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Weiter und darüber hinaus
ОглавлениеMit dem Pilgergruß des Jakobswegs »Ultreïa et suseia!« – »Weiter und darüber hinaus« wurde dieses Kapitel eingeleitet. Dieser Spruch ist verschieden zu deuten: als Ermunterung auf einem anstrengenden Weg, als Mahnung zu je neuem Aufbruch, als Blick auch über den Horizont, nicht nur geographisch, sondern auch religiös im Blick auf das Göttliche und die Vollendung des Lebens bei ihm. Dies wird in den folgenden Kapiteln konkretisiert werden. Das Pilgern in den Religionen kann – trotz ihrer inhaltlichen Verschiedenheit – zusammengefasst werden:
• Beim Pilgern ist der Weg genauso wichtig wie das Ziel, es geht um Be»weg»ung des Menschen durch neue Anstrengung.
• Pilgern ist körperliche Anstrengung vor spirituellem Hintergrund – Körper, Geist, Seele, Gemüt wirken zusammen, der ganze Mensch ist gefragt.
• Pilgerwege betonen eine ortsgebundene Frömmigkeit und führen zu heiligen Orten, an denen sich Himmel und Erde berühren.
• An Pilgerorten wird Gott, menschlicher Erfahrung nach, in herausragender Weise erfahrbar. Die Pilgerfahrt ruft das Göttliche hervor.
• Bereits vor dem Ziel bringt der Weg selbst innere Erfahrungen, führt zu Reifung und tieferer Erkenntnis.
• Dem Pilgerweg entspricht der Lebensweg des Menschen, der über Höhen und durch Tiefen führt und ein letztes Ziel kennt.
• Pilgern geschieht aus unterschiedlichen, oft miteinander verschränkten Motiven: Besinnung auf die eigene Geschichte, Wandlungsprozessen Raum geben, Aufbruch zu neuen Lebenszielen, Dankbarkeit für das Leben und alles darin, Gutes wie Belastendes, Bitte um Schutz und Segen für sich selbst und für andere, Suche nach neuen Horizonten, Erfahrung der Tiefe, Begegnung mit Fremdem und Fremden, Sehnsucht, alles hinter sich zu lassen, Offenheit für neue Erfahrungen, religiöse Pflichten erfüllen.
• Pilgern ist ein Symbol für das menschliche Leben, das nicht endgültig, sondern der Übergang in ein anderes, vollendetes Leben ist.
• Pilgern ist Frömmigkeit, Beten mit den Beinen und zugleich mit dem Herzen.
Man kann durchaus berechtigte Kritik am Pilgern üben. Der Mystiker Thomas von Kempen (1380–1471) sagte spöttisch: »Wer viel pilgert, wird selten heilig.« Und Martin Luther (1483–1546) schimpfte über die »Bescheißerei zu Trier«, wo die Pilger zum Heiligen Rock Jesu wanderten und dort viel Geld in den Taschen der Kirche ließen – eine Kritik mehr an Auswüchsen und äußerer Werkgerechtigkeit als an inneren Motiven. Doch das ist nur die eine Seite.
Denn Pilgern liegt heute wieder im Trend und ist ein erstaunliches Phänomen sowohl der historischen wie der aktuellen Religionskultur. Pilgern stellt ein weg- und ortsbezogenes Format menschlicher Religiosität dar. Pilgern ist in allen Religionen eine berechtigte und wichtige Art der Religionsausübung.
Pilger in Kyoto, Japan