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Dienstag, 5. Oktober 17:55 Uhr

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Obike und Rasul befanden sich auf dem Heimweg und schlenderten am Rand von Dreistätten durch eine etwas vernachlässigt wirkende Gegend, die hauptsächlich aus Ein- und Mehrfamilienhäusern der Siebziger- und Achtzigerjahre bestand. Nur gelegentlich wurden die bebauten Grundstücke von kleinen, brachliegenden Grünflächen abgelöst. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen und tauchte die von Kastanienbäumen gesäumte Straße in ein nur unmerklich schwächer werdendes Halbdunkel, das sich, wie immer im Herbst, noch eine Zeit lang am Himmel hielt. Der Boden war bereits bedeckt von den ersten Kastanien und zwischen den dichten Ästen der Bäume verbarg sich noch eine Unzahl schon leicht aufgesprungener Früchte, alle dazu bestimmt, demnächst ihren Inhalt über die Straße zu ergießen.

Die beiden Afrikaner waren vor vier Wochen per Flugzeug aus dem Kongo gekommen, wo sie mit knapper Not der völlig zerrütteten Situation, die der Bürgerkrieg dort hinterlassen hat, entflohen waren. In Österreich angelangt, war es für sie nicht ganz einfach gewesen, die erste Hürde im Kampf gegen die unfreiwillige Heimkehr zu überstehen. Obwohl sie bei der Einvernahme am Flughafen anfangs nicht begriffen hatten, worum es überhaupt ging, wurden sie trotz illegaler Einreise nicht in Schubhaft genommen, vor allem, weil sie während des Verhörs begonnen hatten, ihre Verletzungen, die sie während des Bürgerkrieges in der Heimat davongetragen hatten, zu zeigen. Dies und der Hinweis auf das Land, von dem sie kamen, veranlassten die einvernehmenden Beamten schließlich, die unübersehbaren Anzeichen einer Asyl begründenden Verfolgung zu akzeptieren und die vorläufige Aufnahme im Flüchtlingslager Dreistätten zu veranlassen.

Im Lager selbst ging es ihnen für ihre Begriffe außerordentlich gut. Schon allein die Tatsache, dass es regelmäßig etwas zu essen gab, war eine Wohltat, die sie in ihrem bisherigen Leben noch nicht kennen gelernt hatten. Wahrscheinlich würde einem verwöhnten einheimischen Gaumen das Essen dort nur Mitleid erregende oder spöttische Bemerkungen entlocken. Für zwei Afrikaner allerdings, die seit frühester Jugend keine geordneten Verhältnisse, sondern nur das Elend ständigen Umherziehens kannten und in den schlimmsten Zeiten froh gewesen waren, wenn sie zwei Mal in der Woche etwas zu Essen bekamen, war es eine erwärmende Erfahrung.

Die beiden hatten sich vor etwa fünf Jahren kennen gelernt, als der schwelende Bürgerkrieg im Kongo wieder voll aufgeflammt war. Obike war es gelungen, mit seinen Eltern vor den unmittelbaren Kampfhandlungen in ein Flüchtlingssammellager irgendeiner Organisation zu fliehen, deren Namen er nicht mehr wusste. Dort hatten sie Rasul zu sich genommen, den der Krieg zum Waisen gemacht hatte. Es begann ein mehrere Jahre dauernder Spießrutenlauf der Familie, der zwei seiner Geschwister und seiner Mutter das Leben gekostet hatte, nicht direkt durch Kampfhandlungen, sondern durch Unterernährung und daraus entstandenen Krankheiten. Wer in diesem Krieg gegen wen kämpfte, hatten sie im Grunde nie verstanden. Mit fünfzehn waren sie von einer Rebellentruppe rekrutiert worden, die Soldaten aus ihnen machten. Von diesem bunt zusammen gewürfelten Haufen hatten sie nach einem knappen Jahr fliehen können und waren einem Aufruf der Regierung Joseph Kabila gefolgt, der jedem Nicht-Regierungs-Soldaten, der innerhalb einer bestimmten Frist seine Waffen bei den Behörden abgab, freies Geleit, Papiere und einen ganz brauchbaren Geldbetrag versprach. Mit dem freien Geleit und den Papieren klappte es, das Geld hatten sie allerdings nie gesehen, was sie – zwei zornige junge Männer – veranlasst hatte, sich in Michael-Kohlhaas-Manier vom Staat zu holen, was ihnen zugesagt worden war, sprich, in einem Amt in die Kasse zu greifen. Jemand hatte sie dabei zwar gesehen, sie konnten aber entkommen. Da sie Papiere hatten und das Geld reichte, waren sie, nach einer bangen Stunde am Flughafen, mit dem nächstbesten Flugzeug, das Richtung Europa ging, weggeflogen. Es hatte sie nach Österreich gebracht.

Ihre Probleme indes hatten sich mittlerweile verlagert. Das große Damoklesschwert, das jetzt über ihnen schwebte, war die Gefahr, wieder in ihre Heimat zurück befördert zu werden, wo es keine Arbeit gab, wo man jeden Tag überlegen musste, wie man zu etwas Essbarem kommen konnte, ohne jemanden zu überfallen und wo nie auszuschließen war, dass wieder eine der Kampfparteien Anspruch auf einen erhob und man – wenn es gut ging – vor die Wahl gestellt wurde, entweder sofort erschossen zu werden oder zu kämpfen, ohne zu wissen, wofür.

Die beiden Kongolesen waren jetzt sechzehn Jahre alt und entschlossen, alles dafür zu tun, um aus ihrem zu Hause aufgezwungenen Kreislauf des Dahinvegetierens und Tötens heraus zu einem geordneten Leben zu kommen, das zwar als Sehnsucht vor ihnen lag, das sie sich aber noch nicht einmal real vorstellen konnten.

„Die beiden Idioten müssen letzte Nacht wieder mit den anderen zusammengetroffen sein. Bis nach Mitternacht hat es sich auf dem Gang abgespielt, ich habe gedacht, jetzt schlagen sie sich endgültig die Schädel ein“, sagte Obike.

Die beiden Idioten, das waren zwei Ukrainer, die seit knapp einer Woche im selben Zimmer wie sie selbst schliefen, und ‚die anderen’ waren eine Gruppe von Tschetschenen, besser gesagt, deren männliche Vertreter, die seit eineinhalb Wochen im Lager einquartiert waren.

„Ich warte nur darauf, dass irgendwann einer von denen mit durchgeschnittener Kehle am Gang liegt.“ Die Antwort von Rasul war von keinerlei Mitgefühl gekennzeichnet. Diesen Luxus hatten sie sich in ihrem bisherigen Leben, das nur darauf ausgerichtet gewesen war, ihre Haut zu retten, nicht leisten können. Der Lärm und die Schreie der anderen Heiminsassen ließen etwas in ihren Köpfen auferstehen, das sie am liebsten schon lange begraben hätten, nämlich die Gespenster aus ihrer Soldatenzeit, als sie immer damit rechnen mussten, im Schlaf umgebracht zu werden. Überhaupt war es die Nacht, in der sie schutzlos waren gegenüber den Eitergeschwüren, die in ihrem Inneren arbeiteten. In der Nacht brachen sie auf und ließen die beiden gerade dem Kindesalter Entwachsenen nicht zur Ruhe kommen. Und die Schreie der Flüchtlinge im Lager bildeten den geeigneten Katalysator, um die Erinnerungen zum Fließen zu bringen, Erinnerungen, die sie ihr ganzes Leben begleiten würden. Seit sie angekommen waren, wurden sie psychologisch betreut, aber diese so genannte begleitende Kontrolle war ein einmal pro Woche stattfindendes Gespräch mit einem der Lagerpsychologen. Immerhin war es jedes Mal derselbe, die Fälle wurden unter den Betreuern nicht weiter gegeben. Bisher hatte er sie immer nur gefragt, wie es ihnen gehe, ob etwas nicht in Ordnung sei, wie sie schliefen, ob sie Angstgefühle hätten und ähnliches Zeug. Teilweise verstanden sie die Fragen nicht einmal. Ziemlich schnell hatten sie erkannt, dass sie ohnehin nicht viel sagen mussten, gelegentliches Kopfnicken und da und dort ein eingestreuter Satz, am besten nach einer Frage, bei der sie zu wissen glaubten, was ungefähr gemeint war, genügte vollauf. Diese halbe Stunde pro Woche gehörte eben dazu, wenn man hier bleiben wollte.

Sie bogen in eine Seitenstraße ein, die nach etwa zweihundert Metern auf die Zufahrtsstraße zum Lager traf. Von dort hatte man noch knapp dreihundert Meter zu gehen. Wie fast jeden Tag waren sie im Grunde recht ziellos im kleinen Stadtzentrum von Dreistätten umherspaziert, bis sie sich in einem Lebensmittelmarkt ein Getränk gekauft hatten, um es auf einer malerisch von der Nachmittagssonne beschienenen Bank zu leeren. Die fünfzig Euro Taschengeld, die ihnen als in die Bundesbetreuung aufgenommene Asylwerber zustanden, reichten gerade für derlei bescheidene Annehmlichkeiten.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Als Obike etwa fünfzig Meter vor dem Ende der Straße auf die linke Seite blickte, wo eine von der Straßenbeleuchtung nur unzureichend beschienene strauchbewachsene Grünfläche sichtbar wurde, sprang ihm ein heller Fleck ins Auge. Genauer besehen schien es etwas zu sein, das vom Gebüsch verborgen werden sollte, von dem aber ein Teil, wenn auch nur sehr klein und kaum zu erkennen, sichtbar war. Vielleicht war es die ungewollt reiche Erfahrung, die sich Obike seit seiner Zeit als Kindersoldat mit gewissen Dingen erworben hatte, aber beim Nähertreten wusste er trotz des Wenigen, das das Blattwerk freigab, sofort, was es war, auch wenn er sich weigerte, es zu glauben. Rasul folgte ihm zu der Stelle am Straßenrand, und als sie die Zweige beiseite bogen, wurde es Gewissheit. Im Gebüsch lag die Leiche eines kleinen Mädchens, das acht oder neun Jahre alt sein mochte. Bei diesem Anblick konnten beide nicht verhindern, dass die Erinnerungen an die vielen zum Teil verstümmelten Leichen, die sie in der kurzen Zeit ihres bisherigen Lebens schon gesehen hatten, wieder lebendig wurden. Aber dennoch sträubte sich etwas in ihnen gegen das, was sie sahen. Diese Dinge gehörten nicht hierher. Elend, Krieg, Kinder, die starben, das war zwar in dem Land, aus dem sie kamen, an der Tagesordnung, aber wie war es möglich, dass sie auch hier auf dieses Gesicht des Todes trafen? Sie brauchten beide ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was los war. Vor ihnen lag das Opfer eines Verbrechens.

„Verdammt, das haben wir gebraucht“, sagte Rasul zu seinem Freund, als ihm klar wurde, dass die Lage, in der sie sich befanden, nicht ganz einfach war.

„Ich glaube, man müsste es der Polizei melden“, erwiderte Obike, aber es klang nicht nach einer Selbstverständlichkeit, sondern wie eine etwas ungewöhnliche Vorschrift, die es in diesem Land, in dem sie sich jetzt befanden, gab.

„Und was passiert dann?“, fragte Rasul, „glaubst du, sie werden denken, wir haben was damit zu tun?“

Obike, dem so etwas bis dahin noch gar nicht in den Sinn gekommen war, begann zu überlegen. „Ich weiß es nicht“, antwortete er schließlich.

Plötzlich drehte sich Rasul nach mehreren Seiten um und flüsterte Obike zu: „Komm, verschwinden wir so schnell wie möglich, bevor uns jemand sieht. Am besten, wir waren gar nicht hier und haben von all dem nichts gesehen.“

Sie blickten sich um, sahen niemanden in unmittelbarer Umgebung und gingen so unauffällig wie möglich den Weg weiter bis zur Zufahrtsstraße zum Lager, die sie rechts hinunter bogen.

Als sie weg waren, versank der Platz, an dem das tote Mädchen lag, wieder in Schweigen. Erst nach etwa einer Minute wurde ein Rascheln hörbar. Jemand, der von den Afrikanern geweckt worden war, kam langsam aus seinem Unterschlupf, um nachzusehen, ob der Wortwechsel der beiden im Gebüsch eine bestimmte Ursache gehabt hatte. Als er den Grund der Unterhaltung erkannte, entfuhr ihm ein unterdrückter Laut und er benötigte einige Augenblicke, um das Gesehene zu verdauen. Sobald er die Fassung wiedergewonnen hatte, sammelte er so schnell wie möglich seine Habseligkeiten ein und ging schnurstracks Richtung Stadtzentrum.

Flucht

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