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Orte der Gottbegegnung
ОглавлениеGott hat keinen und jeden Ort, doch manche Orte erscheinen den Menschen geeigneter für eine Begegnung mit dem Göttlichen – es sind Orte, wo Himmel und Erde sich berühren.
Pilgerreisen und Wallfahrtsorte erzählen davon, wie Menschen auf ihren Wegen und an deren Zielen in besonderer Weise Gott, das Göttliche, das den Menschen Übersteigende erfahren haben. Dahinter steht die allen Religionen gemeinsame Vorstellung, dass nicht jeder Ort auf der Welt gleich ist. Es gibt Orte, die – bildlich gesprochen – dem Himmel näher sind als andere. Es gibt Orte, die spirituell aufgeladen sind und Menschen leichter als andere zu religiösen Erfahrungen führen können. In den aus alter Zeit stammenden Naturreligionen, aber auch in den Weltreligionen späterer Zeit, sind dies oft Orte mit ins Auge fallenden Besonderheiten, etwa einem Berg, einer Quelle, einem Fluss oder einer Höhle.
Andere spirituell aufgeladene Pilgerorte haben mit dem Wirken der Religionsstifter zu tun; sie sind gleichsam eine Reise zu den Quellen einer Religion und rufen die Grundlagen dieser nicht nur durch das Wort, sondern durch die Bewegung dorthin in einer den Menschen transformierenden Weise in Erinnerung. So gibt es für Christen Reisen in das Heilige Land, für Muslime zu den Wirkungsstätten Mohammeds in Mekka und Medina, für Buddhisten zu den vier Pilgerorten von Geburt, Erleuchtung, erster Lehrrede und Eingang ins Paranirvana des Buddha (Lumbini, Bodh Gaya, Sarnath, Kushinagara), für Hindus zu den Geburtsorten der Avataras von Vishnu – Krishna und Rama. Selbst Qufu in China ist zu einem »Wallfahrtort« von konfuzianisch geprägten Menschen geworden, die sich hier an Geburt und Wirken von Kongzi (Konfuzius) erinnern und sein Wohnhaus und sein Grab besuchen.
Über das Wirken der Religionsstifter hinaus gehen Pilgerfahrten zu Orten, in denen man den Segen und Schutz der Gottheit auf eine vermittelte Weise erfahren kann: Solche Vermittlung kann durch verstorbene oder auch lebende Personen erfolgen, etwa Pilgerfahrten zu den Gräbern von Heiligen, Imamen, Gurus, buddhistischen Äbten, daoistischen Weisen. Vermittlung kann darüber hinaus auch durch Gegenstände erfolgen, die eine besondere Beziehung zum Religionsstifter oder den Grundbegriffen einer Religion haben – ein Reliquienkult an heiligen Orten, gleich ob zum (vermeintlichen) Heiligen Rock Jesu in Trier oder zum (ebenso vermeintlichen) Zahn des Buddha in Kandy. Verehrt werden zudem vielfältige Reliquien von Heiligen, ebenso Orte, wo Heilige erschienen sind.
Diese und weitere Formen stellen eine ortsgebundene und ortsbezogene Frömmigkeit dar, die sich oft fernab der offiziellen Linie einer Religion entwickelt hat und manchmal auch von den religiösen Autoritäten nicht anerkannt wird (wie etwa der aus der Neuzeit stammende Marienwallfahrtsort Međugorge in Bosnien-Herzegowina). Doch die Volksreligiosität geht immer eigene Wege: Menschen lassen sich in ihrer Vielgestaltigkeit nicht in ein Korsett religiöser und von oben bestimmter Dogmen einpassen.
Pilger auf dem Weg, Kamakura, Japan
Manche Religionen – etwa die Sikhs – verweisen darauf, dass die äußeren Pilgerfahrten zu heiligen Orten unwichtiger sind als die inneren Pilgerfahrten, denn nur sie allein können Menschen verändern. Im Islam wird von den meisten Muslimen der Dschihad als innere Anstrengung (und nicht als äußerer, gewalttätiger Kampf) verstanden. Auch die christliche Mystik, der islamische Sufismus und erst recht die reformatorischen Kirchen mit ihrem »allein der Glaube« haben Kritik an äußerlichen religiösen Vollzügen wie Pilgerfahrten geübt.