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Berge und Quellen – Orte der Natur
ОглавлениеHeilige, spirituelle Orte – und damit Pilgerziele – können auffällige Phänomene in der Natur sein: ein hoher oder ungewöhnlich geformter Berg (der Berg Sinai für Juden und Christen, der Berg Kailash für Buddhisten, Hindus und Jain, die Heiligen Berge Chinas für Buddhisten und Daoisten, der Berg Koya [Koyasan] für japanische Buddhisten und Shintos …), eine Quelle mit Leben spendendem Wasser (wie etwa für katholische Christen in Lourdes oder für Hindus die Quellen des Ganges), ein heiliger Fluss (der Jordan für Juden und Christen, der Ganges für Hindus) oder eine Höhle, in der sich Religionsstifter oder Pilger bergen konnten und können – die Höhle erinnert symbolisch an den bergenden Mutterschoß.
Ein herausragendes Beispiel ist der Adam’s Peak im Südwesten der tropischen Insel Sri Lanka, der von Buddhisten (Hauptreligion des Inselstaates), Hindus, Muslimen und Christen verehrt wird. Er ist mit seinem auf der Bergspitze gelegenen Heiligtum ein herausragendes Beispiel einer verschiedene Weltreligionen übergreifenden Frömmigkeit. Auf seiner Spitze ist eine etwa 1,5 m lange Vertiefung zu sehen; diese wird von den Buddhisten als Fußabdruck des Buddha verehrt. Als der Buddha nämlich bei einer (mythischen, nicht historischen) Reise nach Sri Lanka gekommen sei, habe er als Erinnerung an seinen Besuch diesen zu verehrenden Fußabdruck hinterlassen. Auch die hinduistischen Tamilen verehren diesen Fußabdruck. Doch ihrer Meinung nach war es der große Gott Shiva, der nicht nur auf dem Berg Kailash im Himalaya seinen Sitz hat, sondern auch auf dieser Bergspitze Sri Lankas. Hier soll Shiva seinen Schöpfungstanz vollzogen und dabei die Welt neu geschaffen haben. Muslime verstehen den Fußabdruck als von Adam, dem ersten Menschen, stammend, der hier auf dem heiligen Berg zum ersten Mal den Boden der Erde betreten hat. Christen haben seit der portugiesischen Eroberung der Westküste Sri Lankas im 16. Jahrhundert diesen Gedanken übernommen, von den Portugiesen stammt auch der Name Pico de Adam. Doch sehen manche Christen im Fußabdruck auch eine Erinnerung an den Apostel Thomas, der der Legende nach Südindien missioniert hat und dabei auch nach Sri Lanka gekommen sei.
Adams Peak bei Ratnapura, Sri Lanka
Der Berg als Sitz der Götter – das gilt besonders für den heiligen Berg Kailash in Westtibet, der von Hindus, Buddhisten, Jain und von Anhängern der vorbuddhistisch-tibetischen Bönreligion verehrt wird. Der Kailash darf nicht bestiegen werden, allein der mystische Dichter Milarepa hat der Legende nach auf seinem Gipfel meditiert. Wohl aber wird der Kailash auf einem 53 km langen Pilgerweg im Uhrzeigersinn umrundet – eine mehrtägige und anstrengende, weil über einen 5700 m hohen Pass führende Strecke. In der hinduistischen Mythologie ist der Kailash der mystische Berg Meru; dieser ist Sitz der Götter, vor allem des Gottes Shiva und seiner Familie (Parvati, Ganesha, Karttikeya). Von diesem König der Berge, dem Zentrum des Universums, entspringen die vier heiligen Flüsse Indus, Sutlej, Karnali und Brahmaputra, die dem Subkontinent Indien Leben und Fruchtbarkeit bringen. Der Lama Anagarika Gowinda (1998–1985) schreibt: »Einige Berge sind nur Berge, andere aber haben eine Persönlichkeit und dadurch die Macht, die Menschen zu beeinflussen. Der größte von ihnen, seit Beginn der Zeit, ist und bleibt der Kailash.«
Was für heilige Berge gilt, gilt auch für heiliges Wasser: Quellen (etwa Tirta Empul auf Bali), Seen (etwa der Manasarovar-See am Kailash), Flüsse (etwa Ganges, Yamuna und der mythische Fluss Sarasvati in Indien) sind Orte besonderer spiritueller Erfahrung und deshalb für unzählige Menschen wichtige Pilgerorte. Wasser steht für das Leben, das von der Gottheit geschenkt wird, dazu für Reinheit und Neuanfang. Im Islam gibt es die Quelle Zamzam, die an die Rettung der biblisch-koranischen Gestalten Hagar und Ismael erinnert und zu der die Pilger des muslimischen Hadsch gehen. Auch gibt es in der islamischen Volksreligiosität oft heilige Quellen wie in der marokkanischen Todra-Schlucht, deren Wasser unfruchtbaren Frauen zum Kinderwunsch verhelfen und die wichtige Pilgerorte darstellen. Germanen, Kelten, Griechen und Römer kannten heilige Quellen und Brunnen – damals ebenfalls bedeutende Pilgerziele.