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6. Elegie

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Diese bizarre Elegie wechselt sprunghaft und scheinbar planlos die Themen. Der Dichter will sichtlich das Bild eines chaotischen Gemütszustands zeichnen. Zu Gedichtbeginn zeigt er sich empört über die geringe Treue seiner Geliebten. In Vers 1–6 überzeichnet er ihre Promiskuität durch den Vergleich mit den freizügigsten Hetären Griechenlands.83 Dann mildert er ab, er gesteht zu, daß seine Befürchtungen Halluzinationen der Eifersucht sind, um darauf wieder an wahre Verfehlungen zu denken (his vitiis). Mit einer überraschenden Wendung denkt er dann an die Folgen von Liebesleidenschaften: Sie seien schon die Ursache von Kriegen gewesen und hätten Troja und die Kentauren zugrundegerichtet. In der Gedichtmitte erfolgt ein erneuter thematischer Umbruch, der in die Welt der römischen Gegenwart führt, wobei die Gestalt des Romulus einen fast unmerklichen Übergang ermöglicht. Properz greift dann schonungslos in geradezu sittenrichterlichem Ton den moralischen Verfall der römischen Gesellschaft an. Aber natürlich zielt auch das auf Cynthia. Vor diesem Hintergrund wird ihr Verhalten verständlich: In einer solchen Umgebung kann ein Mädchen nicht anders sein. Und doch hofft Properz in den letzten Versen wider alle Vernunft, daß seine treue Liebe nicht ohne Widerhall bleibt.

Das Gedicht setzt formal ganz ähnlich wie die Elegie 1,3 mit einem dreifachen Vergleich non ita, nec tanta, nec tam multis ein. In der früheren Elegie hatte Properz die schlafende Cynthia mit schönen Frauen des griechischen Mythos verglichen, nun vergleicht er die Schar ihrer Verehrer mit den Scharen, die einst im alten Korinth, Athen und Theben die berühmtesten Hetären Lais, Thais und Phryne umschwärmten.84 Das scheint ein seltsames Kompliment zu sein. Mögen die Vergleiche auch Cynthias Schönheit und Anziehungskraft unterstreichen, ihrer Moral stellen sie kein gutes Zeugnis aus.

Aber dann scheint Properz die in den Hetärenvergleichen sehr deutliche Anklage doch zu kraß zu sein, er entschuldigt den beleidigenden Vergleich als Ausbruch seiner Eifersucht (igosce timori).85 Nachdem er Cynthia, die er nun direkt anredet, in Vers 7f. noch vorgeworfen hatte, sie schmuggle Liebhaber als angebliche Verwandte ein, zeigt er sich in der Partie bis Vers 14 von einer geradezu krankhaften Eifersucht erfaßt. In einem nervösen Wechsel von Praesens- und Futurformen zählt er auf, was seine Eifersucht erregt: Bloße Bilder86 und Namen von jungen Männern entzünden seinen Argwohn, sogar unmündige Knaben. Und er möchte nicht, daß ihre eigene Mutter und ihre Schwester sie küssen oder eine Freundin bei ihr schläft. Überall vermutet er heimliche Liebhaber, ja sogar unter Frauengewändern. Wieder unterstreicht eine Kette von Wiederholungen die Erregung: me-me laedunt me me laedet me laedunt.87

Der erregte Tonfall setzt sich auch in der nächsten Partie, Vers 15–18, fort. Aber nun scheinen seine Befürchtungen doch wieder mehr zu sein als krankhafte Vorspiegelungen der Eifersucht. Wenn Properz mit den Worten his ... vitiis, also ‚mit solchen Liebesleidenschaften‘88 beginnt, unterstellt er, daß wirkliche Fehltritte vorkamen. Aber wenn er sie dann mit Liebesleidenschaften, die einst Katastrophen auslösten, auf eine Stufe stellt, ist das natürlich wieder eine Überzeichnung. Wenig zu dem privaten Anlaß passend erscheint es ja, wenn der Dichter drohend vorbringt, solche Leidenschaften hätten schon Kriege ausgelöst, den Untergang Trojas und den Kampf der Lapithen und Kentauren verursacht.89 Diese Vergleiche scheinen aber überhaupt nicht sehr zu passen. Die Ursache des Verderbens in den alten Mythen war doch in erster Linie die Leidenschaft von Männern und höchstens bei Helena auch die leichte Verführbarkeit einer Frau.

Vorbereitet durch die nur locker mit dem Ausgangsthema in Verbindung stehenden Vergleiche wird im folgenden der Zusammenhang mit der Ausgangsituation scheinbar überhaupt aufgegeben. Der Dichter malt ein Bild der allgemeinen Sitttenlosigkeit im damaligen Rom. Einen Übergang ermöglicht in den Versen 19–22 die Gestalt des mit Wolfsmilch genährten Romulus, der den Befehl zum Raub der Sabinerinnen gab. Diese Gewalttat scheint zunächst noch ganz parallel zu den Taten des Paris und der Kentauren gesehen, also als Bild männlicher Brutalität und Gesetzlosigkeit. Aber wenn dann gesagt wird, daß nach Romulus’ Beispiel nun in Rom die Liebesleidenschaft alle Grenzen überschreite, ist der Ausdruck bewußt offengelassen für Vergehen der verschiedensten Art;90 hiermit können auch die Frauen mitgemeint sein, die dann bei der Schilderung der römischen Verhältnisse allein im Vordergrund stehen.

Mit dem Gegenbild der treuen Gattinnen Alkestis und Penelope und aller ihnen gleichenden treuen Frauen in Vers 23f. wirft der Dichter einen positiven Blick auf die mythische Vorzeit, dann aber bleibt er bei den gegenwärtigen römischen Verhältnissen. In Vers 25f. stellt er zunächst kategorisch fest, daß Tempel der Pudicitia, also der weiblichen Sittsamkeit, für die römischen Mädchen sinnlos geworden seien,91 wenn sogar die verheirateten Frauen keinerlei moralische Schranken mehr kennen. Dann führt er in den Versen 27–34 aus, daß die Mädchen von Jugend an in den Häusern Roms von verführerischen erotischen Bildern umgeben seien, und er verflucht den Erfinder solcher Künste.92 Der Dichter schlüpft in seinem Zorn geradezu in eine fremde Maske. Er verfällt in einen ausgesprochen sittenrichterlichen Ton, der an Horazens Kritik der römischen Ehemoral in der Ode 3,6 denken läßt, wo sich ja auch wie hier in den Versen 33–36 der Blick auf die bessere frühere Zeit und der Hinweis auf die Vernachlässigung und den Verfall der Tempel findet.93 Freilich die Gegenbilder zu der verderbten Gegenwart sind in Horazens Ode und bei Properz verschieden: Horaz sah sein Ideal in einem tüchtigen Altrom, Properz in anderen Gedichten in einer mythischen Welt treuer Liebender.94 Eine Verbindung dieser allgemeinen Thematik mit dem persönlichen Thema des Gedichtbeginns wird nicht ausdrücklich gezogen, aber offensichtlich soll der sittliche Niedergang Roms Cynthias dementsprechenden Lebensstil verständlich machen, ja entschuldigen.

Nach dieser Themenausweitung wenden sich die letzten Distichen, Vers 37–42, wieder Cynthia zu; die erneut angesprochen wird. Properz wird sich bewußt, daß eine Überwachung oder ein argwöhnisches Nachspüren einer Geliebten sinnlos sind. Eine Frau sei nur durch ihr eigenes sittliches Gefühl geschützt.95

Im Schlußdistichon nimmt das Gedicht noch einmal eine neue Wendung. Wie in anderen Elegien, die von Abkehr und Entfremdung sprechen, der Dichter plötzlich zu einer Versicherung der eigenen unverbrüchlichen Liebe übergeht,96 versichert er auch hier, daß er niemals eine andere Frau lieben wird. Für ihn bleibe Cynthia die einzige Geliebte, mit ihr sei er wie verheiratet.97 Durch diese Überlegungen ist das zunächst so erregte Gedicht sehr still geworden. Der Eifersuchtssturm des Gedichtbeginns ist verebbt. Und wieder schließt die Elegie mit einem sentenziös zugespitzten Distichon.98

Die Elegien des Properz

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