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3.Verbleibende Kontrollvorbehalte und Reservefunktion des BVerfG

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176a) im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz. Die Dinge komplizieren sich bei der Kontrolle des Sekundärrechts durch weitere Differenzierungen.

177aa) Kontrolle des europäischen Sekundärrechts selber. Historisch stand im Vordergrund der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle zunächst die Sicherung der Grundrechte gegenüber der Rechtssetzung der EU. Sie verbindet sich mit dem bekannten Schlagwort der sog. Solange-Rechtsprechung des BVerfG. Nach dieser Rechtsprechung prüft das Gericht abgeleitetes Gemeinschaftsrecht nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes,

„solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist.“ 76

178Während das BVerfG im Jahre 1974 davon ausging, dass das Gemeinschaftsrecht noch keinen Grundrechtsschutz bietet, der dem Grundrechtsstandard des GG vergleichbar war (Solange I)77, sah das Gericht im Jahre 1986 diese Voraussetzung nunmehr als erfüllt an, ging also von einem im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene aus und zog daraus folgende Konsequenz, dass solange dieser Gleichklang besteht,

„…das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen [wird]; entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind somit unzulässig.“78

Den in der Solange-Rechtsprechung entwickelten und in weiteren Entscheidungen fortgeführten Maßstab des im „Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes“ fand im Europarechtsartikel des GG Aufnahme, Art. 23 Abs. 1 S. 1. Für den Rechtsanwender bedeutet dies, dass die Zulässigkeit bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe nur bejaht werden kann, wenn anhand einer Gegenüberstellung des grundgesetzlichen Grundrechtsschutzes mit dem auf Gemeinschaftsebenen bestehenden Schutzniveau festgestellt würde, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei.79 Ein solcher Nachweis kann angesichts des erreichten Entwicklungsstandes des europäischen Grundrechtsschutzes kaum gelingen. Die Reservefunktion des BVerfG bleibt damit derzeit theoretischer Natur.80

179bb) Kontrolle bei Umsetzung und Vollzug europäischen Sekundärrechts. Wird europäisches Sekundärrecht durch deutsche Gesetze (Transformationsgesetze) umgesetzt bzw. europäisches Sekundärrecht vollzogen, ist wiederum zu differenzieren. Insoweit kommt es darauf an, ob das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Handlungsspielräume belässt oder nicht.

180Besteht ein solcher Spielraum nicht, weil das Unionsrecht zwingende Vorgaben macht, ist das innerstaatliche Recht grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, sondern am Unionsrecht und damit auch den durch dieses gewährleisteten Grundrechten zu messen.81

181Geht demgegenüber das nationale Recht über die Vorgaben des Unionsrechts hinaus – etwa indem das Unionsrecht Härtefallregelungen eröffnet, die dann grundrechtskonform genutzt werden können82, findet Art. 1 Abs. 3 Anwendung.83 Gegebenenfalls ist die Frage des Bestehens eines Umsetzungsspielraums im Wege der Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs. 1 AEUV zu klären84; wird dort das Vorhandensein eines Umsetzungsspielraums bejaht, kann das BVerfG die Überprüfung der Norm auf seine Übereinstimmung mit dem GG prüfen.

182b) Ultra-Vires-Kontrolle. Das BVerfG hat sich in seiner an die Solange-Rechtsprechung anschließenden Auseinandersetzung mit der Frage des Verhältnisses von Europarecht und nationalem Verfassungsrecht weitere Reserve- bzw. Kontrollfunktionen vorbehalten. Das BVerfG sieht sich in einem Kooperationsverhältnis zum EuGH. Zwar übe es seine

„Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ‚Kooperationsverhältnis‘ zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken kann.“85

Gleichzeitig aber behalte es sich vor, zu prüfen,

„ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.“ 86

Man spricht insoweit von einer Ultra-Vires-Kontrolle. Das BVerfG würde aber nur einschreiten, wenn der Kompetenzverstoß hinreichend qualifiziert wäre.87 Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich sei und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht falle.88

183c) Identitätskontrolle. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Verhältnis zum EuGH wurde im Lissabon-Urteil89, der Honeywell-Entscheidung90 und in der Entscheidung zum europäischen Haftbefehl91 fortentwickelt. Das BVerfG behält sich neben der schon erwähnten Ultra-Vires-Kontrolle auch eine Identitätskontrolle vor, also eine Kontrolle in Bezug auf die Verfassungsidentität der Bundesrepublik gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3.92 Im Beschluss zur verfassungsrechtlichen Prüfungspflicht bei der Auslieferung zur Vollstreckung eines italienischen Abwesenheitsurteils führt der Zweite Senat dazu aus:

„Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge. … Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte.“93

Auf Grundlage dieser Identitätskontrolle hat das BVerfG ein in Anwendung europäischen Rechts ergangenes Urteil (eines deutschen Gerichts) wegen Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 aufgehoben und eine Auslieferung untersagt, weil Mindestanforderungen an das Schuldprinzip, welches in Art. 1 Abs. 1 enthalten ist, nicht gewahrt wurden.94

Zugleich betont das BVerfG – wohl in gewisser Distanzierung zum Lissabon-Urteil – erneut das Kooperationsverhältnis zum EuGH und führt aus:

„Vor der Annahme eines Ultra-Vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen ist deshalb dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das BVerfG für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen“.95

184Wie belastbar sich dieses Kooperationsverhältnis künftig erweisen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin hat das BVerfG auf der skizzierten Grundlage dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die Ankündigung des Ankaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank gegen deren geld- und währungspolitisches Mandat oder gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstößt und damit ein Ultra-vires-Akt vorliegt.96

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