Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 26

15:00 Uhr

Оглавление

Eine gute Stunde später wartete der Chefinspektor im Büro des Bürgermeisters. Es dauerte nicht lange, bis er vorgelassen wurde.

„Guten Tag, mein Lieber“, begrüßte ihn Rettenbacher mit dem freundlichsten Lächeln, das ihm zur Verfügung stand.

„Guten Tag, ich nehme an, Sie wissen, worum es sich handelt.“

Selbst mit seiner kompromisslosen Direktheit schaffte Weininger es nicht, das Lächeln auf Rettenbachers Gesichtszügen zu trüben.

„Ich denke, ich weiß, worauf Sie anspielen, Chefinspektor. Direktor Mattausch hat Sie zweifellos vom Gespräch, das er mit mir geführt hat, informiert. Ich glaube, mit der angepeilten Lösung können wir beide leben. Darüber hinaus möchte ich Sie bitten, ganz allgemein solchen Dingen nicht zu viel Wert beizumessen. Sollte ich mit meiner Kritik über das Ziel hinaus geschossen sein, stehe ich natürlich nicht an, mich zu entschuldigen. Vielleicht ist da manches etwas anders hinübergekommen, als es gemeint war.“

„Dann werden Sie sicherlich kein Problem haben, diese Entschuldigung morgen im Dreistättner Tagblatt abzudrucken“, erwiderte der Chefinspektor, während er mit weiter undurchdringlichem Gesichtsausdruck den Zettel mit dem im Polizeikommando verfassten Text aus seiner Jackentasche holte und ihn wortlos auf den Tisch legte.

„Natürlich, auch das habe ich schon mit Mattausch besprochen. Morgen wird in unserer Zeitung eine Klarstellung zum Artikel erscheinen, in der sämtliche Missverständnisse, die durch die eine oder andere Formulierung vielleicht entstehen könnten, restlos ausgeräumt werden.“ Während er den auf dem Tisch liegenden Zettel so gekonnt ignorierte wie Kellner französischer Restaurants die Zurufe von Gästen, änderte sich Rettenbachers Blick von übertrieben freundlich auf abwartend. Offenbar rechnete er selbst nicht mehr damit, Weininger so ohne weiteres überzeugen zu können.

„Was ich nicht ganz verstehe, Sie reden andauernd von Klarstellung. Klarzustellen gibt’s bei dem Artikel überhaupt nichts, er ist sogar besonders pointiert formuliert, finden Sie nicht?“, erwiderte der Chefinspektor.

„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …..“ Der Bürgermeister wirkte etwas betreten und schien nicht zu wissen, worauf sein Gegenüber hinaus wollte.

„Nun, wie gesagt, ich kann mit dem Begriff der Klarstellung nicht wirklich etwas anfangen. Was wollen Sie klarstellen? Dass Ihnen beim laufenden Interview plötzlich die Birne weich geworden ist?“, bemerkte Weininger ohne sichtbare Regung.

„Ich bin nicht sicher, ob wir auf diese Art weiterkommen …“, begann Rettenbacher, ehe der Chefinspektor ihm ins Wort fiel.

„Ja, ja, ich weiß schon, es ist ja alles abgesprochen. Aber soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Soll ich Ihnen verraten, wie sehr mir das am Arsch vorbei geht, was Sie und Mattausch ,abgesprochen‘ haben? Drucken Sie diesen Drecksmist doch auch noch in Ihrem Idiotenblatt, dann mach’ ich Sie fertig, und wenn es meine letzte Tat sein sollte, ich bring Sie zur Strecke. Ich schwör’ Ihnen, Sie sind die längste Zeit Bürgermeister gewesen.“

Er hielt inne. Ihm wurde auf einmal bewusst, was passiert war: Es war mit ihm durchgegangen. Wahrscheinlich war es die unappetitliche Freundlichkeit in der Art des Bürgermeisters gewesen, mit der er nicht umgehen konnte. In gewissem Sinne war er auf dessen Schleimspur ausgerutscht. Eine Sekunde lang hatte er so ein Gefühl, als ob heute alles passieren könnte, angefangen damit, dass er sich an diesem Arschloch, mit dem er sich hier abgeben musste, vergreifen könnte. Wer weiß, vielleicht würde er diesen Raum am Ende in Handschellen verlassen.

Er hätte wohl besser gar nicht kommen sollen, war zu geladen dafür. Wenn auch nicht klar war, wie das heute enden würde, wollte er dennoch erst einmal die Wirkung seiner Worte prüfen und sah sein Gegenüber an.

Seltsamer Weise hatte sich Rettenbacher seine Tirade weitgehend emotionslos angehört und stand jetzt etwas betreten da. Seinem Blick nach stufte er den Chefinspektor nach dieser Aussage als einen weitgehend unberechenbaren Faktor ein, der gefährlich werden konnte, wie ein Kojote, den man angeschossen, aber mit diesem Schuss dummer Weise nicht erledigt hatte. Plötzlich erkannte Weininger, dass ein Politiker nichts mehr fürchtet als den Blindwütigen, der ihn um jeden Preis untergehen sehen will, ohne jede Rücksichtnahme auf sein eigenes Schicksal. Er sah auf einmal die Chance, diese ,Macht des Wahnsinnigen‘ vielleicht zu seinem Vorteil nutzen zu können.

„Um es kurz zu machen: Sie lassen im Dreistättner Tagblatt morgen diese Entschuldigung abdrucken, in der Sie zugeben, dass die aufgestellten Behauptungen frei erfunden sind. Daneben wird eine Erklärung von mir eingeschaltet.“

„Lassen Sie sehen!“, erwiderte der Bürgermeister und nahm ihm den Zettel aus der Hand. Sein Gesicht, vom regelmäßigen Weinkonsum und dem Fehlen jeglicher sportlicher Betätigung ohnehin nicht gerade farblos, nahm eine umso intensivere Tönung an, je länger er den Blick auf das Blatt Papier richtete.

„Was sollte mich eigentlich dazu bringen, Ihrem Wunsch zu entsprechen? Glauben Sie, ich halte eine Klage nicht aus? Bei den paar belanglosen Bemerkungen, die in unserer Zeitung gestanden sind, kommt sowieso nichts dabei raus.“ Der Bürgermeister versuchte, mit seinen Worten so überzeugend wie möglich zu wirken. Ihm war aber anzusehen, dass er sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte.

„Möglich“, erwiderte Weininger, seine Karten in diesem Spiel aufs Neue austestend, „dann lassen wir es eben darauf ankommen.“ Er streckte die Hand aus, um den Zettel wieder einzustecken.

„Nicht so eilig!“ Rettenbacher ließ das Stück Papier in seinen Händen nicht los. „Ich bin sicher, wir können hier und jetzt zu einer Einigung kommen.“ Am Tonfall des Bürgermeisters war trotz seiner Abgebrühtheit eine Spur Nervosität zu erkennen. Von seinem Standpunkt schien er keineswegs überzeugt. Er musste von seinem Anwalt eine nicht allzu optimistische Auskunft in dieser Sache erhalten haben.

„Das liegt ausschließlich an Ihnen“, erwiderte der Chefinspektor mit unbewegter Miene, worauf Rettenbacher kurz nachdachte.

„Na gut“, bemerkte er schließlich.

Der Rest des Gesprächs bestand in der Änderung einzelner Formulierungen der Entschuldigung durch den Bürgermeister, der dabei um jede Wendung feilschte, aber immer dann nachgab, wenn die Stimmung durch die mangelnde Kompromissbereitschaft Weiningers zu kippen drohte. Dessen Bereitschaft, mit Rettenbacher einen Deal einzugehen, entsprach zwar in keiner Weise seiner gegenwärtigen Stimmung, er nahm es aber als eine Art Buße für die Unbeherrschtheit, die er sich kurz zuvor zu Schulden hatte kommen lassen.

Es war offensichtlich, dass Rettenbacher viel drum gab, die Sache so schnell wie möglich vom Tisch zu bekommen. Immerhin erreichte er mit seiner Taktik eine Formulierung, die zwar eindeutig war, die Schuld aber zwischen ihm selbst und der Zeitung aufteilte. Er versicherte, dass es mit dem Chefredakteur in dieser Hinsicht keinerlei Schwierigkeiten geben werde. Eine Einschätzung, der Weininger Vertrauen schenkte. Der gestrige Artikel hatte bewiesen, dass der Bürgermeister in dieser Zeitung verbreiten konnte, was er wollte.

Etwa zwei Stunden, nachdem er das Rathaus von Dreistätten betreten hatte, öffnete Weininger wieder die Tür und trat auf den Hauptplatz hinaus. Die kühle, fast schon frühwinterliche Luft stieg ihm erfrischend in die Nase. Trotz des unvorhergesehenen Verlaufs dieser Besprechung hatte er im Moment ein gutes Gefühl, was in letzter Zeit selten vorgekommen war. Wenn die ganze Sache auch im Grunde ein Sturm im Wasserglas war, so durfte er immerhin hoffen, dass die Ermittlungen in Zukunft etwas ruhiger ablaufen würden, denn noch so eine Blöße wie das Desaster des heutigen Tages würde Rettenbacher sich keinesfalls mehr geben.

Flucht

Подняться наверх