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3. Rückwirkungsverbot

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Im Steuerrecht kommt es nicht selten vor, dass sich steuerliche Belastungen rückwirkend negativ auf Vermögensdispositionen des StPfl auswirken. So ist es etwa möglich, dass der Gesetzgeber im Laufe einer Veranlagungsperiode das Einkommensteuergesetz verschärft (etwa die Bemessungsgrundlage erweitert oder den Tarif erhöht), so dass bereits zugeflossene Teile des Jahreseinkommens zusätzlich belastet werden. Der StPfl kann die ihn treffende Steuerlast aber nur dann vorausberechnen und diese Berechnung zur Grundlage seines Handelns machen, wenn ihm die Rechtsfolgen des Steuertatbestandes bekannt sind. Grds gilt deshalb auch im Steuerrecht das Rückwirkungsverbot, das das BVerfG aus den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip ableitet[101].

Anders als im Strafrecht (Art. 103 Abs. 2 GG) sind rückwirkende belastende Gesetze im Steuerrecht nicht schlechthin unzulässig. Traditionell wird unterschieden zwischen einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen und einer tatbestandlichen Rückanknüpfung. Eine Rechtsnorm entfaltet danach eine Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, dh gültig geworden ist (Rückbewirkung von Rechtsfolgen, „echte“ Rückwirkung)[102]. Demgegenüber liegt eine „tatbestandliche Rückanknüpfung“ vor, wenn eine Norm den Eintritt ihrer Rechtsfolgen von Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig macht („unechte“ Rückwirkung)[103].

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Eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen (echte Rückwirkung) verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip und ist deshalb grds unzulässig[104]. Eine Ausnahme ist nur möglich, wenn „zwingende Gründe des gemeinen Wohls oder ein nicht – oder nicht mehr – vorhandenes schutzwürdiges Vertrauen des Einzelnen“ eine Durchbrechung gestatten[105]. Dies kann etwa der Fall sein, wenn eine Regelung unklar bzw verworren ist und der Betroffene nach der rechtlichen Situation zu dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz bezogen wird, mit einer Klarstellung rechnen musste[106]. „Unklar“ ist aber nicht mit „auslegungsbedürftig“ gleichzusetzen. Der Gesetzgeber darf einen Auslegungsstreit nicht mit einer rückwirkenden Gesetzesänderung entscheiden[107].

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Dagegen war eine tatbestandliche Rückanknüpfung (unechte Rückwirkung) verfassungsrechtlich bislang regelmäßig zulässig. Bis zum Jahr 2010 hat das BVerfG hier angenommen, dass das Wohl der Allgemeinheit dem Vertrauen der Betroffenen in den Fortbestand der alten Regelung normalerweise vorgeht[108]. Mit drei Beschlüssen vom 7.7.2010 hat das BVerfG zwar die grundlegende Unterscheidung von echter und unechter Rückwirkung aufrechterhalten[109], prüft jetzt aber auch im Fall der (bloßen) tatbestandlichen Rückanknüpfung, ob die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist[110]. Fälle der unechten Rückwirkung sind daher nur noch grundsätzlich zulässig[111].

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Die Abgrenzung zwischen zulässiger tatbestandlicher Rückanknüpfung und Rückbewirkung von Rechtsfolgen ist schwierig und kann nur auf der Grundlage des Einzelfalls vorgenommen werden. Für das Einkommensteuerrecht geht das BVerfG davon aus, dass eine (unzulässige) Rückbewirkung der Rechtsfolge vorliegt, wenn die Norm nach Ablauf des Veranlagungszeitraums verkündet wird und für den abgeschlossenen Veranlagungszeitraum die Rechtsfolgen nachträglich ändert[112]. Wird dagegen eine Regelung während des Laufs des Veranlagungszeitraums verkündet, liegt nach Auffassung des BVerfG lediglich eine Neubestimmung einer bisher noch nicht eingetretenen Rechtsfolge und damit eine tatbestandliche Rückanknüpfung vor[113] (sog. veranlagungsbezogener Rückwirkungsbegriff)[114]. Denn die Rechtsfolge (= das Entstehen der Steuer) tritt regelmäßig erst mit Ablauf des Kalenderjahrs (= Veranlagungszeitraum) ein, vgl zB § 36 Abs. 1 iVm § 25 Abs. 1 EStG. Wenn der StPfl im Vertrauen auf einen Lenkungstatbestand (Rn 201) disponiert hat, lässt sich möglicherweise auch auf seine Disposition abstellen[115].

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Das BVerfG ist entsprechenden Ansätzen in seiner neuesten Rspr jedoch nur sehr eingeschränkt gefolgt. Es hält an der Unterscheidung echte/unechte Rückwirkung fest, berücksichtigt aber Dispositionen des StPfl nun iRd Verhältnismäßigkeit im Einzelfall: Die unechte Rückwirkung sei mit den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt[116].

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Über den Bereich der eigentlichen Rückwirkung hinaus stellt das BVerfG zT auch solche Steuerrechtsänderungen der tatbestandlichen Rückanknüpfung gleich, die zwar nur für die Zukunft gelten, aber konkret vorhandene Vermögensbestände durch die Besteuerung „entwerten“[117]. So dürfen bei der Verlängerung einer sog. Spekulationsfrist die Wertsteigerungen nicht erfasst werden, die in den Zeitraum der alten (bereits abgelaufenen) Frist fallen, auch wenn die neue gesetzlich verlängerte Frist noch nicht abgelaufen ist[118]. Die Anwendung des Art. 14 Abs. 1 GG und des Vertrauensschutzprinzips auf zT nur fiktive Vermögenspositionen (theoretische steuerfreie Veräußerung zu einem früheren Zeitpunkt) führt zu einer sehr weiten Ausdehnung des Schutzes und erschwert die Änderung von Gesetzen zu Lasten der StPfl erheblich[119].

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Lösung Fall 6a (Rn 156):

Das Gesetz könnte gegen das sog. Rückwirkungsverbot verstoßen. Es ist zu unterscheiden zwischen einer grds zulässigen tatbestandlichen Rückanknüpfung („unechte“ Rückwirkung) und einer grds unzulässigen Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte“ Rückwirkung). Eine „echte“ Rückwirkung liegt vor, wenn der zeitliche Anwendungsbereich einer Norm normativ auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Norm rechtlich existent, dh gültig geworden ist (s. oben Rn 161). Eine Rechtsnorm wird rechtlich existent mit ihrer ordnungsgemäßen Verkündung (Art. 82 Abs. 1 GG). Überdies ist davon auszugehen, dass das gesamte Einkommensteuerrecht vom Grundsatz der Jahresbezogenheit der Einkunfts- und Einkommensermittlung geprägt ist. Dies bedeutet, dass die Rechtsfolgen einkommensteuerlicher Bestimmungen, die die Steuerpflichtigkeit bestimmter Einkünfte regeln, in Bezug auf die veranlagte Einkommensteuer stets erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums, im Regelfall also mit Ablauf des Kalenderjahrs (§ 25 Abs. 1 EStG), eintreten.

Die Tariferhöhung während des laufenden Veranlagungszeitraums stellt daher eine unechte Rückwirkung dar. Diese erachtet das BVerfG jedenfalls dann für zulässig, wenn sie maßvoll erfolgt.

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In Fall 6b könnte indes eine grds unzulässige echte Rückwirkung vorliegen. „Bietet ein Steuergesetz dem StPfl eine Verschonungssubvention an, die er nur während des Veranlagungszeitraums annehmen kann, so schafft dieses Angebot für diese Disposition in ihrer zeitlichen Bindung eine Vertrauensgrundlage, auf die der StPfl seine Entscheidung über das subventionsbedingte Verhalten stützt. Er entscheidet sich um des steuerlichen Vorteils willen für ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten, das er ohne den steuerlichen Anreiz so nicht gewählt hätte. Mit dieser Entscheidung ist die Lenkungs- und Gestaltungswirkung abschließend erreicht“[120]. Es ist daher von einer grds unzulässigen echten Rückwirkung auszugehen. Gründe, aus denen heraus diese echte Rückwirkung hier ausnahmsweise zulässig sein könnte, sind nicht ersichtlich[121]. Das Gesetz in Fall 6b ist daher wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verfassungswidrig.

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In Fall 6c erfolgt die Änderung für den laufenden Veranlagungszeitraum, so dass ein Fall der unechten Rückwirkung vorliegt. Es kommt damit darauf an, ob die Verlängerung der Spekulationsfrist zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und die Grenze der Zumutbarkeit im Rahmen einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der Rechtsänderung gewahrt bleibt. Erfolgt die Änderung nur zur „Gegenfinanzierung“, dh zur Erzielung von Mehreinnahmen, lässt sich die Rückwirkung jedenfalls in solchen Fällen nicht rechtfertigen, bei denen in die Ermittlung des Veräußerungsgewinns Wertzuwächse einbezogen werden, deren Realisierung zu einem früheren Zeitpunkt (ursprüngliches Ablaufen der Zwei-Jahres-Frist) nicht steuerbar gewesen wäre. Es bedürfte insoweit einer Aufteilung des Veräußerungsgewinns auf die jeweiligen Veranlagungszeiträume[122]; beim Fehlen einer solchen Übergangsregelung für Altfälle wäre die Änderung in Fall 6c daher verfassungswidrig. Gleiches gilt bei einer Änderung erst ab Januar 02 (Alternative), obwohl hier streng genommen kein Fall der Rückwirkung vorliegt. Wegen der Anknüpfung an (zunächst steuerfreie) Wertzuwächse aus früheren Veranlagungszeiträumen würde das BVerfG hier eine Entwertung konkret verfestigter Vermögenspositionen annehmen, so dass auch hier nur Wertzuwächse ab der Änderung erfasst werden dürften[123].

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