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21. und 22. Elegie

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Als Properz um das Jahr 29 v. Chr.320 sein erstes Gedichtbuch, das noch Martial als separate Ausgabe (Monobyblos) kannte,321 der Öffentlichkeit übergab, lag es nahe, in einem Schlußgedicht nach altem Brauch etwas über sich und seine Herkunft zu sagen. Aber wie das im 21. und 22. Gedicht geschieht, ist ungewöhnlich. Man bedenke: Der junge Caesar war nach dem Sieg von Aktium und der Eroberung Alexandriens der unangefochtene Beherrscher der römischen Welt. Auch die Dichter, die im Bürgerkrieg auf der Gegenseite gestanden waren oder wie Properz322 durch die Landverteilungen ihren Besitz verloren hatten, hatten längst ihren Frieden mit dem Staatslenker gemacht, ja sie waren in persönliche Beziehung zu ihm getreten und bekundeten ihre Haltung auch in ihrer Dichtung. Properz dagegen äußert sich im ganzen 1. Buch mit keinem Wort zu den neuen politischen Verhältnissen und benützt die beiden Schlußgedichte erst einmal dazu, des Todes eines Verwandten zu gedenken, der Perusia gegen Octavian verteidigt hatte und bei der Flucht umkam. Und im Schlußgedicht selber, in dem er, wie man meinen könnte, die Frage nach Herkunft und Heimat hätte beantworten müssen, gedenkt er zuerst des Untergangs von Perusia im Bürgerkrieg und dann nochmals des Todes seines Verwandten und geht erst dann und zwar sehr allgemein auf die Frage nach der Herkunft ein.323

Die Worte aber, mit denen Properz den Fall Perusias vergegenwärtigt, sind in den Jahren nach Aktium erstaunlich. Der Untergang dieser Stadt ist ja ein dunkles Kapitel in der Geschichte Octavians. Unter den Verteidigern Perusias waren viele altrömisch Gesinnte und viele Landbesitzer, die den Verlust ihres Vermögens durch die bevorstehenden Landverteilungen befürchteten. Als nach erbitterten Kämpfen die ausgehungerte Stadt kapitulieren mußte, verschonte Octavian zwar die Masse der Besiegten, ließ aber die führenden Bürger der Stadt und zahlreiche republikanisch gesinnte Senatoren und römische Ritter hinrichten. Die zur Plünderung freigegebene altehrwürdige Stadt brannte dabei vollständig nieder.324 Properz dachte also viele Jahre nach der Tragödie noch voll Trauer daran, wenn er Perusia das Grab der Heimat, ja Italiens nennt. Gewiß ist in Properzens Zeilen kein direkter Angriff auf Octavian enthalten – die Zeitbestimmung, als die römische Zwietracht die Bürger gegeneinander trieb, ist ohne Schuldzuweisung –, aber die Erinnerung an das grausame Geschehen paßte wenig zu der allgemeinen Stimmung in den ersten Jahren des Prinzipats, als eine neue Friedens- und Segenszeit propagiert wurde.325 Allerdings sollte man aus der Klage um das Schicksal seiner Heimat auch keine zu weitgehenden Schlüsse auf eine betont antiaugusteische Haltung ziehen. Wenn Properz in diesem Gedicht eine Kritik an der augusteischen Politik hätte äußern wollen, hätte er in eben diesem Gedicht kaum Tullus angesprochen, der, wie 1,6,19f. zeigt, die augusteische Politik im Osten vertrat. Auch Virgil beklagt noch in Georgika 2,198f., in einer Zeit also, in der er sich längst zu Octavian bekannt hatte (ecl. 1,40–45!), das ‚unglückliche Mantua‘, das in der Ackerverteilung an die Veteranen sein fruchtbares Land verloren hatte. Properz hatte, in seine Liebeswelt und Liebesdichtung versenkt, wohl überhaupt wenig Sinn für das politische Geschehen.326 Bezeichnender Weise schiebt sich vor die Erinnerung an die Katastrophe der seiner Heimat nahegelegenen Stadt Perusina in 22,6–8 wieder der Gedanke an den persönlichen Verlust, der schon das Thema des vorherigen Gedichtes war. Das persönliche Leid bewegt Properz offensichtlich mehr als die Niederlage der Partei, für die seine Verwandten kämpften.327

Das 21. Gedicht bringt eine dramatische Szene als kurzes Rollengedicht, das ein Geschehen, das Properzens Familie betraf, aufgreift. Der Sprecher ist ein älterer Verwandter des Dichters (22,7), der Perusia gegen die Belagerungstruppen Octavians verteidigt hatte. Sein Name Gallus wird erst in Vers 7 genannt.328 Ihm war zwar die Flucht durch den Belagerungsring gelungen, aber in den Bergen fiel er Wegelagerern in die Hände, die ihn tödlich verwundeten. Stöhnend spricht er einen vorbeieilenden, auch verwundeten Kameraden an, der ihn in seiner Panik zunächst offenbar nicht erkannt hat. Das erste Distichon schildert in dem Relativsatz, der das tu der Anrede begleitet, die Situation des Vorbeieilenden, der versucht, dem drohenden Verhängnis zu entkommen. Dann fragt ihn der tödlich Getroffene, warum er auf sein Stöhnen hin so entsetzt herumblickt,329 er sei doch sein Kamerad, der auf derselben Seite gefochten hat.330 Dann wünscht er ihm, daß wenigstens er sich retten und zu seinen Eltern gelangen könne.331 Im nächsten Vers ist die überlieferte Negation ne schwer verständlich. Warum soll die Schwester das Geschehene nicht erfahren? Die Schwester kann wegen der Verbindung mit parentes nur die Schwester des Vorbeieilenden sein. Weil sie aber von der Kunde vom Tod des Niedergeschlagenen betroffen wäre, muß sie auch in einer engen Beziehung mit ihm stehen; vielleicht war sie seine Frau oder seine Braut. Als solche aber erfährt sie den Tod auf jeden Fall. Was soll da der Versuch einer Verheimlichung? Übrigens setzt das letzte Distichon bei ihr eine Sorge um eine Bestattung des Toten voraus. Wegen dieser Schwierigkeiten vermutet Leo eine Textverderbnis und schlägt als Text die Konjektur von Hailer et vor. Eine Möglichkeit wäre auch die gut zu acta passende Lesart haec, die Le M. Duquesnay aufnimmt.332 Nach einer solchen Textverbesserung soll also die Schwester aus den Tränen des Geretteten das Geschehene durchaus merken und dann erfahren, daß der Leichnam nicht gefunden werden könne, wohl weil die Gebeine, wie man es von einem Schlachtfeld kannte, nicht von denen der zahllosen anderen Gefallenen unterschieden werden können. Darum solle sie, welche Gebeine sie auch immer in den Bergen Etruriens findet, als seine ansehen und bestatten.333

Seit Passerat und Lachmann bemerkte man gewisse Ähnlichkeiten der kurzen Elegie mit griechischen Grabgedichten. Passerat und Rothstein gingen so weit, daß sie sie als Grabepigramm zu Ehren eines gefallenen Verwandten auffaßten, das auf einem Kenotaph hätte stehen können. Ähnlichkeiten mit griechischen Grabepigrammen sind offenkundig. Wie in dem berühmten Grabspruch des Simonides auf die bei den Thermopylen Gefallenen reden viele Grabepigramme einen vorübergehenden oder -eilenden Wanderer an.334 Und wenn der Grabspruch in Ich-Form abgefaßt ist, wenn also gewissermaßen der Tote spricht, berichtet er natürlicherweise von seinem Schicksal.335 Liegt das Grab aber in der Fremde, erbittet er sich oft auch eine Benachrichtigung in der Heimat.336 Bei Properz gibt es aber auch entscheidende Unterschiede zu diesen Epigrammen. Ein Grabepigramm wendet sich natürlicherweise an jeden Vorübergehenden, bei Properz dagegen wird eine bestimmte Person in einer einmaligen Situation angesprochen. In einem Grabepigramm spricht ein Toter, bei Properz ein tödlich Verwundeter, der durch sein Stöhnen auf sich aufmerksam macht und dadurch den Vorübereilenden erschreckt. Und in einem Grabepigramm ist der Angesprochene höchstens als Überbringer einer Nachricht wichtig, hier aber kennt der Sprecher den Flüchtenden, nimmt Anteil am Schicksal seines Kameraden und wünscht ihm eine glückliche Heimkehr zu seiner Familie. Mag also Properz auch von dem griechischen Epigrammtypus Anregungen zu seinem Gedicht bekommen haben, er hat etwas anderes daraus gemacht.337

Ein Gedichteinsatz mit quaeris oder quaeritis ist beliebt, er führt mitten in eine lebendige Gesprächsituation.338 Wenn aber Properz die 22. Elegie so einleitet, tut er das, um den im ersten Gedicht in einer Art Widmung angesprochenen Tullus noch einmal durch eine Anrede auszuzeichnen; denn über das, wonach hier gefragt wird, weiß ein alter Freund natürlich Bescheid. Diese Frage nach Herkunft und Familie339 erweckt die Erwartung, daß der Dichter in diesem Schlußgedicht die sogenannte Sphragisform aufnimmt, d. h. die traditionelle Form, in der ein Dichter am Schluß eines Werkes oder Gedichts sich nennt und von sich und seinen Lebensumständen berichtet.340 Statt nun diese Erwartung zu erfüllen, holt der Dichter in einem die Antwort hinausschiebenden si-Satz (Vers 3–5) und einer noch dazu eingeschobenen Parenthese (Vers 6–8; Text: sic341) weit aus und breitet das entsetzliche Unglück, das seine Heimat getroffen hat, vor dem Leser aus. Leidenschaftlich bewegt beginnt er: Wenn er den Untergang Perusias das Grab der Heimat, ja Italiens nennt,342 überzeichnen diese Worte bewußt. Die Begriffe Vaterland und Italien verleihen dem damaligen Geschehen den Charakter einer umfassenden Katastrophe, die nur dadurch abgemildert wird, daß das Ereignis als in der Vergangenheit, in den harten Zeiten des Bürgerkriegs geschehen, bezeichnet wird. Die Beantwortung der Eingangsfrage wird dann noch weiter hinausgeschoben. Es ist, als ob die Erinnerung an die Ereignisse einen persönlichen Schmerz erneut aufbrechen ließe. Properz gedenkt in einer Parenthese des besonderen Verlustes seiner Familie: Er erinnert nochmals an den im vorherigen Gedicht betrauerten Verwandten, der in den Bergen Etruriens auf der Flucht den Tod fand und dort unbestattet liegen blieb. Durch die wiederholte Anrede an die Erde Etruriens (pulvis Etrusca, tu, tu) erhält diese eingeschobene Klage einen geradezu leidenschaftlichen Klang. Wenn Properz dann im letzten Distichon auf Tullus’ Frage zurückkommt, geschieht die Antwort recht obenhin, als ob es darauf nicht sehr ankäme: Die unter dieser schicksalsträchtigen Stadt gelegene Ebene grenze an das fruchtbare Umbrien, seine Heimat. Das ist eine recht künstliche Umschreibung eines einfachen Sachverhalts. In dem späteren Gedicht 4,1,123–125 erfahren wir, daß die Heimat mit der Stadt Assisi und ihrer Umgebung besser zu bezeichnen gewesen wäre, aber Properz kommt es hier offenbar weniger darauf an als auf Perusia und seine Katastrophe.343

Die Elegien des Properz

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