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6.Grundrechte als Leistungs- und Teilhaberechte
ОглавлениеLiteratur:
Berg, W., Rechtsfragen zum numerus clausus, Jura 1970, 635; Böckenförde, E., Wie werden in Deutschland die Grundrechte im Verfassungsrecht interpretiert?, EuGRZ 2004, 598; Borowski, M., Grundrechtliche Leistungsrechte, JöR 2002, 301; ders., Grundrechte als Prinzipien, 2007; Friauf, K. H., Zur Rolle der Grundrechte im Investitions- und Leistungsstaat, DVBl. 1971, 674; Heintschel v. Heinegg, W./Haltern, M. R., Grundrechte als Leistungsansprüche des Bürgers gegen den Staat, JA 1995, 333; Hufen, F., Die Studienplatzvergabe für Humanmedizin ist teilweise verfassungswidrig, JuS 2018, 305; Müller, F./Pieroth, B./Fohmann, L., Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, 1982; Murswiek, D., Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Isensee, J./Kirchhof, P. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V, 2. Auflage 2000, § 112; v. Mutius, A., Grundrechte als „Teilhaberechte“ – zu den verfassungsrechtlichen Aspekten des numerus clausus, VerwArch. 64 (1973), 183.
Rechtsprechung:
BVerfGE 33, 303 – numerus clausus I; BVerfGE 43, 291 – numerus clausus II; BVerfGE 133, 377 – Lebenspartnerschaft, Ehegattensplitting; BVerfGE 134, 1, Rn. 55 – Studiengebühr, Landeskinderregelung; BVerfG, NJW 2018, 361 – numerus clausus III.
96Während bei Abwehrrechten die Gefahr für die Freiheit des Einzelnen von Handlungen des Staates ausgeht („Abwehr gegen den Staat“), kommt es hinsichtlich der Leistungs- und Teilhaberechte zu einer anderen Konstellation. Hier ist die Frage, ob der Staat die individuelle Freiheit vergrößern kann, indem er etwas unternimmt („Schutz durch den Staat“). Anders gesagt, würde die Freiheit geschmälert werden, wenn sich der Staat zurückzieht.51
97Im Grundgesetz sind Leistungsgrundrechte nur ausnahmsweise vorgesehen. Anders als die Freiheitsrechte sind sie nicht auf ein staatliches Unterlassen gerichtet, sondern fordern gerade ein positives Handeln des Staates.52 Dies gilt insbesondere für den Anspruch jeder Mutter auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 4).
Fraglich ist, inwieweit darüber hinausgehende Leistungsansprüche gegen den Staat, die nicht ausdrücklich als Leistungsgrundrechte normiert sind, aus den Grundrechten hergeleitet werden können.53 Hierbei ist zwischen derivativen und originären Leistungsansprüchen zu unterscheiden.
98Derivative Leistungsansprüche („Teilhaberechte an Vorhandenem“) betreffen die gleiche Beteiligung an bereits bestehenden staatlichen Einrichtungen und Leistungssystemen.54 Als Grundlage des Teilhabeanspruchs dient Art. 3 Abs. 1: Sofern der Staat in vergleichbaren Fällen Leistungen gewährt, muss bei ihrer Zuteilung der Gleichheitssatz gewahrt werden.55 Ein Leistungsanspruch kann sich dabei auch aus dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung ergeben.56 Allerdings kann diese Selbstbindung der Verwaltung jederzeit aus sachgerechten Erwägungen für die Zukunft geändert werden, ohne dass damit gegen Art. 3 Abs. 1 verstoßen würde.57
99Ein derivativer Teilhabeanspruch besteht beispielsweise bei der Zulassung zum Hochschulstudium im Rahmen der vorhandenen Ausbildungseinrichtungen:58
„Je stärker der moderne Staat sich der sozialen Sicherung und kulturellen Förderung der Bürger zuwendet, desto mehr tritt im Verhältnis zwischen Bürger und Staat neben das ursprüngliche Postulat grundrechtlicher Freiheitssicherung vor dem Staat die komplementäre Forderung nach grundrechtlicher Verbürgung der Teilhabe an staatlichen Leistungen. […] Selbst wenn grundsätzlich daran festzuhalten ist, dass es auch im modernen Sozialstaat der nicht einklagbaren Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleibt, ob und wieweit er im Rahmen der darreichenden Verwaltung Teilhaberechte gewähren will, so können sich doch, wenn der Staat gewisse Ausbildungseinrichtungen geschaffen hat, aus dem Gleichheitssatz i. V. m. Art. 12 Abs. 1 und dem Sozialstaatsprinzip Ansprüche auf Zutritt zu diesen Einrichtungen ergeben. Das gilt besonders, wo der Staat – wie im Bereich des Hochschulwesens – ein faktisches, nicht beliebig aufgebbares Monopol für sich in Anspruch genommen hat und wo – wie im Bereich der Ausbildung zu akademischen Berufen – die Beteiligung an staatlichen Leistungen zugleich notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten ist.“59
100Zweifelhaft ist allerdings, ob darüber hinaus auch ein originärer Leistungsanspruch („echter Leistungsanspruch auf etwas noch nicht Vorhandenes“) auf Erweiterung nicht ausreichender Kapazitäten in Betracht kommt. Für die Hochschulzulassung hatte das BVerfG zwar die Frage aufgeworfen,
„ob aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen und der Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten für die verschiedenen Studienrichtungen folgt.“60
101Ob sich daraus unter besonderen Voraussetzungen ein einklagbarer Individualanspruch des Staatsbürgers auf Schaffung von Studienplätzen herleiten ließe, hatte das BVerfG jedoch ausdrücklich offen gelassen. Jedenfalls stünde ein Teilhaberecht unter dem Vorbehalt des Möglichen:
„Auch soweit Teilhaberechte nicht von vornherein auf das jeweils Vorhandene beschränkt sind, stehen sie doch unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann. Dies hat in erster Linie der Gesetzgeber in eigener Verantwortung zu beurteilen, der bei seiner Haushaltswirtschaft auch andere Gemeinschaftsbelange zu berücksichtigen und nach der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 109 Abs. 2 den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen hat.“61
102In seiner neuesten Numerus-Clausus-Entscheidung ist das BVerfG unter Hinweis auf die Entscheidungsbefugnisse des demokratisch legitimierten Gesetzgebers und dessen haushaltswirtschaftlicher Verantwortung zurückgerudert. Das Teilhaberecht reiche nicht so weit, dass es einen individuellen Anspruch begründen könnte, Ausbildungskapazitäten in einem Umfang zu schaffen, welcher der jeweiligen Nachfrage gerecht wird. Das Recht auf chancengleichen Zugang zum Hochschulstudium bestehe damit nur in dem Rahmen, in dem der Staat tatsächlich Ausbildungskapazitäten zur Verfügung stelle.62 In der Tat setzte die Gewährung originärer Leistungs- und Teilhaberechte erhebliche finanzielle Aufwendungen voraus, so dass die Sicherstellung ihrer Finanzierung regelmäßig mit einem Eingriff in die Haushaltsverantwortung des Gesetzgebers verbunden wäre.63 Das BVerfG hat daher einen verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch bislang nur in seltenen Ausnahmefällen anerkannt.64 Dies gilt insbesondere mit Rücksicht auf Art. 7 Abs. 4 S. 1 für die staatliche Subventionierung privater Ersatzschulen.65