer Zug der geistlichen Ausstattung der Stadt. Während in anderen Bischofsstädten des 10. bis 12. Jahrhunderts überall sowohl Stifte als auch Benediktinerabteien gegründet wurden, konzentrierte sich Burchard ausschließlich auf die Förderung des kanonikalen Lebens. Dies und die gleichzeitigen Bemühungen um verbesserte Bildung und Ausbildung der Geistlichkeit hängen eng mit den Funktionen des Kanonikerstandes für die wachsenden Aufgaben der Verwaltung und Seelsorge in Stadt und Diözese zusammen.

Die Multifunktionalität der von Burchard errichteten und geförderten Stifte ist besonders hervorzuheben: Weltliche Aufgaben (Beteiligung an der Verteidigung, Güterverwaltung, Sorge um Schriftlichkeit und Rechtsprechung etc.) und geistliche Funktionen (Seelsorge, Kampf gegen Aberglauben, Aufgaben für das Bistum usw.) gingen hier Hand in Hand. Sie waren wichtige Elemente der Herrschaft des Bischofs über die Stadt, das Umland und das Bistum und stellten für ihn ein unverzichtbares Loyalitätsnetz und ein personelles Reservoir dar. Zunächst galt Burchards Sorge dem Domstift, dessen materielle Grundlage verbessert wurde. Die Domschule als geistiges Zentrum stand am Beginn des 11. Jahrhunderts in hoher Blüte43. Ob bei der Zurückhaltung Burchards gegenüber dem benediktinischen Mönchtum auch die Nähe und Konkurrenz zu der knapp 20 Kilometer rechtsrheinisch schon im Mainzer Sprengel liegenden Benediktinerabtei Lorsch mit ihrer weit ausgreifenden Grundherrschaft, ihren Märkten und ihrem bedeutenden, öfter zu Konflikten führenden Einfluss gerade auch in der Region um Worms eine Rolle gespielt bzw. ob dieses Kloster möglicherweise den Bedarf an benediktinischer Lebensweise gedeckt hat, darüber kann man nur spekulieren44. Als Ausdruck der machtbewussten Stellung innerhalb seiner Stadt ließ Burchard nach dem Bericht der Vita in programmatischer Absicht die 1002 auf ihn übergegangene Salierburg bis auf die Grundmauern abreißen und mit denselben Baumaterialien ein dem Apostel Paulus geweihtes Stift errichten45. Dazu erfolgte die Anbringung einer Inschrift, dass die Errichtung des Stifts ob libertatem civitatis geschehen sei: Die Gründung erfolgte demnach »wegen der Freiheit der Stadt«, als Zeichen für die Herstellung der mit dieser gleichgesetzten bischöflichen Gewalt über Worms. Auch der zeitgenössische sächsische Chronist Thietmar von Merseburg deutete den Rückzug der Salier aus Worms als Akt städtischer Befreiung. Im Übrigen ist die Wahl des Kirchenlehrers Paulus als Patron auch unter dem erwähnten Gesichtspunkt der Förderung des Kanonikerstandes und seiner Bildung als programmatischer Schritt zu sehen46. Tatsächlich zog sich die mit Güterübertragungen verbundene Errichtung des Stifts, dem die ältere Rupertuskirche zugeordnet wurde, noch einige Jahre hin. Endgültig erfolgt ist die Stiftung nach Auskunft einer gefälschten Urkunde erst durch einen Rechtsakt vom Tag des Dom- und Stiftspatrons (29.6.) im Jahr 1016.

Für St. Andreas berichtet die Vita über die Verlegung der Klerikergemeinschaft unbekannter Verfassung von einer Stelle westlich außerhalb der ummauerten Stadt an deren südliche Peripherie. In diesem Fall wird die Funktion des Stifts als Teil der städtischen Verteidigungsorganisation sehr deutlich. Zugewiesen wurde dem besitzmäßig neu ausgestatteten Stift die nördlich benachbarte Magnuskirche. Im Nordwesten der ummauerten Stadt, nahe St. Lampert, wurde mit St. Martin ein Stift an der Stelle einer älteren Kirche, deren Anfänge ebenfalls unklar sind, errichtet. Der Bau der Kirche war jedoch nach Aussage der Vita bei Burchards Tod 1025 noch unvollendet; erstmals genannt ist das Stift 1016. Der Grundriss des Gotteshauses dürfte auf Burchards Bau des frühen 11. Jahrhunderts zurückgehen. In seiner späteren Gründungstradition hat sich das Martinsstift als eine kaiserliche Gründung Ottos III. (991/996) verstanden.

Unklar ist, ob bzw. inwieweit die spätere, auch räumlich klar erkennbare Aufteilung des innerstädtischen Gebietes auf vier Pfarreien noch auf Burchard zurückzuführen ist. Die frühere Annahme einer Aufteilung durch Burchard und eine direkte Zuweisung von Pfarreifunktionen an die älteren, jeweils zugeordneten Kirchen wird in letzter Zeit zu Recht stark in Zweifel gezogen. Mit Nonnen- bzw. Mariamünster bestand im südöstlichen Vorstadtgebiet eine weibliche Religiosengemeinschaft, bei der unklar ist, ob sie nach der Benediktinerregel lebte oder als Frauenstift bestanden hat. Die Gründung soll angeblich auf Ludwig den Frommen zurückgehen (um 838/39). Burchard setzte hier seine Schwester Mathilde als Vorsteherin ein, befahl die Befolgung der kanonischen Regel und sorgte für eine ausreichende Güter- und Besitzausstattung. Auch für die Neubestimmung des Schicksals dieser Institution wurde der 29. Juni 1016 zum entscheidenden Tag. Am Hochfest des Dompatrons wurden nicht nur die Gründungs- und Ausstattungsurkunde für das Stift St. Paulus ausgefertigt, sondern auch Nonnenmünster eine neue Verfassung gegeben. Die Festlegung zentraler rechtlicher Bestimmungen für das Frauenstift und seinen Hörigenverband fand in einem eindrucksvollen Rahmen statt: Wie es in der Urkunde heißt, wurde sie im Dom »öffentlich vor dem Altar des heiligen Petrus« vorgenommen. Nach Angaben der Zeugenreihe der darüber ausgestellten Urkunde waren neben Burchard zehn hohe Geistliche, alle Stiftsherren von St. Cyriakus/Neuhausen, St. Andreas, St. Paulus und St. Martin sowie 43 namentlich genannte Laien sowie »fast alle Stadtbewohner« bei der Zeremonie anwesend47.

Unklar sind die Hintergründe der Errichtung der Bergkirche St. Peter in Hochheim (gut drei Kilometer vom Dom entfernt gelegen) mit ihrer auf Burchard zurückführbaren Krypta. Möglicherweise lässt sich mit dem Ort diejenige Stelle identifizieren, an der laut Lebensbeschreibung Burchard ein kleines Kloster (cella) mit einem oratorium (Gebetshaus) samt Wirtschaftsgebäuden errichtet hat. Die unter Burchard geschaffenen Strukturen blieben über Jahrhunderte für die Stadtgestalt bestimmend. Die geistliche Ausstattung bestand nach Burchards Tod zwei Jahrhunderte ohne eine Veränderung fort. Die Karte »Worms bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts« gibt den Zustand der Stadtentwicklung wieder und verzeichnet die quellenmäßig gesicherten Elemente der städtischen Topografie.

Wesentlicher Bestandteil der umfassenden Ordnungsbemühungen Burchards war das vor dem Hintergrund chaotisch-anarchischer Zustände innerhalb des Hofrechtsverbandes (familia) und damit im Wormser Umland erlassene so genannte »Hofrecht«, ein »hervorragendes Zeugnis zur Rechts- und Sozialgeschichte des frühen 11. Jahrhunderts«48. Der Rechtstext gestattet einen Einblick in die Lebensverhältnisse um die Jahrtausendwende und zugleich in die genossenschaftlichen Strukturen der Bevölkerung. Die abhängigen Angehörigen des Verbandes waren demnach der Willkür von Vögten und Amtsträgern der bischöflichen Wirtschaftsverwaltung ausgesetzt; dauernde gewaltsame Auseinandersetzungen und Fehden verschiedener Familienverbände untereinander, Mord und Totschlag gehörten zur Tagesordnung. Die Stadt Worms tritt in den Bestimmungen als lokal hervorgehobener Bereich mit erhöhtem Stadtfrieden hervor. Die Regelungen befassen sich unter anderem mit der Wormser Stadtherrschaft; die Stadt wird in Fragen der Bannbuße und des Besitzrechts als eigener Rechtsraum definiert und von den übrigen bischöflichen Herrschaftsbereichen abgegrenzt. Die Bestimmungen über Darlehen und Geldvermögen weisen auf unfreie Handeltreibende innerhalb der familia hin. Hier wird bereits der Kern der späteren Ministerialität erkennbar, die seit dem hohen Mittelalter zur Triebfeder einer dynamischen Entwicklung der Stadt wurde: bischöfliche Dienstleute, die ihre ihnen ursprünglich übertragenen Funktionen in Verwaltung, Militär und Wirtschaft selbständig ausgebaut und Herrschaftsrechte über die Stadt und das Umland beansprucht haben. Sie waren zudem als Grundbesitzer in Stadt und Umland begütert und am Handelsleben beteiligt. Neben dem Charakter als Gemeinschaft mit außerordentlich breitem sozialem Spektrum ist auch die Funktion der familia als an den Domheiligen Petrus gebundener Kultverband von Bedeutung.

Unter Burchard erfolgte zudem die Grundlegung des stets schmal gebliebenen Hochstifts, also der Aufbau eines weltlichen Herrschaftsgebietes der Wormser Bischöfe, mit einem Zentrum um die spätere bischöfliche Residenz Ladenburg. Auch Wimpfen am Neckar blieb bis in das 13. Jahrhundert ein dauerhaft gewichtiger Wormser »Stützpunkt«. Eine höchst wichtige und aktive Bevölkerungsgruppe waren die Juden, die vor allem als Träger des Handelsverkehrs tätig waren. Die ersten Hinweise auf die Existenz jüdischen Lebens reichen in Worms in das endende 10. Jahrhundert zurück. Die Juden haben in ihrer Funktion als überregional orientierte Handeltreibende offenbar die Nachfolge der im frühen Mittelalter bezeugten Friesen angetreten, deren Siedlungsschwerpunkt im nördlichen Stadtgebiet direkt an der Stadtmauer sie übernahmen. Die bedeutsame jüdische Gemeinde war im Jahr 1034 durch die Stiftung eines Ehepaares in den Besitz einer Synagoge gekommen (vgl. Abb. 76, S. 667). Dies lässt auf gefestigte Gemeindestrukturen und eine beachtliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit schließen49.


Karte 8: Worms bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts

Das Wormser Bistum gehörte zu den kleinsten im deutschen Reichsgebiet, hatte jedoch Anteil an einer fruchtbaren und politisch höchst wichtigen Zentrallandschaft des mittelalterlichen Deutschlands50. Die Herausbildung der Diözese als geistlicher Jurisdiktionsbezirk des Bischofs geht noch auf die Merowingerzeit zurück. In diese Zeit fällt mit der Erwerbung von Ladenburg und Wimpfen der Gewinn dauerhaft wichtiger rechtsrheinischer Stützpunkte des sich neckaraufwärts erstreckenden, an der Verkehrsachse in Richtung zur Donau hin orientierten Bistums. In der Karolingerzeit war Worms als Suffragan des Mainzer Erzbistums in die nun endgültig verfestigte Kirchenverfassung eingebunden worden (s.o.). Die Bedeutung der Stadt für die Herrscher hatte auch eine Stabilisierung der Bistumsstrukturen zur Folge, nachdem nach der Gründung des Bistums Würzburg 742 der Neckar zur Bistumsgrenze geworden war. Seit der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts kam es zu zahlreichen Schenkungen von Rechten, Einkünften und Besitzungen aus königlichem Eigentum an das Bistum. Hier liegt der Keim für die Herausbildung eines weltlichen Herrschaftsbereiches der Bischöfe, des in Resten bis zum Ende des Alten Reiches um 1800 bestehenden Hochstifts Worms. Eine Sonderstellung besaß dabei der auf starken römischen Überresten erbaute Ort Ladenburg, der im späten Mittelalter zur Residenz der Wormser Bischöfe wurde51. Auch hier, wo die Bischöfe auch über Zoll- und Marktrechte verfügten, engagierte sich Burchard. In seine Zeit fällt möglicherweise zudem eine Stiftsgründung in (Bad) Wimpfen im Tal, dem zweiten präurbanen Stützpunkt der Wormser Kirche. Entlang einer Achse Worms – Ladenburg – Wimpfen war Burchard auf älteren Grundlagen um eine Herrschaftssicherung bemüht, wobei Worms vor allem mit der Abtei Lorsch in Konkurrenz trat. Die von Burchard gegründeten bzw. gestärkten Wormser Stifte erhielten durch die Zuweisung von Archidiakonatsbezirken innerhalb des Bistums zugleich Verwaltungsfunktionen für die Diözese.

Bischof Burchard starb am 20. August 1025. Gemäß der Sitte der Zeit trugen die milites des Bischofs seinen Leichnam durch alle Kirchen zum Dom. Bestattet wurde Burchard im Westchor des Doms vor dem Laurentiusaltar. Bei Grabungen im Zuge der Domrestaurierung fand man im Jahr 1907 am Eingang des Chores seine Grabstelle. Burchards Nachfolger Azecho verfügte 1033 die regelmäßige Feier einer Messe am Todestag Burchards. Wie sehr die Verehrung des Verstorbenen bzw. die Erinnerung an ihn in Worms nach dessen Tod anhielt, zeigt das um 1116 verfasste Vorwort zu der Abschrift des Hofrechts. Im Prolog heißt es von Burchard, sein Andenken werde wegen des Vorrangs seiner Verdienste bei den Menschen gefeiert und sei unsterblich; seine Leistungen bezeugten Klerus und Volk ebenso wie die verschönerte und vergrößerte Stadt (civitas adornata et adaucta) sowie das ganze Bistum, das mit Gütern und Besitz reich ausgestattet worden sei.52

Geschichte der Stadt Worms

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