Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 8

10:15 Uhr

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Nicole stellte ihren Wagen vor dem Gartenzaun des imposanten Einfamilienhauses ab, das aussah, als sei es erst vor kurzem errichtet worden. Es lag in einer gut fünfzehn Jahre alten Wohnsiedlung im Norden Dreistättens, die so schnell wuchs, dass jemand, der im Frühjahr dort auf Besuch war, im Herbst oft nicht mehr wusste, ob er sich noch in der richtigen Gegend befand. Landläufig wurde dieses Wohngebiet Dreistättens Vogelsiedlung genannt. Irgendwann hatten die Stadtväter die Idee geboren, die Straßen dieser Siedlung ausschließlich nach Vögeln zu benennen: Schwalbengasse, Lerchengasse, Elsterngasse und so weiter. Ein origineller Einfall, der auf Grund des ornithologischen Artenreichtums einem weiteren Anwachsen des bebauten Bereichs, zumindest was die dafür erforderlichen Straßennamen betraf, keine Grenzen setzte.

Nicole stand jetzt vor dem Gartentor des Hauses Rotkehlchengasse fünfzehn. Kurz nachdem sie geläutet hatte, wurde die Tür von einer älteren Dame geöffnet.

„Guten Tag“, begann sie, „mein Name ist Hofmüller vom Polizeikommando Fürstenberg. Ich möchte mit Herrn und Frau Zeiringer sprechen. Es geht um den Tod ihrer Tochter Jacqueline.“

Die ältere Frau kam zum Gartentor, wo Nicole ihr unaufgefordert ihre Polizeimarke entgegenhielt.

„Bitte, kommen Sie herein“, erwiderte die Frau, die nicht gleich zu verstehen schien, „ich heiße ebenfalls Zeiringer und bin die Großmutter von Jacqueline. Sie wollen zu meiner Schwiegertochter?“

„Ja, bitte“, bemerkte Nicole nur. Bei Anlässen wie diesem machte sie nie viele Worte, sondern beobachtete, wie die Menschen, mit denen die Ermordete zusammengelebt hatte, reagierten.

„Bitte, kommen Sie weiter“, erwiderte Frau Zeiringer Senior.

Das Innere des Hauses war geschmackvoll eingerichtet. Nicole, die behutsamer als ihre Kollegen auf solche Details achtete, erkannte eine für eine Jungfamilie eher unübliche Exklusivität. Den Zeiringers schienen die mit dem Hausbau verbundenen finanziellen Belastungen keine ernsthaften Probleme bereitet zu haben.

„Christine, es ist jemand von der Polizei hier“, rief die Großmutter der Toten durch den Vorraum ins Wohnzimmer hinein, noch bevor Nicole die Bewohner zu Gesicht bekommen hatte. Kurz darauf kam ihr eine schwarz gekleidete junge Frau entgegen, deren abwesender Gesichtsausdruck noch die Trostlosigkeit der vergangenen Nacht widerspiegelte, in der an Schlaf für sie wohl nicht zu denken gewesen war. Nicole wusste um die Belastung, die diese erste Befragung für die Angehörigen darstellte und ging deshalb so taktvoll wie möglich vor. Nachdem sie abgelegt hatte, wurde sie von der Großmutter des Opfers gebeten, sich zu setzen. Sie bot ihr etwas zu trinken an, was sie dankend annahm. Der Vater der Toten war nicht zu sehen, obwohl er offenbar zu Hause war, aber Nicole wollte ohnehin zuerst mit der Mutter sprechen.

„Frau Zeiringer, als erstes möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen“, begann sie das Gespräch und ihre Worte hatten die Wirkung, die sie befürchtet hatte. Die Mutter brach in Tränen aus. Es wäre aber schwer möglich und wohl auch nicht sinnvoll gewesen, diese Einleitung zu vermeiden. Nachdem der Fluss versiegt war, hatte sich Frau Zeiringers Gemütszustand stabilisiert und sie schien in der Lage, die Fragen zu beantworten.

„Einleitend möchte ich betonen, dass wir alles tun, um den Schuldigen an diesem Verbrechen auszuforschen, auch wenn das Ihre Tochter nicht zurückbringen kann“, sagte Nicole, um anschließend zur Sache zu kommen, „Wir benötigen dabei aber Ihre Hilfe, deshalb ersuche ich Sie, mir einige Fragen zu beantworten.“

Frau Zeiringer nickte.

„War Ihre Tochter Ihr einziges Kind oder gibt es Geschwister?“

„Wir haben noch einen Sohn, Patrick, er ist vier Jahre alt“, antwortete sie und hatte sich dabei wieder fest im Griff.

„Wie war der Tagesablauf Ihrer Tochter unter der Woche geregelt, also an einem normalen Arbeitstag?“

„Nun, morgens habe ich sie immer in die Schule gebracht, zu Mittag ist sie dann zu ihrer Tagesmutter gegangen und am späten Nachmittag, so etwa um fünf oder halb sechs, nach Hause gekommen.“

„Außer am Morgen zur Schule ist sie also immer selbständig zu Fuß gegangen?“, fragte Nicole.

„Ja, seit der dritten Klasse“, war die Antwort. Nicole sah am Gesicht der Mutter, wie es in ihr arbeitete. Da waren all diese kleinen Entscheidungen, die sie jetzt vor der Polizei ausbreiten musste. Die Festlegungen, die sie getroffen hatte, als ihre Tochter noch lebte, und die jetzt plötzlich in einem völlig anderen Licht erschienen. War es richtig gewesen, ihre Tochter zur Tagesmutter zu geben? War sie wirklich alt genug gewesen, um selbst nach Hause zu gehen? Nicole spürte, dass Frau Zeiringer durch den Tod ihrer Tochter vor einem wüsten Haufen aus Schuld und Selbstvorwürfen stand, den sie nur langsam würde abarbeiten können.

„Frau Zeiringer, Sie sollten sich keine Schuld am Tod Ihrer Tochter geben“, erklärte Nicole, als könne sie Gedanken lesen, „Sie haben sicher alles richtig gemacht, so wie viele andere verantwortungsvolle Eltern auch. Schuld ist jemand anderer, der noch frei herumläuft, aber ich verspreche Ihnen, wir setzen alles daran, ihn zu kriegen.“

„Glauben Sie, er könnte es wieder tun?“, fragte Frau Zeiringer.

Nicole wunderte sich, dass ihr Gegenüber in diese Richtung dachte. Von einem weiteren derartigen Verbrechen Art konnte die Familie wohl kaum betroffen sein.

„Das lässt sich schwer sagen“, antwortete sie schließlich, „das Motiv der Tat kennen wir noch nicht, wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen. Natürlich würden wir alle uns wünschen, dass es sich um ein einmaliges Verbrechen handelt.“

Sie hielt kurz inne, um dann die wieder ihre Fragen zu stellen.

„Ich nehme an, Ihre Tochter hat die Volksschule hier in Dreistätten besucht?“

„Ja, das ist richtig, wie gesagt, die dritte Klasse.“

„Ich benötige Namen und Adresse der Tagesmutter sowie den Namen der Lehrerin oder des Lehrers Ihrer Tochter“, sagte Nicole.

„Selbstverständlich“, antwortete Frau Zeiringer, um sich dann an ihre Schwiegermutter zu wenden, „Maria, würdest du bitte die Daten von Frau Schwendner und Frau Gerger aufschreiben.“

Die Angesprochene verschwand, um Block und Kugelschreiber zu holen.

„Frau Zeiringer, etwas wäre noch sehr wichtig.“ Das Folgende sagte Nicole langsam und eindringlich. „Können Sie sich vorstellen, dass es in Ihrem Bekanntenkreis irgendjemanden gibt, der Sie oder Ihre Familie hasst und ihr Schaden zufügen möchte?“

Frau Zeiringer war von der Direktheit der gestellten Frage überrascht.

„Nein, das schließe ich aus“, erklärte sie beinahe reflexartig, „natürlich haben wir nicht nur Freunde, wie jeder andere auch, aber dass jemand so etwas tun könnte …… nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“

Mit dieser Frage hatte Nicole noch selten Erfolg gehabt. Sie konnte aber nicht darauf verzichten, sie zu stellen.

„Vom Dreistättner Polizeichef haben wir gehört, dass Sie um etwa achtzehn Uhr dreißig Ihre Tochter als vermisst gemeldet haben. Wann ist sie für gewöhnlich nach Hause gekommen?“, fragte sie weiter.

„Spätestens um halb fünf, nie später, deshalb hatten wir auch sofort Angst, dass etwas passiert ist“, antwortete die Mutter und konnte diesmal nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Nicole fand es an der Zeit, Schluss zu machen.

„Ist Ihr Mann zu Hause, könnte ich ihm ein paar Fragen stellen?“, fragte sie, wollte ihn aber nur kurz in Anspruch nehmen.

„Er ist schon zu Hause, hat sich aber hingelegt, weil er, wie wir alle, in der Nacht praktisch nicht geschlafen hat.

„Dann stören Sie ihn nicht“, erwiderte Nicole nach kurzer Überlegung, denn sie hatte genug Eindrücke gesammelt, „Abschließend eine Bitte. Kommen Sie mit jedem Problem und jeder Frage in dieser Sache zu uns. Sollte Ihnen irgendetwas einfallen, das wichtig sein könnte, so teilen Sie es uns mit, auch wenn es Ihnen nebensächlich vorkommt. Selbstverständlich werden wir Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden halten. Vielen Dank noch einmal, und auf Wiedersehen.“

Nicole zog ihren Übergangsmantel an und verließ das Haus. Draußen ließ sie ein paar Mal die kühle Herbstluft durch ihre Lungen gleiten, um die Trostlosigkeit, die in diesem Haus zu jeder Sekunde greifbar gewesen war, auszuatmen.

Flucht

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