Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 6

18:50 Uhr

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Gerade als Chefinspektor Weininger in seine Übergangsjacke schlüpfen wollte, um sich in den wohlverdienten Feierabend zu begeben, begann sein Handy, Töne von sich zu geben. Es waren die ersten Takte der g-Moll-Symphonie von Mozart, eine Melodie, die er irgendwann beim Herumprobieren eingestellt hatte. Mittlerweile wusste er nicht mehr, wie der Klingelton zu ändern war, weshalb er sich wohl oder übel an die auf die Dauer sehr penetrante Tonfolge gewöhnen musste. Er zögerte kurz, während er in Sekundenschnelle die Geruhsamkeit eines gemütlichen Tagesausklangs dahinschwinden sah. Schließlich gewann aber, wie immer in solchen Situationen, das Pflichtgefühl die Oberhand und er drückte auf den Verbindungsknopf.

„Weininger!“, schleuderte er ob der späten Stunde etwas forscher als üblich in den Äther.

Es war Revierinspektor Schinnerer vom Polizeiposten Dreistätten, der keine guten Nachrichten hatte. Ein Landstreicher hatte ein totes Mädchen gefunden, ziemlich sicher ein Verbrechen, möglicherweise sexuell motiviert. Für Schinnerer war die Sache jedenfalls eine Nummer zu groß, was bedeutete, dass der Chefinspektor, wie befürchtet, sich ab sofort über seine Abendbeschäftigung keine Gedanken mehr zu machen brauchte. Er fragte nach dem Fundort. Wie sich herausstellte, war die Leiche in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingslagers entdeckt worden. Nach einem knappen „Ich komme, so schnell ich kann“, beendete er das Gespräch, um gleich darauf die Verbindung mit Revierinspektor Margreiter, seinem dienstältesten Kollegen im Polizeikommando Fürstenberg, herzustellen.

„Hallo, hier ist Weininger.“ Er meldete sich nie mit seinem Vornamen, obwohl er mit allen in der Abteilung das Du-Wort pflegte. „Schlechte Nachrichten, in Dreistätten haben sie eine Mädchenleiche gefunden, in der Hiblerstraße, gleich hinter dem Lager. Komm so schnell wie möglich hin und bring, wenn möglich auch Nicole und Viktor mit. Schließlich werden wir ja alle mit den Ermittlungen zu tun haben.“

„Ein totes Mädchen?“, erwiderte Margreiter überrascht, „Ist schon Näheres über die Umstände bekannt? Ich kann mich gar nicht erinnern, dass es so was bei uns schon einmal gegeben hat.“

„Ich weiß selbst noch so gut wie nichts“, antwortete der Chefinspektor, „Schinnerer hat irgendwas von ‚möglicherweise sexuell motiviert’ gesagt, aber in so einem Fall liegt man mit dieser Vermutung wohl selten daneben.“

„Na gut“, bemerkte Margreiter, „ich versuch’, hier so schnell wie möglich wegzukommen, es wird aber eine halbe Stunde dauern. Dann bis gleich.“

Der Chefinspektor interessierte sich nicht für den Grund, der seinen jüngeren Kollegen daran hinderte, sofort zu kommen. Gelegentlich waren zwar Geschichten von seinem etwas turbulenten Privatleben zu hören, er hatte es aber immer vermieden, ihn darauf anzusprechen. Wichtig für ihn war, zu wissen, dass er sich jederzeit auf Margreiter verlassen konnte.

Weininger leitete die Kriminalabteilung des Bezirkspolizeikommandos Fürstenberg jetzt schon fast fünfzehn Jahre lang und kannte jeden Winkel seiner Arbeit mittlerweile so gut, dass es Momente gab, in denen seine Routine ihn selbst fast beängstigte. Der Bezirk Fürstenberg war allerdings auch nicht der Ort, der ständig neue Herausforderungen an die kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit stellte. Das Gros der Fälle, die über Weiningers Schreibtisch wanderten, bestand in Kleinkriminalität, von denen vor allem die Zahl der Drogendelikte hervorstach, eine Tatsache, die vielfach in Zusammenhang mit der räumlichen Nähe zu eben dem Flüchtlingslager gebracht wurde, in dessen Umgebung man das tote Mädchen gefunden hatte. Daneben stieg in letzter Zeit auch die Zahl der Wirtschaftsdelikte an, was wiederum als Ausfluss der schlechten Konjunktur der vergangenen Jahre gesehen wurde. Weininger gab auf derartige Analysen nicht allzu viel, sondern beschränkte sich darauf, seine Arbeit so gut wie möglich zu erledigen.

Er war vor fünfundzwanzig Jahren in den Dienst der Polizei eingetreten, nachdem er, solange er denken konnte, nie etwas anderes werden wollte als Polizist. Seine Eltern waren Arbeiter in einer Textilfabrik gewesen und noch heute sah er ihr stolzes Gesicht vor sich, als sie erfahren hatten, dass ihr Sohn die Aufnahmeprüfung für die Polizeischule geschafft hatte. Ihre Unterstützung und ihr Vertrauen waren ihm auch später noch Motivation und Antriebsfeder gewesen, die seine Einstellung zur Arbeit bestimmt hatten, auch dann noch, als sie längst nicht mehr lebten. An seiner kompromisslosen Haltung, was die Arbeit betraf, war allerdings auch die einzige ernsthafte Liebe in seinem Leben gescheitert. Er wollte damals noch nicht heiraten, sie schon. Was weiter geschah, entbehrte nicht einer gewissen Folgerichtigkeit: Sie heiratete einen anderen. Weininger hatte nie ganz verwunden, wie die Dinge damals gelaufen waren. Anfangs war er es gewesen, der sich als Betrogener gefühlt hatte. Später allerdings war er sich nach und nach seines eigenen Anteiles am Zerplatzen der damaligen Träume bewusst geworden. Die kompromisslose Sturheit, mit der er über vielleicht berechtigte Wünsche hinweggegangen war, hatte sich im langsamen Prozess dieser Erkenntnis immer schmerzlicher in sein Bewusstsein gebrannt. Doch späte Reue hat in der Liebe keinen Stellenwert. Was vorbei ist, ist vorbei. Mittlerweile war eine mehr oder weniger dicke Vernarbung über die Wunden dieses Lebensabschnittes gewachsen. Dass nicht alle in diesem Zusammenhang entstandenen Verletzungen völlig spurlos verheilt waren, zeigte sich allerdings noch heute. Immer dann, wenn jemand sein Verhältnis zu Frauen ansprach, es konnte auch eine bestimmte Frau gemeint sein, wurde Weininger seltsam. Bei solchen Gelegenheiten, wie harmlos die Bemerkung auch sein mochte, war er außerstande, ebenso harmlos zu reagieren. Alles, was er dann heraus brachte, war ein unvermitteltes „Lassen wir das“ und es kam vor, dass er seinen Gesprächspartner, wollte dieser am Gegenstand festhalten, einfach stehen ließ. Diese etwas linkisch wirkende Eigenschaft hatte verhindert, dass er seit dem emotionalen Desaster seiner ersten und einzigen Liebe auch nur in die Nähe einer neuerlichen Beziehung zu einer Frau gelangt war. Außerdem stand er durch diese merkwürdige Eigenart da und dort im Ruf eines Frauenhassers. Manche hatten sogar den Verdacht, er wäre vom anderen Ufer. Doch sowohl das eine als auch das andere war Unsinn. Alles, was dahinter stand, war ein Ort in seinem Herzen, den er nicht mehr betreten wollte. Wenn aber ein anderer ihn in dessen Nähe drängte, wusste er nichts anderes, als sich zu wehren.

Was den Dienst anlangte, ließ Weininger keine halben Sachen zu. Eine Marscherleichterung hatte er sich im Laufe der Jahre allerdings angewöhnt. Die tägliche Knochenarbeit, also die Durchführung von Vernehmungen, das Verfassen von Berichten und der ganze Kleinkram, der den Großteil der Arbeit einer Kriminalabteilung ausmachte, waren seit einiger Zeit auf seine drei Mitarbeiter aufgeteilt. Er selbst trat vor allem dann in Aktion, wenn es sich um besonders wichtige Angelegenheiten handelte. Mit zunehmendem Alter – er stand jetzt immerhin zwei Jahre vor seinem Fünfzigsten – stiegen die Ansprüche an die Fälle, die er sich selbst vorbehielt, allerdings stetig, was sein Arbeitspensum im selben Maß reduzierte. Nicht zuletzt lag das am uneingeschränkten Vertrauen, das er seinen Mitarbeitern entgegenbrachte.

Margreiter beispielsweise war schon über acht Jahre in Weiningers Abteilung. Er hatte im Polizeiposten Bad Schönau, etwa zehn Kilometer von Fürstenberg entfernt, angefangen, wo ihm aber recht bald klar geworden war, dass ihn, den die Lust am Abenteuer zur Polizei getrieben hatte, wohl nur die kriminalpolizeiliche Tätigkeit befriedigen konnte. Deshalb hatte er sich, als er noch Streifenpolizist gewesen war, für die kriminalistische Ausbildung gemeldet. Nach deren erfolgreichem Abschluss war er nach Fürstenberg versetzt worden. Wenn sich auch entgegen seinen Erwartungen die Arbeit nicht als permanente Abfolge von Sondereinsätzen a là „James Bond“ oder „Kobra übernehmen Sie“ herausgestellt hatte, so war Margreiter im Lauf der Zeit doch immer mehr hineingewachsen und mit zunehmender Verantwortung hatte er auch Interessen und Talente an sich entdeckt, die über die pure Lust am Nervenkitzel weit hinausgingen. Auf diese Weise war mittlerweile ein umsichtiger und gewissenhafter Ermittler aus ihm geworden, der bei seinen Untersuchungen keine noch so vage Möglichkeit ausließ. Zudem besaß er die Kombinationsgabe, aus dem zusammengetragenen Material die richtigen Schlüsse zu ziehen, wenn auch seinem Temperament entsprechend manchmal etwas zu voreilig und ungestüm. Mit dieser Eigenschaft war er gerade bei Weininger gut aufgehoben, der mit seiner gesetzten Art immer wieder dafür sorgte, dass er nicht über das Ziel hinaus schoss.

In seiner Freizeit ließ Margreiter allerdings keine Möglichkeit aus, seine Vorliebe für Gefahr und Abenteuer auszuleben. Fast an jedem Wochenende frönte er seinem Lieblingshobby, der Abrichtung von Hunden. Dabei hatte er den größten Spaß, wenn er richtige Kampfmaschinen vorgesetzt bekam, die ihm alles abverlangten. Dieses Vergnügen wurde nicht einmal durch die Spötteleien der Kollegen getrübt, die am Montag nach einem solchen Ereignis fast automatisch folgten, wenn sein Gesicht wieder einmal an einen persischen Kämpfer nach der Schlacht bei Issos erinnerte.

Schließlich waren da noch Nicole Hofmüller, Tochter des Konditors Hofmüller aus Fürstenberg, und Viktor, der jüngste. Nicole war seinerzeit durch mehrere Interventionen ihres bis in höchste städtische Kreise geschätzten Vaters in die Kriminalabteilung gelangt, hatte sich aber in ihrer mittlerweile fast zweijährigen Tätigkeit den Ruf einer quirligen Mitarbeiterin mit beachtlichem Einfühlungsvermögen erworben, das sich schon in einigen Fällen als wichtig für die Ermittlungen erwiesen hatte. Außerdem war mit ihrer Herkunft ein unbestreitbarer Vorteil verbunden. Mindestens einmal pro Woche wurde die Amtsstube mit ausgesuchten Gaumenfreuden aus dem väterlichen Betrieb versorgt, eine Tatsache, die Nicole mittlerweile für das ganze Polizeirevier unersetzlich machte.

Viktor war erst seit vier Monaten dabei. Anfangs war sich Weininger nicht sicher gewesen, ob er mit seiner ruhigen, unauffälligen Art ins Team passte. Er hatte immer etwas misstrauisch zugehört, wenn Margreiter, der die Einschulung übernommen hatte, hauptsächlich Gutes von ihm zu berichten wusste. Der einzige Punkt, über den sich Margreiter gelegentlich auch kritisch geäußert hatte, war eine gewisse Eigenwilligkeit, die in regelmäßigen Abständen zu, wie Margreiter es ausgedrückt hatte, unnötigen Diskussionen über klare Angelegenheiten führte. Über diese Kritik war der Chefinspektor fast noch überraschter gewesen als über das Lob. Inzwischen war aber auch ihm schon bei mehreren Gelegenheiten aufgefallen, dass Viktor ein außerordentlich tiefer und eigenständiger Denker war. Anders als die meisten Menschen hatte er allerdings die Gewohnheit, bestenfalls einen Bruchteil dessen, was sich in seinem Kopf abspielte, nach außen dringen zu lassen. In seiner ernsthaften Einstellung zur Arbeit erinnerte er Weininger manchmal sogar ein wenig an sich selbst, da auch bei ihm Pflichtbewusstsein immer an erster Stelle gestanden war.

Als der Chefinspektor jetzt den Ort erreichte, an dem der Landstreicher die Leiche gefunden hatte, war bereits ein beachtliches Polizeiaufgebot am Werk. Rund um die provisorische Absperrung stand eine Gruppe Schaulustiger, die jede Handlung der Polizisten mit offensichtlicher Spannung verfolgten und dabei immer wieder das bewegungslos daliegende Kind im Auge behielten, das unter einem sorgfältig zur Seite gebogenen Busch lag. Durch die Scheinwerfer, die zur Beleuchtung an mehreren Stellen aufgestellt waren, hatte die Szenerie etwas Unwirkliches. Sie ließ an die Betriebsamkeit eines Filmsets denken, in dem jeder Beteiligte vor und hinter der Kamera um seine Rolle genau Bescheid wusste. Sogar die Leblosigkeit des Mädchens wirkte irreal. Man hatte das Gefühl, es könnte jeden Moment aufstehen und fragen, was all die Leute hier wollten.

Ohne sich um die Zuschauer zu kümmern, ging der Chefinspektor durch die Absperrung und sah sich zunächst den Fundort aus einigen Metern Entfernung an, um einen Gesamteindruck zu gewinnen.

„Von hier sind’s nur ein paar hundert Meter zum Lager“, sagte er nach einer Weile zu Schinnerer, der ihn angerufen hatte und plötzlich ein paar Meter neben ihm auftauchte, „ich hoffe nur, wir erwischen ihn bald, sonst seh’ ich schlechte Zeiten auf uns zukommen.“

Der Kommandant des Polizeipostens Dreistätten, ein mittelgroßer, drahtiger Mann mittleren Alters, wusste, was Weininger meinte und sah mit trübem Blick in die Richtung des die Umgebung dominierenden Gebäudes im klassizistischen Stil, das zwischen zwei von ungezähmt wuchernden Ligustersträuchern umgebenen Einfamilienhäusern in der Dunkelheit hindurchschimmerte.

„Wie lange ist sie schon tot?“, fragte Weininger mit gehobener Stimme, um sich selbst aufzuraffen und seine Arbeit zu beginnen.

„Steht noch nicht fest“, antwortete Schinnerer, „die Ärztin hat sie sich nur kurz angesehen und gesagt, dass es noch nicht lang her sein kann. Genaueres kann sie erst nach der Obduktion sagen.“

„Weiß man schon, wer sie ist?“, fragte der Chefinspektor weiter.

„Heute kurz bevor wir hergekommen sind, ist eine Vermisstenmeldung bei uns eingegangen“, antwortete Schinnerer, „ein junges Ehepaar, genauer gesagt der Vater, hat angerufen und gesagt, dass seine achtjährige Tochter noch nicht von der Tagesmutter nach Hause gekommen ist. Sie war schon fast eine Stunde über der Zeit. Er hat dann betont, nichts dramatisieren zu wollen, aber bisher habe sie das noch nie gemacht. Also, ich bin schon lang Polizist und verlier nicht so leicht die Fassung, aber in diesem Moment hab’ ich wirklich nicht gewusst, was ich sagen soll. Ein Mädchenmord wird gemeldet und kurz darauf hab ich den mutmaßlichen Vater dran, der die Vermisstenmeldung abgibt. Ich hab’ nur die Beschreibung aufgenommen und dann noch gesagt, sie sollen sich keine Sorgen machen, wir melden uns, wenn wir was wissen. Nun, was soll ich sagen, die Beschreibung, die mir der Vater gegeben hat, hat in allen Einzelheiten mit der Leiche zusammengepasst. Einer meiner Streifenpolizisten ist gerade bei den Eltern. Hundertprozentig sicher werden wir aber erst sein, wenn sie identifiziert ist.“

„Hat die Ärztin schon eine Vermutung wegen der Todesursache?“

„Da sie Blutergüsse am Hals bemerkt hat, hat sie auf Erwürgen getippt, war sich aber nicht sicher. Auch die Frage eines sexuellen Missbrauchs ist noch nicht geklärt. Die Kleine war angezogen, als wir sie gefunden haben.“

„Dass es dazu schon etwas gibt, hab ich nicht erwartet“, sagte der Chefinspektor und ging jetzt zum leblosen kleinen Körper, der inmitten all der aufgeregten Bewegung ruhig dalag.

„Ist an der Lage schon irgendwas verändert worden?“, fragte er, wohl wissend, dass bis zu seinem Eintreffen noch keinerlei Sicherungsmaßnahmen am Tatort durchgeführt werden durften, sofern es sich nicht um Notfallmaßnahmen handelte. Aber ihm war in den fast dreißig Jahren, die er bei der Polizei war, schon so viel untergekommen, dass er sich angewöhnt hatte, diese Frage zu stellen.

„Nein, meine Leute haben nur das Buschwerk bearbeitet, um die Leiche freizulegen, und die Ärztin hat ihre obligatorische Untersuchung durchgeführt, dabei aber nichts verändert“, erklärte Schinnerer.

Der Chefinspektor sah sich die Leiche genau an. Am Hals bemerkte er die Spuren, von denen Schinnerer gesprochen hatte, mehrere deutlich erkennbare Blutergüsse, und kam ebenfalls zum Ergebnis, dass es sich dabei wohl um die tödlichen Würgemale handeln dürfte. Die interessanteste Erkenntnis dieses Augenscheins am Tatort aber war für ihn, dass der Körper im Übrigen völlig unversehrt schien und gänzlich bekleidet war. Außer den auf den ersten Blick kaum auffälligen Würgemalen waren weder Verletzungen noch Beschädigungen an den Kleidungsstücken erkennbar. Das tote Mädchen trug einen Jeansrock mit weißer Bluse, darüber eine braune Jacke und schließlich eine hellblaue Wollstrumpfhose.

Im unmittelbaren Umkreis der Leiche fand der Chefinspektor außer der Schultasche, die ungeöffnet in zwei Metern Entfernung stand, nur ein paar Schuhsohlenabdrucke, die allerdings wegen des recht harten Untergrundes kaum erkennbar waren.

„Ich bin hier fertig“, sagte er schließlich, „die Kollegen vom Erkennungsdienst können jetzt ihre Arbeit machen. Sie sollen sich vor allem die Spuren hier neben der Leiche genau ansehen. Es dürften die Abdrücke von mehreren Schuhen sein, so wie’s aussieht.“

Auf einen Wink Schinnerers kam die Abordnung vom Landeskriminalamt, die in ein paar Metern Entfernung gewartet hatte, zum Fundort und begann, das Terrain im Umkreis der Leiche auf das genaueste abzusuchen. Jeder Grashalm und jede Faser, die von Bedeutung sein konnte, wurde in verschließbare Plastiksäckchen gesteckt. Von den Schuhspuren wurden Gipsabdrücke gegossen, während die Leiche mit einer PVC-Folie abgedeckt wurde.

Der Chefinspektor ging zu Margreiter und Viktor. Die beiden waren mittlerweile eingetroffen und standen neben der Absperrung.

„Was Interessantes entdeckt?“, fragte Margreiter.

„Eigentlich gar nichts, offenbar erwürgt, keinerlei Spuren, die auf sexuellen Missbrauch schließen lassen. Sie scheint sich auch nicht gewehrt zu haben, aber wir sollten den Obduktionsbefund abwarten, bevor wir irgendwelche Schlüsse ziehen“, erwiderte Weininger und ging wieder zu Schinnerer, „Sie haben gesagt, ein Obdachloser hat sie gefunden?“

„Ja, er ist in der Umgebung bekannt, streunt einmal da, einmal dort herum, nicht immer in derselben Gemeinde, sonst hätte man ihn da schon längst rausgeschmissen, aber durch seine regelmäßigen Ortswechsel hat er’s bisher geschafft, toleriert zu werden“, gab Schinnerer bereitwillig Auskunft, „wir haben ihn im Revier behalten, da er nicht mit hierher kommen wollte.“

„Hat er irgendwas gesagt?“, fragte Weininger weiter.

„Bisher nur, wo er die Leiche gefunden hat. Er war ziemlich aufgeregt, ist wahrscheinlich zum ersten Mal über eine Leiche gestolpert.“ Das berufsmäßige Grinsen, das bei Schinnerer nach der letzten Bemerkung einsetzte, hatte sich Weininger nie angewöhnt, weil er es seit Beginn seiner Polizeiarbeit als unpassend empfunden hatte.

„Na gut“, sagte er, „hier können wir sowieso nichts mehr tun, wir sollten uns den Landstreicher einmal ansehen, dann können wir, glaub’ ich, für heute Schluss machen.“

Er informierte Schinnerer, dass sie im Dreistättner Polizeiposten noch den Obdachlosen befragen wollten, worauf Viktor, Margreiter und er sich von den Kollegen verabschiedeten.

Zur örtlichen Polizeidienststelle, die sich in unmittelbarer Nähe des Lagers befand, waren es nur ein paar hundert Meter. Der diensthabende Beamte, der von Schinnerer informiert worden war, empfing die Fürstenberger Abordnung bereitwillig und führte sie zu einem lumpenhaft gekleideten Mann mit schmalen, ausgezehrten Gesichtszügen, die unter einem eher dünnen Vollbart hindurchschimmerten. Er saß auf einer Sitzbank im sonst leeren Wachzimmer. Weininger trat auf den Mann zu und wollte gerade die erste Frage stellen, als ihm ein käsig-fauliger Geruch entgegentrat, der ihn fast zurücktaumeln ließ. Während er noch gegen den Brechreiz ankämpfte, gab er Margreiter ein Zeichen, dass er die Vernehmung durchführen sollte. Dieser, obwohl nicht begeistert, war in solchen Dingen doch wesentlich robuster als der Chefinspektor und stellte ohne Rücksicht auf den in ihm aufsteigenden Ekel seine Fragen. Viktor, der die übertriebene Gewissenhaftigkeit des Neulings noch nicht ganz abgelegt hatte, stand in geringem Abstand daneben, um nur ja nichts zu versäumen.

„Guten Abend, wie geht’s?“, fragte Margreiter mit routinierter Freundlichkeit und erkannte sofort, dass bei seinem Gegenüber der Alkohol bereits begonnen hatte, irreversible Spuren zu zeigen. Er nuschelte etwas, das so ähnlich wie „Schönen Abend“ klang, um gleich darauf, ähnlich schwer verständlich „Gibt’s hier nichts zu trinken?“ folgen zu lassen. Margreiter, der merkte, dass es nicht leicht sein würde, zu verwertbaren Aussagen zu kommen, begann sehr vorsichtig.

„Haben Sie alles, was Sie brauchen?“, fragte er. Eine Handbewegung seines Gegenübers sagte ihm, dass alles soweit in Ordnung war.

„Sie wollen was trinken?“, fragte er weiter und als der Obdachlose seinen kurz zuvor geäußerten Wunsch bestätigte, bat er den hiesigen Beamten um einen Cognac. Von früheren Besuchen wusste er, dass normalerweise einer im Kasten stand. Der Dreistättner Kollege überlegte einen Moment, entsprach dann aber dem Wunsch. Das Gläschen, das serviert wurde, war schneller getrunken, als das Einschenken gedauert hatte.

„Wie heißen Sie?“, fragte Margreiter im liebenswürdigsten Tonfall, den er in seinem Repertoire hatte, was bei ihm nicht allzu viel hieß.

„Max“, war die unerwartet verständliche Antwort. Nach einem Schluck Cognac schien es ihm besser zu gehen.

„Und was haben Sie heute gesehen?“, fragte Margreiter, so schnell wie möglich zur Sache kommend.

„Wo?“, erwiderte der Landstreicher. Margreiter sah ihm in die Augen. Er wusste nicht, ob es nur Fopperei war oder ob sein Gesprächspartner wirklich schon so neben den Dingen stand.

„In der Hiblerstraße, heute Abend“, antwortete er.

„Eine Tote, sie ist da gelegen, und hat sich nicht gerührt.“ Die Antwort von Max kam sehr langsam, er schien in Zeitlupe zu denken.

„Ja, das tote Mädchen haben wir auch gesehen“, erklärte Margreiter, „ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen, das vielleicht von Bedeutung sein könnte, haben Sie etwas oder jemanden gesehen, als sie zum toten Mädchen kamen?“

„Ja, ich weiß nicht genau, ich glaub’ schon, kann ich vielleicht noch …… zu trinken …… sie verstehen?“ Und er hielt Margreiter das leere Glas hin.

Nach einem kurzen Blick zum Chefinspektor, den dieser wegen der Besonderheit der Situation mit einem Kopfnicken erwiderte, goss er ihm einen zweiten Cognac ein.

Der Obdachlose schüttete ihn genauso schnell hinunter wie den ersten.

„Na, geht’s besser?“, fragte Margreiter nach einer Weile, so als warte er darauf, dass die Medizin zu wirken begann. „Ist ihnen schon was eingefallen?“

„Ja, ja, langsam kommt’s wieder, es waren zwei von den Schwarzen, diese verdammten Kaffern aus dem Lager haben sie umgebracht …“

„Immer mit der Ruhe“, versuchte Margreiter dem Ausbruch ein Ende zu setzen, „jetzt erzählen sie uns eins nach dem anderen, was Sie gesehen haben.“

„Ich hab’s mir auf der Bank hinter den Büschen gemütlich gemacht … irgendwann, ich muss eingeschlafen sein, da hör ich auf einmal Stimmen. Es waren diese schwarzen Typen … zwei von denen, wie sie irgendwas aushecken …“

„Er hat schon Recht, es sind wirklich zu viele Afrikaner hier, das kann nicht gutgehen. Klauen alle wie die Raben und mindestens jeder zweite von denen verkauft Drogen. Crack, Ecstasy oder sonst irgendeinen Mist.“ Der vom Obdachlosen inspirierte Dreistättner Beamte beendete seinen spontanen Monolog nach einem scharfen Blick Margreiters auf der Stelle.

„Wann war das ungefähr?“, fragte Margreiter.

„Keine Ahnung, ungefähr um Viertel bin ich vom Olympia weg.“

„Viertel was?“

„Viertel sechs, was sonst?“

„Also um Viertel sechs vom Einkaufszentrum in der Stadt in die Hiblerstraße“, ergänzte Margreiter, „kann kaum ein Kilometer sein. Für den Weg braucht man nicht mehr als zehn Minuten.“

Er wandte sich wieder an den Landstreicher.

„Können Sie die Afrikaner, die Sie gesehen haben, genauer beschreiben?“, versuchte Margreiter, mehr zu erfahren. „Haben Sie ihre Gesichter gesehen?“

„Ja, kurz“, war die Antwort, „aber was soll ich da beschreiben, sieht doch einer aus wie der andere. Damit man denen das Handwerk legt, muss man sie alle ausrotten.“

Gestank hin, Gestank her, dem Chefinspektor, der bisher ruhig zugehört hatte, wurde es jetzt zu bunt.

„Jetzt hör’ mir gut zu, mein Freund, du beantwortest die unsere Fragen, mehr nicht. Andernfalls bist du die längste Zeit durch die Gegend spaziert, dann kommst du hier nämlich nicht mehr raus.“

Die kleine Unbeherrschtheit Weiningers verfehlte nicht ihre Wirkung. Der Säufer war sichtlich eingeschüchtert. Aber nicht nur er, auch der daneben stehende Beamte wirkte etwas betreten.

„Können Sie das Alter der beiden schätzen, glauben Sie, Sie würden sie zwischen anderen – schwarzen – Personen wieder erkennen, wenn Sie sie sehen?“, setzte Margreiter schließlich fort.

Der Landstreicher gab sich Mühe, so zu wirken als dächte er ernsthaft nach und sagte dann: „Sie waren jung, sehr jung …… das heißt, ihre Stimmen waren jung, die Gesichter hab ich kaum gesehen … ich weiß nicht, ob ich sie erkennen würde.“

„Na gut“, erwiderte Margreiter etwas nachdenklich, „was ist dann passiert, was haben die beiden gemacht?“

„Na ja, sie sind dort gestanden …… nach einer Weile sind sie dann gegangen …… oder …… nein, erst haben sie sich nach allen Seiten hin umgedreht, als ob sie sicher gehen wollten, dass niemand sie gesehen hat, dann haben sie sich weggeschlichen.“

„Und am Anfang, was haben sie da gemacht, auch nur geredet?“, fragte Margreiter.

„Als ich aufgewacht bin, hatten sie die Kleine ja schon umgebracht, die Schweine, deshalb hab’ ich davon nichts mehr mitbekommen“, sagte der Säufer mit verkniffenem Gesichtsausdruck.

„Also haben Sie die beiden Schwarzen nur reden gehört, Sie haben aber nicht gesehen, wie sie das Mädchen getötet haben.“

„Aber das ist doch klar, dass die sie umgebracht haben“, rief der Landstreicher jetzt aufgebracht, als er begriff, worauf Margreiter hinaus wollte, „warum sind sie denn nicht so wie ich zur Polizei gegangen, wenn sie sie nicht umgebracht haben?“

„Die Fragen, die sich stellen, werden wir zu lösen haben, nicht Sie“, sagte Margreiter abschließend und beendete damit die Vernehmung. Zwischendurch hatte er sich immer wieder Notizen gemacht.

„Sie bleiben die Nacht über hier, morgen komme ich mit einer Niederschrift Ihrer Aussage, die Sie dann unterschreiben“, fügte er noch an, eine Mitteilung, die der Obdachlose widerspruchslos entgegennahm. Offenbar war es ihm gar nicht so unangenehm, hin und wieder bei der Polizei zu übernachten.

Weininger teilte dem Dreistättner Beamten mit, dass er den Landstreicher noch einen Tag dabehalten müsse. Dann verließ er mit Viktor und Margreiter den Posten.

„Wo ist eigentlich Nicole?“, fragte er, als sie wieder auf der Straße waren.

„Die war auf irgendeiner Party in Fünfkirchen. Sie hat da anscheinend Freunde“, antwortete Margreiter. „Es hätt’ sich nicht ausgezahlt, deswegen zu kommen. Wahrscheinlich wär’ sie noch gar nicht hier.“

Nach einer Pause fragte er: „Was denkst du eigentlich über das Ganze?“

„Eine unangenehme Angelegenheit“, antwortete Weininger, „die Aussage war genau das, was wir brauchen können. Ich sehe schon die Schlagzeilen in der Zeitung: ‚Einheimisches Mädchen von Lagerinsassen ermordet. Sperrt diese Mördergrube endlich zu!’ Und wenn ich diesen Alkoholiker richtig einschätze, geht der auch noch zur Presse. Deshalb möcht ich ihn noch ein paar Tage festhalten, was ja kein Problem ist, da er offenbar nicht einmal einen Wohnsitz hat.“

Margreiter nickte zustimmend. „Der Mord wird sicher Staub aufwirbeln. Glaubst du, es könnten wirklich welche aus dem Lager gewesen sein?“

„Es ist viel zu früh, darüber zu spekulieren. Momentan kann man noch gar nichts sagen, wir müssen jetzt einmal so viele Informationen wie möglich sammeln. Am besten, ihr seht euch morgen im Lager um. Die beiden Schwarzen sollten wir so schnell wie möglich aufstöbern, das würde uns weiterbringen, denn ich glaube, wenn wir sie erst haben, wissen wir ziemlich schnell, ob sie für die Tat in Frage kommen. Außerdem müssen wir das Umfeld der Kleinen so genau wie möglich durchleuchten. Das macht am besten Nicole.“

„Das Benehmen der beiden Schwarzen am Tatort, von denen der Obdachlose gesprochen hat, ist schon sehr verdächtig“, warf Viktor ein, „immer vorausgesetzt, die Aussage ist verlässlich.“

„Man kann zu dem Typen stehen, wie man will“, erwiderte Weininger, „aber seine Angaben würde ich bis auf Weiteres nicht anzweifeln. Trotzdem sind die beiden, die er gesehen hat, nicht automatisch die Mörder. Es kann viele Gründe geben, warum sie so reagiert haben.“

Sie waren bei Weiningers Auto, einem alten Toyota Corolla, angekommen. Weininger und Viktor verabschiedeten sich.

„Na dann“, erklärte der Chefinspektor, als er einstieg, „morgen spätestens um neun im Büro, zur Befehlsausgabe. Gute Nacht!“

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