Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 10

17:20 Uhr

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Die Stimmung des Chefinspektors entsprach dem feuchttrüben Wetter, als er am späten Nachmittag sein Büro verließ und ins Freie trat. Vor fünfzehn Minuten hatte der Bürgermeister von Dreistätten, Friedrich Rettenbacher, angerufen und ihn gebeten, zu ihm zu kommen. Wegen der Wellen, die der Mord an dem Mädchen unter der Bevölkerung schlagen könnte, wollte er etwas über den Stand der Ermittlungen erfahren. Und er wollte mit Weininger die weitere Vorgangsweise besprechen. Was schon für eine Bitte vermessen gewesen wäre, hatte wie ein Befehl geklungen. Auf diese Weise erreichte man bei Weininger allerdings meistens das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war. Dem entsprechend hatte er dem Bürgermeister mitgeteilt, dass die Ermittlungen noch nichts Konkretes ergeben haben und alles Notwendige schon in die Wege geleitet sei, mehr gebe es nicht zu sagen. Tatsächlich hatte er der Presse Informationen gegeben, um für eine angemessene Verbreitung der Tatsache zu sorgen, dass ein Kindermörder in Dreistätten sein Unwesen treiben könnte. Außerdem war in seinem Auftrag das Aufgebot an Polizeistreifen in Dreistätten erhöht worden, soweit es die Kapazität erlaubte.

Nicht einmal fünf Minuten nach dem Telefonat mit Bürgermeister Rettenbacher hatte er Landessicherheitsdirektor Mattausch an der Leitung gehabt, seinen unmittelbaren Vorgesetzten, außerdem ein Parteifreund Rettenbachers. Mit salbungsvollen Worten hatte ihn dieser darauf hingewiesen, dass er eine Einladung des Dreistättner Bürgermeisters nicht so ohne weiteres ausschlagen könne.

Weininger wusste, dass in einem solchen Fall Widerstand zwecklos war. Also hatte er sich seinem Schicksal ergeben und war jetzt auf dem Weg ins Dreistättner Rathaus.

Die letzte Intervention des Stadtoberhauptes hatte er noch gut in Erinnerung. Bei einem Überfall auf die städtische Bank vor etwas mehr als drei Jahren war eine Angestellte leicht verletzt worden. Das Unglück war passiert, als sie, die etwas abseits stand, unbemerkt aus dem Sichtfeld des Täters kommen wollte. Dabei war sie gegen eine offen stehende Tresortür geprallt. Das hatte den Bankräuber wiederum veranlasst, den erst halbvollen Sack mit dem Geld an sich zu reißen und die Bank fluchtartig zu verlassen. Obwohl Weininger damals nur teilweise in die Ermittlungen involviert gewesen war, hatte der Bürgermeister ihn auf die gleiche Weise wie heute, nämlich unter Einschaltung seines Freundes Mattausch, zu sich kommen lassen. Eine geschlagene Stunde hatte er ihn darüber belehrt, wie wichtig es sei, Dreistätten sauber zu halten von solchen Verbrechen. Außerdem wollte er täglich einen Bericht über die Ermittlungen, da ihm die Sicherheit seiner Mitbürger das Wichtigste sei, wie er damals betont hatte. Er äußerte noch eine Reihe weiterer Wünsche und Beschwerden, alle gingen in dieselbe Richtung. Weininger hatte ihn danach kein einziges Mal vom Stand der Ermittlungen unterrichtet und bei seinen Anrufen nur die Informationen weiter gegeben, die ohnehin schon in der Zeitung standen. Als der Überfall dann in sehr kurzer Zeit geklärt worden war, erschien ein mehrspaltiger Artikel im Dreistättner Tagblatt, der örtlichen Tageszeitung, in dem der Verfasser die Verdienste Rettenbachers um die Aufklärung des Falles in höchsten Tönen hervorhob, die Arbeit der Polizei aber mit keinem Wort erwähnte.

Mit diesen Erfahrungen im Gepäck betrat Weininger das Rathaus von Dreistätten und ein paar Minuten später das Zimmer des Bürgermeisters, dessen Ausstattung zweifellos auch dem Oberbürgermeister von New York keine Schande bereitet hätte. Unter Insidern war allgemein bekannt, dass die erste Amtshandlung Rettenbachers seinerzeit ein breit angelegter Umbau seines Büros samt Anschaffung eines neuen Dienstwagens gewesen war. Dass die Opposition damals das Ganze nicht zum Skandal hochstilisiert hatte, lag ausschließlich an den geradezu unglaublichen Verbindungen und Bekanntschaften, die Rettenbacher zu allen Parteien aufgebaut hatte. Solange er sein Blatt nicht überzog, sicherten sie ihm eine gewisse Narrenfreiheit zu, von der er auch weidlich Gebrauch machte. Bei seinem ersten Besuch im Rathaus, der schon recht lange zurücklag, war Weininger noch ein klein wenig beeindruckt gewesen von der Ausstattung. Jetzt konnte er über das im Vergleich zur tatsächlichen Bedeutung lächerlich übertriebene Interieur bestenfalls den Kopf schütteln, wenn ihm dieser Umstand überhaupt auffiel.

„Guten Tag, Herr Chefinspektor!“ Rettenbacher empfing ihn mit einem Gesichtsausdruck, der nur mit Mühe die schadenfrohe Genugtuung über das Funktionieren seiner Verbindungen unterdrücken konnte, das durch Weiningers Erscheinen bestätigt wurde.

Der Angesprochene gab ein halb verschlucktes „Grüß Gott“ von sich und nahm am Schreibtisch gegenüber vom Bürgermeister Platz.

„Danke, dass Sie doch noch gekommen sind.“ Rettenbacher hatte inzwischen im Bemühen, dem Gespräch einen offiziellen Anstrich zu geben, eine möglichst nüchterne Miene aufgesetzt. „Das Verbrechen, das gestern in unserer Gemeinde verübt wurde, hat uns alle und vor allem mich tief erschüttert. Es bedeutet für Dreistätten und die gesamte Region eine neue und bisher ungekannte Dimension der Gewalt.“

Er hielt kurz inne. Von dieser wohldosierten Pause schien er sich eine gewisse Wirkung zu versprechen.

„In dieser Sache, die nicht nur die Ausforschung und Bestrafung des Täters zur höchsten Priorität erhebt, sondern darüber hinaus auch ein enormes Gefährdungspotential für die Sicherheit der Bevölkerung beinhaltet, ist eine ebenso unverzügliche wie umfassende Information über den Stand der Ermittlungen unerlässlich. Ich glaube, das sind Sie den Leuten hier schuldig.“

„Sie können mir glauben, dass ich die Sicherheit der Bevölkerung im Auge habe, wenn ich mich bei der Weitergabe von Informationen streng an die Gesetze und an die Erfordernisse des aktuellen Ermittlungsstandes halte“, erwiderte Weininger, ich kann ihrem Wunsch deshalb nicht ohne weiteres entsprechen.“

Vor ein paar Jahren hätte er vielleicht noch einfach ja gesagt und dann weiter laviert, aber je länger er diesen Posten ausübte, desto weniger gefielen ihm solche Spielchen, egal, wer ihm gegenüber saß.

„Ich verstehe“, sagte Rettenbacher. Es war nicht zu übersehen, dass die Antwort des Chefinspektors ihn etwas überraschte und seinem Geschmack nicht ganz entsprach. „Sie sonnen sich in der Tatsache, dass Sie keinerlei Verantwortung haben, die Leute können Ihnen im Grunde egal sein, Hauptsache, der Täter wird irgendwann gefasst. Ich hab’ es allerdings nicht so einfach. Ich muss für all das, was hier passiert, gerade stehen. Wenn ein Kind getötet wird, heißt es ‚Bürgermeister, warum hast du’s nicht verhindert?’, und glauben Sie mir, ich trage schwer an dieser Verantwortung. Deshalb ist mir völlig egal, was Sie mir hier von Gesetzen und Ermittlungen erzählen, die Sorge um meine Mitbürger werden Sie mir nicht nehmen und ich werde Mittel und Wege finden, alles dafür zu tun, dass Dreistätten ein sicheres Pflaster bleibt.“

Weininger wusste, welche Mittel und Wege Rettenbacher zur Verfügung standen. Er beneidete sich in diesem Moment selbst nicht darum, die Ermittlungen in Fall Zeiringer zu leiten. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden.

„Dann hoffe ich, dass Ihre Mittel und Wege Erfolg haben“, sagte er schließlich, „von mir werden Sie ganz sicher nichts hören, was meine Kompetenz überschreitet.“

„Na gut, zu gegebener Zeit werden wir schon sehen“, erwiderte Rettenbacher. „Eins kann ich Ihnen allerdings garantieren. Wenn sich herausstellen sollte, dass in den Mord, der hoffentlich der einzige bleiben wird, irgendwelche Afrikaner oder Russen aus dem Lager verwickelt sind und Sie teilen mir das nicht unverzüglich mit, dann sorge ich dafür, dass Sie für den Rest Ihrer Polizeilaufbahn in Fürstenberg am Hauptplatz den Verkehr regeln. Haben Sie mich verstanden?“

Weininger hatte verstanden und ihm war auch der Hintergrund dieser Drohung durchaus bewusst. Friedrich Rettenbacher war ein maßgebender Vertreter jener Partei, die die Mehrheit im Stadtsenat von Dreistätten besaß, während Alexander Schirmer, der Geschäftsführer der Lager-Verwaltungsgesellschaft, der anderen großen politischen Kraft im Lande nahe stand, die derzeit auf Bundesebene an der Regierung war. Das Lager unterstand nämlich nicht der Stadt Dreistätten, sondern fiel in die Zuständigkeit des Bundes und war damit direkt dem Ministerium unterstellt. Mit Ausnahme der Tatsache, dass es sich auf dem Grund seiner Gemeinde befand, hatte Rettenbacher mit dem Flüchtlingslager also nichts zu tun, ebenso wenig wie mit den Ermittlungen im aktuellen Mordfall. Er hatte somit auf das Lager als größten gesellschaftlichen Reibebaum seines Gemeindegebietes keinerlei Einfluss und konnte nicht ein einziges Wort mitreden, wenn es darum ging, wie dicht es belegt war oder nach welchen Kriterien die Neuaufnahme von Asylwerbern erfolgte. In starken Zeiten wurden in den Bau aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts weit über tausend Personen gepfercht, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Das einzige Instrument, dessen er sich in diesem Zusammenhang bedienen konnte, war die öffentliche Meinung. In dieser Hinsicht wäre aber nichts besser verwertbar als der Nachweis, dass Bewohner des Flüchtlingslagers kleine Kinder umbringen.

Das Wissen um diese Umstände und die Tatsache, dass ihm Rettenbacher, wenn auch nicht direkt, so doch über seine Parteikanäle das Leben schwer machen konnte, waren für Weininger genügend Gründe, bei dieser Sache so vorsichtig wie möglich zu sein. Die letzte Bemerkung war allerdings zu viel, als dass er Sie so einfach übergehen konnte.

„Sie sollten einmal darüber nachdenken, was Sie so von sich geben“, sagte er so ruhig, wie es ihm in diesem Augenblick möglich war. „Da es offensichtlich keine weiteren Gesprächsthemen gibt, werde ich mich jetzt wieder meiner Arbeit widmen.“

Er stand auf und verließ grußlos den Raum, ohne dass der Bürgermeister in seinem tiefen gepolsterten Ledersessel noch ein Wort sagen konnte.

Flucht

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