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Achtsames Gehen – Gehen als Lebenskunst
ОглавлениеDas afrikanische Volk der Ovambo in Namibia kennt den Spruch: »Nur im Vorwärtsgehen erreicht man das Ziel der Reise.« Gehen ist ein zielgerichtetes Tun, doch kann es unterschiedlich gefüllt sein. Im Alltag ist unser Gehen allein auf die Fortbewegung von einem Ort zu einem anderen ausgerichtet, schnell oder langsam, je nach unserer Zeit. Angesichts der heutigen Möglichkeiten wählen wir oft Verkehrsmittel, um schneller an unser Ziel zu kommen. Der Weg dorthin wird eher als lästig und zeitraubend angesehen.
Anders das Gehen bei Wallfahrten, Prozessionen und vor allem auf Pilgerwegen: Hier geht es natürlich auch um ein Ziel (etwa Santiago de Compostela), aber der Weg dorthin hat seine eigene Berechtigung, seinen eigenen Inhalt, seine eigene Aufgabe. Er darf deshalb auch nicht abgekürzt werden (etwa durch Verkehrsmittel), sondern muss aus eigener Kraft erwandert werden, gleich wie lange es dauert und wie mühsam es ist. Dabei vollzieht sich im Pilger auf dem Weg ein körperlich-geistiger Prozess, der später im Buch (vgl. Seite 22) näher dargestellt wird.
Als Pilger auf dem Weg sein bedeutet ein achtsames Gehen, eine Aufmerksamkeit nicht nur der äußeren Sinne, um den richtigen Weg zu finden – dies ist angesichts von Wegmarkierungen und Navis heute sowieso nicht mehr komplex. Es geht um eine innere Achtsamkeit, eine Offenheit für eigenes und fremdes Lebens, das Aufmerksamwerden für Wandlungsprozesse im eigenen Leben, das Bedenken der Lebensschwerpunkte, Werte und Ziele sowie um eine Achtsamkeit auch auf religiöse Themen hin. Die Religionen setzen hierzu – entsprechend ihrer ja sehr unterschiedlichen Traditionen – unterschiedliche Akzente, doch treffen sie sich darin, dass für ein richtiges Pilgern die Beweglichkeit der Seele, des Geistes, des Herzens (wie immer man den inneren Wesenskern einer Person benennen will) wichtiger ist als die Bewegung der Beine.
In manchen buddhistischen Klöstern (Theravada wie Zen) gibt es Gehmeditationen im Wechsel mit Sitzmeditationen, bei denen man sich in einem ganz bestimmten Rhythmus bewegt und dadurch zu geistiger Anstrengung angeregt wird. Hier wird das Gehen zu einer Lebenskunst, das körperliche Tun befördert das geistig-geistliche. Nichts anderes ist das Pilgern: Der Glaube bewegt sich, läuft körperlich wie geistig.
Gustav Caillebotte (1848–1894), Homme portant une blouse
Novizen in Pindaya, Myanmar