Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 14

10:50 Uhr

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„Wir sind alle erschüttert über dieses furchtbare Unglück.“ Frau Direktor Küster, eine beredte, nicht unattraktive Frau gegen fünfzig, für Weiningers Geschmack allerdings etwas zu stark geschminkt, bot ihm einen der gepolsterten Sessel am Besprechungstisch in ihrem Büro an und setzte sich zu ihm. Sie war seit sieben Jahren Leiterin der Volksschule Dreistätten. Bisher hatte sie allerdings kein auch nur annähernd so gravierendes Ereignis erlebt wie diesen Mord an einer ihrer Schülerinnen.

„Ja, diese Dinge sind für niemanden angenehm“, erwiderte Weininger, „aber sie kommen vor, es hilft nichts, und wir müssen unsere Arbeit tun.“

„Natürlich, ich beneide Sie nicht darum“, sagte sie voll Verständnis, indem sie ihr dem Chefinspektor entgegen gebrachtes Verständnis auch noch durch einen einfühlsamen Blick und ihre wie unbewusst auf dem Ärmel seines Sakkos zu liegen kommende Hand unterstrich.

Etwas abrupt hob er daraufhin seinen Arm vom Tisch, um sich am Kopf zu kratzen.

„Wie viele Schüler werden hier unterrichtet und wie viele Lehrer haben Sie?“, fragte er so ungezwungen wie möglich.

„Die Schülerzahl beträgt insgesamt knapp dreihundertfünfzig, die genaue Zahl habe ich momentan nicht im Kopf, da müsste ich nachsehen“, sagte sie plötzlich einige Grade formeller und wollte schon aufstehen.

„Bemühen Sie sich nicht“, unterbrach Weininger sie in ihrer Absicht, „die ungefähre Zahl reicht für meine Zwecke völlig.“

„Na gut“, erwiderte sie und nahm den Faden wieder auf. „Insgesamt sind fünfzehn Lehrerinnen und Lehrer an der Schule beschäftigt. Pro Jahrgang geht es sich üblicherweise mit drei Klassen aus, also bei vier Jahren Volksschule insgesamt zwölf Lehrer. Außerdem haben wir seit drei Jahren die Integrationsklasse für Kinder mit Behinderung oder Lernschwächen. Dann sind da noch die Werklehrerin und die Teilzeitlehrerin für Englisch. Möchten Sie von allen die Namen wissen?“

„Mich interessieren zunächst einmal jene, die Jacqueline Zeiringer unterrichtet haben“, erwiderte Weininger. „Gibt es neben dem Lehrkörper noch weitere Personen, die hier im Haus arbeiten?“

„Den Schulwart mit seiner Frau“, antwortete die Direktorin. „Er ist Mädchen für alles, sie führt ein kleines Buffet im Pausenraum, in dem es Wurstsemmeln und dergleichen gibt. Es ist ziemlich beliebt sowohl bei Schülern als auch Lehrern. Daneben sind die beiden für die Reinigung der Schule zuständig, allerdings mit Unterstützung von zwei teilzeitbeschäftigten Frauen. Sie kommen abwechselnd nachmittags und übernehmen meistens die oberen Stockwerke.“

„Aha“, erwiderte Weininger, während er auf einem Block Notizen machte, „eine Frage noch, bevor ich mit den Lehrern von Jacqueline Zeiringer spreche. Hat es hier an der Schule jemals einen Vorfall gegeben, der mit der Belästigung von Kindern zu tun hatte? Es gibt ja Vieles, das nie nach außen dringt, weil es isoliert betrachtet keine große Bedeutung hat. Im Zusammenhang mit dem jetzigen Mord kann es aber wichtig sein.“

„Warum glauben Sie, dass ich so etwas wissen sollte?“, fragte die Direktorin mit erstauntem Gesicht.

„Ich bitte Sie, wenn so etwas passiert, erfahren Sie es doch als Erste“, sagte Weininger, indem er sich leicht nach vor beugte, wie um ihr die Antwort zu erleichtern. Falls es da jemals etwas gegeben hatte, wollte er es unbedingt herausbekommen, selbst auf die Gefahr hin, es sich mit Frau Direktor Küster dadurch zu verscherzen.

„Diesbezüglich kann ich Ihnen ohne jede Einschränkung sagen, dass mir noch nie etwas dergleichen zu Ohren gekommen ist“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen ohne jeden Zweifel.

„Sie dürfen nicht glauben, dass derartiges bei mir dazu führen würde, irgendjemanden sofort zu verdächtigen“, gab sich Weininger noch nicht ganz geschlagen, „und bitte vergessen Sie nicht, worum es hier geht. Sie sind es Ihren Schülerinnen und Schülern schuldig, der Polizei alles zu sagen, was nur irgendwie zur Klärung des Falles beitragen könnte.“

Seit Weiningers abruptem Bedürfnis, sich am Kopf zu kratzen, war die Miene der Direktorin von übertriebener Freundlichkeit zu formeller Korrektheit übergegangen. Jetzt aber gefror sie unvermittelt zu Eis.

„Wollen Sie unterstellen, ich halte mit irgendetwas hinter dem Berg?“ Auch ihr Ton war wesentlich schärfer als bei der letzten Antwort.

„Ich will gar nichts unterstellen, und meine Nachfrage gründet sich auch auf kein wie immer geartetes Gerücht“, entgegnete Weininger mit beruhigendem Unterton, „ich weiß nur aus Erfahrung, dass es unangenehm ist, über solche Dinge zu sprechen, vor allem auch, weil man möglicherweise die Namen von Leuten nennen muss, die mit der jetzigen Tat nichts zu tun haben. Aber gerade deshalb muss immer wieder betont werden, dass es hier um das Leben von Kindern geht. Wir haben zwar bisher noch keine Hinweise, dass es sich um einen Serientäter handeln könnte, aber bei solchen Verbrechen ist das nie auszuschließen und je früher er gefasst wird, umso besser.“

„Vielen Dank für Ihre Erklärung, aber ich habe als Schulleiterin ebenfalls eine gewisse Erfahrung, und ich kann Ihnen garantieren, dass ich in so einem Fall ganz sicher nichts verschweigen würde“, sagte sie mit ihrem steinernen Gesicht, das den Chefinspektor, nicht zuletzt wegen der großflächig aufgetragenen Schminke, an eine Maske aus der griechischen Tragödie erinnerte.

Weininger gab sich geschlagen, in dieser Hinsicht war hier wohl nichts zu erfahren.

„Na gut“, bemerkte er mit einem deutlich hörbaren Ruck in der Stimme, „dann würde ich mich gerne mit den Lehrern unterhalten, die Jacqueline Zeiringer unterrichtet haben.“

„Natürlich“, erwiderte die Direktorin, offensichtlich bemüht, den Affront, den sich der Chefinspektor im vorangegangenen Dialog geleistet und der ihr feinfühliges Wesen nachhaltig erschüttert hatte, mit nunmehr wieder betont kultivierter, gefasster Miene zu überspielen, „die Klassenlehrerin von Jacqueline ist ……“, sie stutzte, gewahr werdend, dass sie nicht von einem herumtollenden Mädchen, sondern von einer Toten sprach, „…… war Frau Schwendner. Wenn es Ihnen recht ist, bitte ich sie zu uns, dann können Sie mit ihr sprechen.“

„Danke“, erwiderte Weininger, „ich würde allerdings gerne unter vier Augen mit ihr reden.“

Der stechende Blick, der den Chefinspektor jetzt traf, machte ihm klar, dass er nun bei Frau Direktor Küster wohl endgültig ausgespielt hatte.

„Selbstverständlich, kein Problem“, sagte sie mit Grabesstimme, „dann werde ich sie ins Konferenzzimmer bitten. Wie lange wird Ihre Befragung etwa dauern?“

„Das kann ich im Vorhinein nur schwer sagen“, meinte Weininger, „aber eine halbe Stunde dürfte es, schätze ich, schon werden.“

„Aha, dann muss ich mich in der Zwischenzeit in die Klasse setzen. Man kann die Kinder nicht so lange alleine lassen, das wäre unverantwortlich.“ Weininger akzeptierte den leicht vorwurfsvollen Ton ohne Kommentar und ließ sich brav den Gang hinunter führen. Er kam sich dabei vor wie ein bei etwas Verbotenem erwischter Schüler, der von der Frau Direktor eine ganz besondere Bestrafung zu erwarten hat. Nach etwa zwanzig Metern wies sie ihn in eine Türe, die offenbar ins Konferenzzimmer führte.

„Ich werde Frau Schwendner zu Ihnen schicken“, waren die kurz angebundenen Schlussworte der Direktorin. Als sie den Gang hinunterschritt zu der Klasse, der die tote Schülerin angehört hatte, schlugen ihre für ihr Alter etwas zu hohen Absätze auf dem nackten Steinboden auf wie kleine Vorschlaghämmer.

Etwa drei Minuten später – Chefinspektor Weininger hatte es sich auf einem der Stühle bequem gemacht – kam eine attraktive junge Frau zur Türe herein, die so gar nichts hausbacken Mütterliches an sich hatte, wie es bei einer Volksschullehrerin zu erwarten gewesen wäre.

„Guten Tag“, sagte sie so gemessen wie möglich, eine Ernsthaftigkeit, die im Übrigen gar nicht zu ihrem Äußeren passte, „mein Name ist Schwendner, ich habe gehört, Sie möchten im Zusammenhang mit dem Tod von Jacqueline Zeiringer mit mir sprechen.“

Weininger betrachtete sie einen Moment, während sie sich zu ihm setzte. Gesichtszüge von klassischem Gleichmaß waren bei ihr umrahmt von einer langen brünetten Haarmähne, die der Einfachheit halber zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Ihre Kleidung war sauber, aber schmucklos und ausschließlich vom Zweck her bestimmt. Für eine Frau eher untypisch, schien sie sich um die Wirkung, die sie auf ihre Umgebung ausübte, nicht zu kümmern. Alles in allem strahlte sie eine bemerkenswerte Natürlichkeit aus, der man sich nur schwer entziehen konnte.

„Ja, danke, dass Sie gekommen sind, ich hätte ein paar Fragen an Sie“, begann Weininger, „wie Sie wahrscheinlich wissen, sieht es so aus, als wäre Jacqueline Zeiringer Opfer eines Verbrechens geworden. In diesem Zusammenhang würde ich gerne wissen, was für ein Mädchen sie war.“

„Sie war sehr lebhaft, wenn es das ist, was Sie meinen“, antwortete Frau Schwendner, „aber auch ein für ihr Alter sehr intelligentes Mädchen. Wenn ich darüber nachdenke, ….. es ist so unaussprechlich furchtbar, wer kann so etwas nur tun?“

„Wir wissen es nicht“, erwiderte der Chefinspektor, „aber natürlich ist es für uns das vordringlichste Anliegen, es so schnell wie möglich herauszufinden.“

„Wissen Sie“, begann sie ohne Anstoß, „das Klima in der Klasse ist ganz anders geworden, seit Jacqueline tot ist. Die Kinder haben zwar gehört, was passiert ist, aber man merkt, dass sie es nicht richtig einordnen können. Bei manchen hat man den Eindruck, sie haben es gar nicht wahrgenommen, andere wieder sind vollkommen verstört. Momentan besteht mein Unterricht fast nur aus dem Versuch, darüber zu sprechen, immer wieder, damit sie das Geschehen verarbeiten können. Ich hätte nie geglaubt, dass sich alles von heute auf morgen so ändern kann.“ Einen Moment hatte Weininger Angst, sie würde jetzt gleich in Tränen ausbrechen, eine Situation, in der er sich nicht besonders wohl gefühlt hätte.

„Gibt es die Möglichkeit einer psychologischen Supervision?“, fragte er, vor allem in der Absicht, das Thema zu versachlichen.

„Ich weiß es nicht, zu mir ist jedenfalls niemand gekommen“, antwortete sie, und setzte sich dabei auf ihrem Sessel zurecht, offenbar im Bestreben, durch Straffung ihrer Haltung auch einer gewissen inneren Trostlosigkeit Herr zu werden.

„Sie werden verstehen“, begann der Chefinspektor wieder zu fragen, da er Frau Schwendners kleine Schwächephase für überwunden glaubte, „es ist mir wichtig, so viel wie möglich über das Umfeld der Toten zu erfahren, um dadurch Anhaltspunkte zu gewinnen, die uns in diesem Fall weiterbringen können.“

„Ja natürlich. Was genau wollen Sie noch wissen?“, fragte sie ohne äußere Regung.

„Alles, was Ihnen über das Mädchen bekannt ist. Mit wem war es befreundet? Hat es Abneigungen unter den Schülern gegeben, von denen Jacqueline betroffen war? Wie beurteilen Sie ihre Eltern?“ Frau Schwendner zögerte kurz, was dem Chefinspektor nicht entging.

„Ich erwarte mir dadurch nicht, unmittelbar auf den Täter zu treffen“, sagte er, „aber Polizeiarbeit ist Kleinarbeit. Aus einer Fülle von Mosaiksteinchen muss sich ein Bild entwickeln, in dem dann irgendwo vielleicht eine Spur verborgen liegt, die zum Täter führt. Mit meinen Fragen möchte ich zur Entwicklung dieses Bildes beitragen.“

„Wie gesagt, Jacqueline war ein sehr lebendiges Kind, das seinen eigenen Willen gehabt hat“, antwortete Frau Schwendner. „Sie war sicher nicht leicht zu erziehen, ist auch manchmal auf dumme Ideen gekommen.“

„Soll das heißen, dass man Jacqueline als schwer erziehbares Kind bezeichnen könnte?“, fragte Weininger.

„So weit würde ich nicht gehen“, sagte Frau Schwendner, „wie gesagt, sie war sehr lebhaft und nicht auf den Mund gefallen, aber sie hat ganz zweifellos zu den Besten in der Klasse gehört.“

„Wie hat sich die Lebhaftigkeit konkret bei ihr geäußert?“

„Wie sich so etwas eben äußert“, antwortete sie. „Gelegentlich hat sie getratscht, und hin und wieder sind von ihr Bemerkungen gekommen, die man einer Neunjährigen kaum zugetraut hätte, sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht. Aber solche Dinge passieren immer öfter in Zeiten, in denen sich Kinder in diesem Alter alle möglichen Videos reinziehen.“

„War sie bei ihren Mitschülern beliebt?“, fragte Weininger.

„Bei ihr war’s wie bei den meisten anderen auch. Mit manchen war sie dauernd zusammen, mit anderen kaum. Das hat aber auch hin und wieder gewechselt, wie es in diesem Alter eben so ist.

„Was haben die Lehrer von ihr gehalten?“

„Zunächst einmal bin ich diejenige, die am meisten mit ihr zu tun gehabt hat, und meine Einstellung kennen Sie ja“, erwiderte Frau Schwendner, „intelligente, begabte Kinder sind nicht die einfachsten, aber sie sind es wert, dass man sich intensiv mit ihnen beschäftigt. Die anderen Lehrer haben die Klasse nicht so oft unterrichtet, jeweils nur einmal in der Woche. Natürlich haben auch sie gemerkt, dass Jacqueline ein sehr lebhaftes Kind ist, aber es hat nie eine Beschwerde oder Ähnliches in diesem Zusammenhang gegeben.“

„Wie heißen die Lehrer, die sie noch unterrichtet haben?“, fragte Weininger.

„Die eine ist Frau Gold, die Werklehrerin, die andere, Frau Berghofer, unterrichtet die Klasse in Englisch“, antwortete sie, in der Hoffnung, dass die Befragung damit abgeschlossen war.

„Ein Anliegen hätte ich noch“, bemerkte der Chefinspektor, während er sie eindringlich ansah. „Ich stelle diese Frage jedem, weil ich glaube, dass wir nichts außer Acht lassen sollten. Hat es hier an der Schule schon einmal Belästigungen von Kindern oder sonstige Übergriffe, mögen sie sexueller Natur sein oder nicht, gegeben? Bitte bedenken Sie auch, dass es hier um den Mord an einem Mädchen geht. Ich glaube daher nicht, dass es richtig wäre, irgendjemanden zu decken.“

Frau Schwendner dachte nicht lange nach. „Ich bin erst etwas über zwei Jahre hier. Mit meiner jetzigen dritten Klasse habe ich seinerzeit in der ersten meine Laufbahn als Volksschullehrerin begonnen, und ich kann Ihnen versichern, seither hat es keinerlei Vorfälle dieser Art gegeben.“

Weininger glaubte ihr, ohne noch einmal nachzufragen.

Nach ein paar abschließenden Worten entließ er sie und sprach dann noch mit Frau Gold. Die Werklehrerein bestätigte im Wesentlichen Frau Schwendners Aussage. Neues erfuhr er von ihr nicht.

Da die Direktorin ihm mitteilte, dass Jacqueline Zeiringers Englischlehrerin heute nicht in der Schule war, verließ er das Gebäude kurz darauf durch den Haupteingang. Vor der Türe blieb er stehen und sah die Straße zum Lager hinunter. Dort stand eine Gruppe Schwarzer, die sich lebhaft unterhielten, zwischendurch schrien sie sich gegenseitig an, dann wieder war Gelächter hörbar.

‚Vielleicht bin ich da drinnen wirklich auf der falschen Fährte und hier draußen liegt die Lösung“, überlegte er und ging, da es Mittagszeit war, in die Imbissstube schräg gegenüber der Schule.

Flucht

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