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V.Die Geltung der Grundrechte zwischen Privaten („mittelbare Drittwirkung“)

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163Gemäß Art. 1 Abs. 3 binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Aus der Funktion der Grundrechte und dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 ergibt sich, dass die Grundrechte im Verhältnis der Bürger untereinander grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung entfalten.39

Eine direkte Grundrechtsbindung Privater kommt vielmehr nur in sehr seltenen Fällen in Betracht.40 So findet sich die einzige unmittelbare Drittwirkungsklausel des Grundgesetzes in Art. 9 Abs. 3 S. 2.41 Danach sind Abreden nichtig, die die Koalitionsfreiheit einschränken oder zu behindern suchen; hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.42

Dies bedeutet jedoch nicht, dass den Grundrechten in der Privatrechtsordnung keine normative Wirkung zukommt.43 Die Reichweite der Ausstrahlung der Grundrechte auf das Privatrecht war in der Rechtsprechung jedoch lange Zeit umstritten.

164Das BAG folgte in seinen frühen Entscheidungen der von Nipperdey44 begründeten „Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung“, wonach die Grundrechte nicht nur den Staat verpflichten, sondern auch eine unmittelbare privatrechtliche Wirkung entfalten sollen.45 Danach sollten die Grundrechte auch im Privatrechtsverkehr unmittelbar anwendbar sein, also nicht erst aufgrund von Gesetzen, die vom einfachen Gesetzgeber in Ausführung der Grundsatznorm erlassen worden sind.46 Konsequenz dieser Auffassung war, dass sich auch die Bürger untereinander im Privatrechtsverkehr auf die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte sollten berufen können. Eine Grundrechtsverletzung führte nach dieser Ansicht wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts (§ 134 BGB).47 Dies wurde damit begründet, dass die wirtschaftliche Entwicklung zu einem veränderten Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Privatrechtssubjekten, vor allem zwischen natürlichen Personen und mächtigen Großkonzernen, geführt habe. Dieses Kräfteverhältnis komme dem hierarchischen Verhältnis zwischen Staat und Bürger näher als die für das Privatrecht prägende, überkommene Sichtweise einer Gleichordnung der Bürger.48 Auch wenn die Beschreibung faktisch zutreffen mag, die skizzierte Lesart verkehrte die Funktion der Grundrechte.49 Anstatt als Freiheitsrechts des Bürgers gegen den Staat zu fungieren, drohten sie zu Grundrechtsverpflichtungen Privater untereinander zu denaturieren. Auch ihre grundsätzliche Funktion, im Verhältnis von Bürger und Staat letzterem die Rechtfertigungslast für Eingriffe zuzuweisen, ginge letztlich wohl verloren.

165Es verwundert daher nicht, dass das BAG die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte zwischenzeitlich wieder aufgegeben hat.50

166Auch das BVerfG hat ihr in der Lüth-Entscheidung eine Absage erteilt. Lüth, ein Hamburger Senator hatte im Jahre 1950 dazu aufgerufen, den Film „Unsterbliche Geliebte“ zu boykottieren. Der Grund hierfür lag nicht im Inhalt oder der Form des Films, sondern in der Person des Regisseurs dieses Films, den Veit Harlan inszeniert hatte, jener Veit Harlan, der im Dritten Reich den Film „Jud Süß“ gedreht hatte. Lüth hielt Veit Harlan für ungeeignet, den im dritten Reich zerstörten Ruf des deutschen Films wiederherzustellen und rief deshalb zum Boykott des Filmes auf. Derartige Boykottaufrufe stellen zivilrechtlich eine unerlaubte Handlung dar, die Unterlassungsansprüche nach sich ziehen. Dementsprechend hatte das LG Hamburg auf Antrag der Filmproduktionsgesellschaft eine einstweilige Unterlassungsverfügung erlassen, die das OLG Hamburg bestätigte. Dagegen wandte sich Lüth mit einer Verfassungsbeschwerde und rügte die Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung, Art. 5 Abs. 1 S. 1. Das BVerfG gab Lüth Recht. Über den abwehrrechtlichen Gehalt hinaus sieht das Gericht die Grundrechte als Elemente objektiver Wertordnung. Deshalb kommt ihnen eine Ausstrahlungswirkung auf die gesamte Rechtsordnung zu. Grundrechte entfalten daher über das Verhältnis Bürger/Staat hinausgehend eine Drittwirkung und gelten damit mittelbar auch im Verhältnis der Bürger zueinander.

Im Lüth-Urteil hat das BVerfG darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber die Verfassungsbeschwerde als besonderen Rechtsbehelf zur Wahrung der Grundrechte an sich nur gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewährt hat.51 Zugleich hat der Senat jedoch ausdrücklich festgestellt, dass das GG keine wertneutrale Ordnung sein will, sondern in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgestellt hat.52 Dieses Wertsystem

„muss als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflusst es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muss in seinem Geiste ausgelegt werden.“53

167Das BVerfG vertritt seither in ständiger Rechtsprechung die „Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte“. In späteren Entscheidungen sprach das Gericht wertneutral von „Elementen objektiver Ordnung“,54 die als „objektive Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts, also auch für das Zivilrecht, gelten“,55 ohne dass damit ein Unterschied in der Sache einherginge.56

168Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht hat zur Folge, dass das einfache Gesetzesrecht im Lichte der besonderen Bedeutung der Grundrechte auszulegen ist.57 Daraus können sich grundrechtliche Schutzpflichten ergeben.58 Als „Einbruchstellen“ der Grundrechte als Auslegungsdirektiven dienen vor allem unbestimmte Rechtsbegriffe (vgl. § 315 BGB) sowie die zivilrechtlichen Generalklauseln (§§ 138, 242, 826 BGB).59 Eine unmittelbare Grundrechtsbindung Privater lehnt die h. M. demgegenüber ab, sofern eine solche nicht, wie in Art. 9 Abs. 3 S. 2, ausdrücklich im GG vorgesehen ist.60

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