Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 23

Montag, 11. Oktober 07:20 Uhr

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…… konnten im Zusammenhang mit diesem Verbrechen Details in Erfahrung gebracht werden, die bezweifeln lassen, dass die Sicherheit der Bevölkerung bei unserer Polizei noch einen Stellenwert besitzt. Wie gestern Abend bekannt wurde, lagen dem mit den Ermittlungen befassten Polizeikommando Fürstenberg bereits unmittelbar nach der Tat konkrete Hinweise vor, wonach Insassen des Flüchtlingslagers Dreistätten mit dem Mord in Verbindung stehen. Aber obwohl die Zahl der Hintermänner und das Ausmaß der Verstrickungen weiterer Bewohner des Lagers noch nicht einmal ansatzweise untersucht wurden, hat es der Leiter der ermittelnden Behörde, Chefinspektor Weininger aus Fürstenberg, nicht für nötig gehalten, die Stadtgemeinde Dreistätten von der offensichtlichen und unmittelbaren Gefahr, die vom Lager ausgeht, zu informieren. Das Flüchtlingslager, das nun schon seit vielen Jahrzehnten seinen Schatten auf den Namen unserer schönen Gemeinde wirft, erweist sich immer wieder als Keimzelle der Kriminalität und es bedarf wohl keiner weiteren Begründung, dass die Behörden zur Bekämpfung der damit zusammenhängenden Bedrohungen die Pflicht haben, an einem Strang zu ziehen.

Als mir dieser Polizist in seinem selbstgerechten Ton mitteilte, dass er nicht daran denke, mir die notwendigen Informationen zukommen zu lassen, damit ich meiner Verantwortung für das Leben und die Sicherheit der Bevölkerung nachkommen kann, wusste ich, dass für ihn die Menschenleben in unserer Stadt keinerlei Bedeutung haben“, erzählt Bürgermeister Rettenbacher über seine Erfahrungen mit dem Fürstenberger Polizeichef und teilt weiter mit: „Wie die Ermittlungen in diesem Fall geführt werden, ist ein Skandal und ich werde diese Angelegenheit auch politisch zum Thema machen. Es geht nicht an, dass unfähige Polizeibeamte, nur weil sie Beziehungen haben, in Positionen gehievt werden, denen sie in keiner Weise gewachsen sind. In einem Kataster- oder Fundamt mag diese Art der Postenvergabe nur dumm und unproduktiv sein, bei der Polizei stellt so etwas aber eine Gefahr für die Allgemeinheit dar und muss deshalb mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden.“

„Sind die verrückt geworden?“, rief Margreiter, der den Artikel im Dreistättner Tagblatt vorgelesen hatte, „übrigens, nettes Foto von dir.“

„Das hat Rettenbacher mit der Bemerkung gemeint, dass er schon weiß, wie er mit Leuten wie mir fertig wird.“ Chefinspektor Weininger, den normalerweise wenig aus der Ruhe bringen konnte, wirkte einigermaßen niedergeschlagen.

„So ein idiotischer Artikel in diesem Provinzblatt hat doch überhaupt keine Bedeutung“, bemerkte Nicole, um ihn ein wenig aufzumuntern

Im Büro des Chefinspektors begann das Telefon zu läuten, obwohl es noch nicht einmal halb acht war.

„Schwer zu erraten, wer das ist.“ Weininger ging hinein, um den Hörer abzuheben.

„Guten Morgen!“, schrillte es ihm entgegen, „Haben Sie heute zufällig schon das Dreistättner Tagblatt gelesen?“ Der Chefinspektor hatte sich nicht getäuscht, es war Landessicherheitsdirektor Mattausch.

„Ja, …. Guten Morgen“, erwiderte Weininger, etwas verwirrt von der überfallsartigen Einleitung, „nette Typen, diese Dreistättner, da arbeitet man auf Hochtouren und hat gerade einmal zwei Tage nach dem Mord schon zwei Verdächtige verhaftet, und das ist dann deren Art, Danke zu sagen.“

„Eines gleich am Anfang ……“

Wie immer, wenn er sich ärgerte, sprach Mattausch in seinem kurz angebundenen, übertrieben sachlichen Ton, bei dem man nie wusste, was einen als nächstes erwartete.

„Auch wenn Sie es vielleicht nicht glauben werden, aber ich stehe in dieser Sache voll und ganz hinter Ihnen. Dieser Artikel ist so polemisch und an den Haaren herbeigezogen, dass man ihn nicht ernst nehmen kann. Ich fürchte nur, die Bevölkerung von Dreistätten wird da anders denken.“

Weininger war einigermaßen überrascht von dieser Rückenstärkung, mit der er nicht gerechnet hatte.

„Polemisch und an den Haaren herbeigezogen ist ja noch recht nett gesagt“, erwiderte er, „was Rettenbacher da verbreitet, ist glatter Rufmord. Einzige die Tatsache, dass dieses Käseblatt ohnehin fast nur zum Einwickeln von Wurstsemmeln verwendet wird, relativiert das Ganze ein wenig. Aber ich muss auf jeden Fall etwas unternehmen. Das kann so nicht unwidersprochen stehen bleiben.“

„Sie haben natürlich recht, es ist mehr als problematisch, was in diesem Artikel alles behauptet wird“, bestätigte Mattausch und klang ein wenig erleichtert darüber, dass der Chefinspektor seinen Humor nicht verloren hatte, „aber gerade in solchen Mediendingen muss man sich mehrmals überlegen, welche Schritte da wirklich zum Ziel führen. Weniger ist oft mehr. Wenn man zu verbissen an die Sache herangeht, wirbelt man dadurch oft nur noch mehr Staub auf.“

„Ich werde mir jedenfalls etwas überlegen“, erwiderte Weininger, „im Grunde geht es nur um die Frage, ob ich Rettenbacher selbst zur Verantwortung ziehe oder die Zeitung, die diese Aussagen druckt. Irgendwie werde ich jedenfalls etwas gegen diese Behauptungen tun.“

„Wenn Sie etwas unternehmen, informieren Sie mich bitte vorher“, erwiderte Mattausch, „und jetzt sagen Sie mir so genau wie möglich, was zwischen Ihnen und dem Bürgermeister vorgefallen ist. Wie kommt er auf die Idee, so etwas zu behaupten?“

„Es ist absolut nichts vorgefallen“, antwortete Weininger, „jedenfalls nichts, was es nicht schon öfter gegeben hätte. Er hat mich unter Druck gesetzt und wollte mich dazu bringen, seinen Zuträger zu spielen, wenn wir erste Ergebnisse haben. Wie ich auf so etwas reagiere, wissen Sie ja. Als er dann von der Verhaftung der beiden Afrikaner gehört hat, hat er angerufen und ist ausgerastet, weil er von mir nichts erfahren hat. Dabei hat er auch gedroht, dass er mir schon zeigen wird, was er mit Leuten wie mir macht. Der Zeitungsartikel ist offenbar das Ergebnis.“

„Und hätten Sie ihm nicht irgendwas sagen können“, meinte Mattausch, „nur um ihn ruhig zu stellen?“

„Wenn ich Rettenbacher irgendetwas sage, weiß es eine Viertelstunde später ganz Dreistätten und Umgebung“, antwortete Weininger mit Nachdruck, „dann können wir unsere Ermittlungen hier gleich beenden.“

„Na gut“, bemerkte Mattausch, „ich muss jetzt Rettenbacher anrufen, ich wollte die Hintergründe kennen, bevor ich mit ihm rede. Er wird sich wundern, dass die politische Karte diesmal nicht sticht und sicher an geeigneter Stelle gegen mich zu Felde ziehen. Aber das ist mein Problem. Wir werden ja sehen, wie dieses Kräftemessen ausgeht. Mit seinem Artikel hat er jedenfalls eine Aktion gesetzt, die nicht bei allen auf Verständnis stoßen wird. Vielleicht ist das ja ein gewisser Vorteil für mich.“

Seine Stimme wirkte nicht besonders zuversichtlich. Weininger wusste, dass Rettenbacher wesentlich bessere Kontakte zur Parteispitze hatte als Mattausch. Er hoffte nur, dass dieser, wenn es hart auf hart gehen sollte, nicht umfallen würde.

„Na dann, alles Gute. Und bitte keine faulen Kompromisse, was mich anbelangt. Ich bin es, der angegriffen wurde und deshalb werde auch ich entscheiden, wie ich auf diesen ganzen Mist antworte.“

„Auf Wiedersehen!“, erwiderte Mattausch und legte ohne ein weiteres Wort den Hörer auf, so als könne er dem zuletzt Gesagten, das seine Chancen auf einen Kompromiss mit Rettenbacher einschränkte, dadurch seine Wirkung nehmen, dass er einfach nicht darauf reagierte.

Der Chefinspektor wandte sich wieder an seine unmittelbaren Mitarbeiter.

„Ich würde sagen, die Party ist zu Ende und wir gehen wieder an die Arbeit“, bemerkte er mit etwas entspannterem Gesichtsausdruck als noch kurz zuvor.

„Du hast mir noch nicht erzählt, was gestern im Lager herausgekommen ist“, wandte er sich an Viktor.

„Na ja, auf der einen Seite ganz interessante Dinge, an harten Fakten aber so gut wie nichts.“ Er erzählte über sein Gespräch mit Levon und dessen Meinung über Rasul und Obike. Schließlich erwähnte er auch die beiden Ukrainer, die voraussichtlich irgendwann im Lauf des Tages zu verhören sein würden.

„Dann musst du also heute noch einmal hin?“, fragte Weininger.

„Ja, ich glaube, wir sollten die beiden unbedingt vernehmen“, meinte Viktor, „auch wenn der Armenier gemeint hat, sie wissen nichts. Schon der Vollständigkeit halber. Vielleicht geben sie uns irgendeinen Hinweis oder wir gewinnen sonst einen Ansatzpunkt, der uns weiterbringt.“

„Ja sicher, warum nicht?“, bestätigte der Chefinspektor, dem der kritische Blick Margreiters, aus dem die Skepsis herauszulesen war, nicht entging.

„Der Ortsaugenschein, den wir gestern mit den beiden Afrikanern durchgeführt haben, hat nichts Neues ergeben“, informierte Weininger jetzt umgekehrt Viktor. „Ihre Aussagen haben sich nicht wesentlich widersprochen. Im Grunde läuft’s darauf hinaus, dass beide Varianten, also die, wonach das Mädchen schon tot war, und die, dass sie die Mörder sind, mit den vorhandenen Indizien in Einklang zu bringen sind. Das Problem ist nur, dass es absolut nichts Objektives gibt, das auf einen möglichen anderen Täter hinweist. Ich muss sie in jedem Fall heute in Untersuchungshaft überstellen.“

„Und glaubst du, das, was wir haben, reicht für eine Verurteilung?“, fragte Viktor.

„Diese Frage habe ich mir früher immer gestellt“, antwortete Weininger, „inzwischen weiß ich, dass das nur sehr schwer vorhersehbar ist. Es spielen zu viele Umstände mit.“

„Also ich würde meinen, die Chancen stehen etwas mehr als fünfzig Prozent für eine Verurteilung.“, bemerkte Margreiter, den die Antwort des Chefinspektors offensichtlich nicht befriedigte. „Übrigens, Viktor weiß noch gar nichts vom Ergebnis der Spurenauswertung. Die Schuhsohlenabdrucke, die in der Umgebung der Leiche gefunden wurden, stammen von den beiden Verdächtigen. Es gibt zwar noch andere, sehr undeutliche, die wahrscheinlich nichts mit dem Mord zu tun haben, aber damit haben wir wieder ein eindeutiges Indiz zur Unterstützung der Anklage.“

„Was soll das unterstützen?“, fragte Viktor, „Dass sie dort waren, haben sie ja zugegeben. Merkwürdig wäre es nur gewesen, wenn sie keine Sohlenabdrucke hinterlassen hätten. Eigentlich, wenn ich darüber nachdenke, unterstützt das ihre Aussage. Wenn sie einen geplanten Mord begangen hätten, wären sie sicher so schlau gewesen, die Spuren zu beseitigen, was ja nicht besonders schwer ist. Im Grunde entspricht es aber genau dem, was sie gesagt haben. Ihnen ist spontan in den Sinn gekommen, sich einfach davon zu schleichen, so als wären sie niemals dort gewesen. Da haben sie natürlich auch nicht an irgendwelche Spuren gedacht, sie hatten ja nichts getan.“

„Eine eigenartige Sicht der Dinge“, entgegnete Margreiter, „dass sie dort waren, haben sie erst unter dem Druck der Aussage des Landstreichers zugegeben. Geht man aber davon aus, dass sie den Mord begangen haben, war es schon ein schwerer Fehler, dass sie nicht geprüft haben, ob es Augenzeugen gibt. Daneben wirkt das Versehen, die Fußspuren nicht beseitigt zu haben, geradezu geringfügig.“

„Ihr habt Recht“, mischte sich Weininger ein, „je nachdem, von welchem Standpunkt man es sieht, es stimmt immer alles zusammen. Waren sie es nicht, hatten sie keine Veranlassung, die Spuren zu beseitigen, waren sie es, bestätigen die Spuren ihre amateurhafte Vorgangsweise, die sie auch durch andere Fehler bewiesen haben. Ein netter Fall, die Entscheidung zwischen schuldig und nicht schuldig ist wie die Wahl zwischen Kaffee oder Tee. Aber egal, wie man es dreht und wendet, in einem hat Viktor Recht. Es fehlt etwas, und das kann man nicht so einfach herbeireden, nämlich das Motiv.“

„Was heißt herbeireden?“, wehrte sich Margreiter. „Ich hab’ nichts herbeigeredet. Alles, was ich gesagt habe, ergibt sich aus den Indizien. Und mit dem Motiv ist es bei zwei Killern, die schon jede Menge Leute in ihrem Leben vergewaltigt und umgebracht haben, auch nicht allzu weit her. Vielleicht ist ihnen einfach das Töten abgegangen.“

„Siehst du“, entgegnete der Chefinspektor, „genau das habe ich gemeint. So leicht sollten wir es uns beim Motiv nicht machen.“

In diesem Moment läutete das Telefon auf Viktors Schreibtisch. Nicole, die direkt daneben stand, hob ab.

„Für dich“, sagte sie zu Viktor, „das Lager.“

Er nahm den Hörer, murmelte nur ein paar Worte, aus denen ‚ja‘ und ‚Danke schön‘ hervorstachen, um, nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hatte, seine Jacke von der Garderobe zu nehmen.

„Sie haben die beiden Ukrainer nach dem Frühstück abgepasst und für die Vernehmung festgehalten. Da sie nicht besonders gut Englisch können, hat die Lagerleitung auch gleich einen Dolmetsch beigestellt“, sagte er, „ich werde mich am besten gleich auf die Socken machen.“

Eine halbe Minute später war er bei der Tür draußen.

„Glaubst du wirklich, diese Nachforschungen im Lager haben einen Sinn?“, fragte Margreiter.

„Ehrlich gesagt, sehe ich momentan nicht, wie wir weiterkommen sollen“, bemerkte der Chefinspektor, „wir haben die eine Spur, unsere Afrikaner, aber sie endet im Ungewissen. Vielleicht sind die Ideen von Viktor da gar nicht so schlecht. Immerhin vernimmt er Leute, die etwas über die Verdächtigen sagen können. Vielleicht kommt dabei irgendwas raus. Es könnte ja sein, dass wir Glück haben.“

Flucht

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