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4.Schutzfunktion der Grundrechte

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Literatur:

Böckenförde, E., Wie werden in Deutschland die Grundrechte im Verfassungsrecht interpretiert?, EuGRZ 2004, 598; Brüning, C., Voraussetzungen und Inhalt eines grundrechtlichen Schutzanspruchs BVerwG, NVwZ 1999, 1234, JuS 2000, 955; Dietlein, J., Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2005; Hain, K.-E., Der Gesetzgeber in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot?, DVBl. 1993, 982; Isensee, J., Das Grundrecht auf Sicherheit: Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983; ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders./Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V, 2. Auflage 2000, S. 143; Klein, E., Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, 1633; Klein, H. H., Die grundrechtliche Schutzpflicht, DVBl. 1994, 489; Klein, O., Das Untermaßverbot – Über die Justiziabilität grundrechtlicher Schutzpflichterfüllung, JuS 2006, 960; Krings, G., Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003; Murswiek, D., Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik: Verfassungsrechtliche Grundlagen und immissionsschutzrechtliche Ausformungen, 1985; Pietrzak, A., Die Schutzpflicht im verfassungsrechtlichen Kontext – Überblick und neue Aspekte, JuS 1994, 748; Stern, K., Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DöV, 241; Unruh, P., Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996; Vosgerau, U., Zur Kollision von Grundrechtsfunktionen, AöR 2008, 346; Voßkuhle, A./Kaiser, A.-B., Grundwissen- Öffentliches Recht: Funktionen der Grundrechte, JuS 2011, 411.

Rechtsprechung:

BVerfGE 39, 1 – Schwangerschaftsabbruch I; BVerfGE 46, 160 – Schleyer; BVerfGE 49, 89 – Kalkar I; BVerfGE 53, 30 – Mülheim-Kärlich; BVerfGE 56, 54 – Fluglärm; BVerfGE 66, 39 – NATO-Doppelbeschluss/Pershing II; BVerfGE 77, 170 – C-Waffen; BVerfGE 81, 310 – Kalkar II; BVerfGE 88, 203 – Schwangerschaftsabbruch II; BVerfGE 92, 26 – Zweitregister; BVerfGE 93, 1 – Kruzifix; BVerwGE 51, 15 Verkehrslärm; BVerfG, NJW 1983, 2931 – Luftreinhaltung; BVerfG-K, NJW 1997, 2509 – Elektrosmog.

79Aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte hat das BVerfG staatliche Schutzpflichten gegenüber Eingriffen Dritter entwickelt.22 Sie verpflichten den Staat, die durch die Grundrechte gewährleisteten Rechtsgüter vor Beeinträchtigungen oder Gefährdungen durch private Dritte zu schützen.23 Das lässt sich am besten an der Konstellation des Schwangerschaftsabbruchs erläutern, dessen juristische Bewältigung die Schutzpflichtenlehre entscheidend bestimmt hat.

80So hat das BVerfG unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 eine objektiv-rechtliche Schutzpflicht abgeleitet, die den Staat zu Maßnahmen des Lebensschutzes und zur Abwehr schwerer Gefahren für die körperliche Unversehrtheit verpflichtet.24 Der grundrechtliche Schutzauftrag des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, gilt auch zugunsten des ungeborenen Lebens:

„Die Schutzpflicht des Staates ist umfassend. Sie verbietet nicht nur – selbstverständlich – unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, d. h. vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. An diesem Gebot haben sich die einzelnen Bereiche der Rechtsordnung, je nach ihrer besonderen Aufgabenstellung, auszurichten. Die Schutzverpflichtung des Staates muss umso ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist. Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte.“25

81Schutzpflichtenrechtliche Konstellationen unterscheiden sich von der gewohnten grundrechtlichen Perspektive. Sie verändert sich von einer bipolaren Betrachtung (Verhältnis Bürger/Staat) hin zu einer Dreiecksstruktur. Jenes Dreieck wird gebildet von privatem Störer, privatem Opfer und dem Staat.26 Im erwähnten Abtreibungskonflikt etwa stoßen unterschiedliche grundrechtliche Berechtigungen aufeinander. Auf Seiten der Mutter die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, ggf. auch auf Leben und Gesundheit, die in durchaus tragischer Weise mit dem Grundrecht des Kindes auf Leben in Konflikt geraten.

82Greift der Staat in diesen Konflikt durch gesetzliche Regelungen oder auf andere Weise ein, muss man in Bezug auf den Grundrechtsschutz zwei unterschiedliche Problemsichten auseinanderhalten. Blickt man auf die Seite des „Störers“, so passen sich staatliche Eingriffe in die Rechte der Mutter, etwa deren Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in das klassische Grundrechtsbild „eingreifender Staat und grundrechtsberechtigter Bürger“ ein. Das Grundrecht unterliegt einem Gesetzesvorbehalt und der Staat ist bei seinen Eingriffen an das Übermaßverbot gebunden.

83Mit Blick auf die grundrechtlichen Berechtigungen des Kindes sehen die Dinge anders aus. Es liegt auf der Hand, dass das Instrument des Übermaßverbots dessen Situation nicht adäquat erfasst. Denn das Übermaßverbot stellt die Grenze dar, bis zu der der Staat in den Rechtskreis eines Bürgers handelnd eingreifen darf, das Grundrecht auf Leben des Kindes gefährdet aber nicht der Staat, sondern ein Privater, i. d. R. die Mutter oder ein Arzt.

84Der Staat dagegen ist zunächst in den Konflikt gar nicht involviert, ist untätig und aus verfassungsrechtlicher Perspektive stellte sich die Frage, ob sich auch insoweit eine relevante Grenze feststellen lässt, eine Grenze, ab der das Untätigbleiben des Staates verfassungswidrig wird. Jene Grenze wird allgemein mit dem Begriff des Untermaßverbots umschrieben.

Danach muss der Staat zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, dass ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird.

85Durch die Bezugnahme auf die entgegenstehenden Rechtsgüter wird deutlich, dass auch der Störer Grundrechtsschutz genießt und staatliche Schutzmaßnahmen sich ihm gegenüber als Eingriffe darstellen. Insoweit ist dann auch das Übermaßverbot zu beachten. Staatliche Maßnahmen zur Erfüllung einer Schutzpflicht bewegen sich daher in einem Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot. Dabei muss dem Gesetzgeber ein breiter Gestaltungsspielraum zustehen, auf welche Weise er die Schutzpflicht verwirklicht.

86Schutzpflichten erschöpfen sich – auch soweit sie sich auf Art. 2 Abs. 2 beziehen – nicht in den beschriebenen Abtreibungsfällen. Zahlreiche Entscheidungen des BVerfG, die die staatliche Schutzpflicht für Leben und Gesundheit zum Gegenstand haben, sind zur Gefahrenvorsorge im Rahmen des Immissions- und Umweltschutzes ergangen.27 Der staatliche Schutzauftrag aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 gilt vor allem auch für die verwaltungsrechtliche Genehmigung potentiell gefährlicher technischer Anlagen, die ein privater Dritter in Betrieb nehmen will.28 In jüngerer Zeit erlangen Schutzpflichten besondere Bedeutung im Bereich biomedizinischer Forschung.

87Obwohl sich die Rechtsprechung in vielen Fällen mit den staatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 befasst hat, ist der grundrechtliche Schutzauftrag nicht auf den Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit beschränkt. Staatliche Schutzpflichten kommen für die Schutzgegenstände aller Abwehrrechte in Betracht.29 Beispielsweise erlegt Art. 4 dem Staat die Pflicht auf, Einzelnen und religiösen Gemeinschaften

„einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet entfalten kann, und sie vor Angriffen oder Behinderungen von Anhängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen zu schützen“.30

88Die grundrechtlichen Schutzpflichten führen in aller Regel nicht zu einem Anspruch auf eine konkrete staatliche Maßnahme oder Regelung.31 Vielmehr kommt dem Gesetzgeber bei der Erfüllung der staatlichen Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.32 Das gilt jedenfalls dann, wenn die Herleitung der Schutzpflichten leistungs- und nicht abwehrrechtlich erfolgt. Die erwähnten Spielräume beziehen sich auch auf die Frage, mit welchen Mitteln der Staat seiner Handlungspflicht nachkommen will:

„Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des […] Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Er befindet darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten hält, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten.“33

89Bei der Erfüllung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten hängen Notwendigkeit und Inhalt rechtlicher Regelungen von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den bereits vorhandenen Regelungen ab.34 In technischen Fragen ist eine Risikoabschätzung erforderlich:

„Vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb möglicherweise entstehen können, hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen. Für die Gestaltung der Sozialordnung muss es insoweit bei Abschätzungen anhand praktischer Vernunft bewenden.“35

90Bei der Wahl der Schutzvorkehrungen darf ein bestimmtes Maß nicht unterschritten werden.36 Dieses Untermaßverbot verpflichtet den Staat, zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art zu ergreifen, die dazu führen, dass ein angemessener und wirksamer Schutz erreicht wird.37 Nach Auffassung des BVerfG kann eine Verletzung der Schutzpflicht allerdings

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