Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 13

10:15 Uhr

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Der Vater der ermordeten Jacqueline – er hieß Karl Zeiringer – war bemüht, Nicole so freundlich wie möglich zu behandeln. Er schien seinen Schmerz recht gut zu verbergen. Nicole fiel aber in einigen Situationen auf, dass er außerordentlich nervös war. Das Zucken um seine Mundwinkel, wenn der Name seiner toten Tochter fiel, die zwischendurch unvermittelt auftretende Abwesenheit, die er selbst nicht zu bemerken schien, die dunklen Schatten unter seinen Augen, die verrieten, dass er in der Nacht kaum geschlafen hatte, all das waren Anzeichen, dass der Tod seiner Tochter auch bei ihm Spuren hinterlassen hatte. Seltsamerweise wurde Nicole das Gefühl nicht los, dass er etwas vor ihr verbergen wollte. Vielleicht war es aber auch nur die Angst, in Tränen auszubrechen, die sich in einer verkrampften Zurückhaltung äußerte und ihn fahrig wirken ließ. ‚Nicht einmal in solchen Situationen schaffen es Männer, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen‘, dachte sie sich, während sie neben ihm am Couchtisch im Wohnzimmer Platz nahm. Sie bewunderte die extravagante Sitzgruppe, auf der sie saßen. Mit ihren leuchtenden Farben sorgte sie für eine erfrischende Note, fügte sich aber dennoch harmonisch in die übrige Möblierung ein. Nicoles Einschätzung nach musste sie ein Vermögen gekostet haben.

Zu Beginn stellte sie ihm Fragen, die sie schon an seine Frau gerichtet hatte und die Antworten, die er gab, wichen auch kaum von jenen am Vortag ab. Im Lauf des Gesprächs merkte sie, dass man mit Zeiringer recht offen sprechen konnte.

„Bei einem Todesfall wie diesem deutet auf den ersten Blick natürlich alles darauf hin, dass das Verbrechen von einem Täter begangen wurde, der es nicht auf Ihre Tochter speziell abgesehen hat, sondern dass sie ein Opfer widriger Umstände geworden ist. Dennoch haben wir auf Grund der Aufklärungsstatistiken die Erfahrung gemacht, dass in einer nicht unerheblichen Zahl der Fälle die Täter im Bekannten- oder Verwandtenkreis zu suchen sind. Sie werden verstehen, dass unsere Ermittlungen ein möglichst vollständiges Bild ergeben müssen. Deshalb benötige ich eine genaue Beschreibung des persönlichen Umfeldes Ihrer Tochter. Ich meine damit Onkels, Tanten, Cousins, Cousinen, Freundinnen, Freunde und so weiter.“

„Werden Sie mit allen sprechen, die ich Ihnen jetzt nenne?“, fragte er.

„Nein, das denke ich nicht. Wir werden versuchen, mit den Informationen, die Sie uns geben und die wir durch die weiteren Ermittlungen bekommen, jene Personen zu finden, die uns möglicherweise bei der Tätersuche weiterhelfen können.“ Zeiringer nahm die Erklärung mit derart ausdruckslosem Gesicht entgegen, dass Nicole nicht genau wusste, ob er überhaupt geistig anwesend war.

„Was machen Ihre Frau und Sie beruflich?“, fragte sie, ohne weiter darauf zu achten.

„Meine Frau arbeitet als Sekretärin bei einem Notar. Sie hat vor drei Monaten wieder dort angefangen, nachdem sie sehr lange wegen der Kinder zu Hause geblieben war. Ich arbeite in einer Bank in Wien.“ Auf ihr Ersuchen gab er ihr die Daten seines Arbeitgebers, worauf sie bat, auf ihre vorhergehende Frage nach dem Verwandten- und Bekanntenkreis zu antworten.

„Ich habe drei Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester.“ Er sprach langsam und hatte offensichtlich Mühe, konzentriert zu bleiben. „Ein Bruder, Klaus, lebt in Linz, wo er seit zehn Jahren als Entwicklungsprogrammierer in einer Computerfirma arbeitet. Ich telefoniere alle ein bis zwei Monate mit ihm, zu sehen bekomme ich ihn höchstens einmal im Jahr. Zu meiner Tochter hat er mit Ausnahme dieser seltenen Treffen keinerlei Kontakt.“

„Ist ihr Bruder verheiratet?“, fragte Nicole, während sie sich auf einem Block Notizen machte.

„Nein, er war schon immer ein Eigenbrötler, hochbegabt, aber in seinem ganzen Leben hat er mir noch nie eine Freundin vorgestellt.“

Er zögerte einen Moment. Da Nicole aber einfach nur dasaß und darauf wartete, dass er weiter sprach, fuhr er schließlich fort.

„Mein zweiter Bruder heißt Peter. Er lebt in Wien, ist verheiratet und hat zwei Kinder, beides Buben, im Alter von neun und elf Jahren. Mit Peter haben wir mehr Kontakt als mit Klaus, öfter als drei oder vier Mal im Jahr sehen wir ihn und seine Familie aber auch nicht. Wenn man nicht am gleichen Fleck lebt, kommt man eben nicht oft zusammen, außerdem haben wir kaum gemeinsame Bekannte. Peter ist sechs Jahre älter als ich.“

„Wie alt ist Ihr Bruder Klaus?“, fragte Nicole.

„Er ist jünger, wird heuer zweiunddreißig“, antwortete er, um gleich darauf fortzufahren. „Schließlich ist da noch meine Schwester, die Jüngste von uns vier. Sie wohnt in Pfaffenhofen, gleich hier in der Nähe, ist nicht verheiratet, hat aber einen Freund. Sie kommt recht oft zu uns, nachmittags auf einen Kaffee oder für ein oder zwei Stunden am Abend. Meine Frau und sie verstehen sich sehr gut.“

Er hielt wieder kurz inne und schien zu überlegen, wer noch für eine Erwähnung in Frage kam.

„Mein Mutter kennen Sie ja schon“, sagte er schließlich, „sie war gestern da, als Sie mit meiner Frau gesprochen haben. Mein Vater ist vor etwas mehr als drei Jahren gestorben, seit damals ist sie oft bei uns, kümmert sich viel um Patrick und Jacqu…… und hat sich auch um Jacqueline gekümmert.“

Die letzten Worte klangen resigniert.

„Das waren meine Angehörigen, zu denen wir Kontakt haben, soll ich Ihnen auch die Verwandtschaft meiner Frau erläutern, oder wollen Sie darüber mit ihr selbst sprechen?“, fragte er Nicole nach einer kurzen Pause.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich lieber Sie bitten, als Ihre Frau darum bemühen zu müssen“, antwortete Nicole, während sie ihre Notizen über das bisher Gesagte fertig stellte.

„Ja, Sie haben recht“, sagte Zeiringer, als er begriff, worauf sie hinaus wollte. „Meiner Frau geht es heute schlechter als gestern. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.“

Er sah Nicole mit seinen dunkel umrandeten Augen an. Sie fragte sich, was in diesem Mann wohl vorging. Als er merkte, dass sein Blick für sie irritierend war, sah er unvermittelt zu Boden, um kurz danach aufzustehen und sich einen Schluck Cognac zu holen, der griffbereit in einer Vitrine des mahagonifarbenen Wandverbaus stand.

„Darf ich Ihnen auch etwas zu trinken anbieten?“, fragte er Nicole.

„Nein danke, ich bin im Dienst?“, war ihre mechanische Antwort auf solche Fragen.

„Aber sie haben doch nichts dagegen, wenn ich …“, fügte er mit einem Tonfall an, der auf Widerspruch ohnehin nicht eingestellt war.

„Nein, natürlich nicht“, antwortete Nicole, ohne zu überlegen.

Nachdem er sich wieder zu ihr an den Tisch gesetzt hatte, setzte er seine Schilderung fort.

„Über die Verwandten meiner Frau gibt es weniger zu erzählen. Ihre Mutter ist gestorben, als sie noch ein Kind war. Sie ist daraufhin hier in Dreistätten aufgewachsen. Ihr Bruder ist nach dem Tod der Mutter in die Steiermark zu einer Tante gekommen, die für ihn gesorgt hat. Er heißt Thomas Windhager, der Mädchenname meiner Frau. Sie selbst ist hier bei ihrem Vater geblieben. Der lebt übrigens nach wie vor in Dreistätten, er besucht uns nur so gut wie nie. Den Bruder sehen wir ein paar Mal im Jahr, meistens fahren wir zu ihm und seiner Lebensgefährtin.“

Nach kurzem Nachdenken fügte er noch an: „Sonst gibt es da eigentlich nichts zu erzählen. Sie sehen, besonders groß ist unsere Verwandtschaft nicht, und eines kann ich Ihnen versichern. Ich würde weiß Gott was tun, dass der Täter gefasst wird, aber für die Personen, die ich eben genannt habe, lege ich die Hand ins Feuer.“

‚Da hätten sich schon viele die Finger verbrannt‘, dachte Nicole.

„Können Sie mir etwas über Ihr sonstiges persönliches Umfeld sagen?“, fragte sie schließlich, da der Gesprächsfluss Zeiringers nun versiegt war, „Freunde, Leute, mit denen sie sich in der Freizeit treffen. War Ihre Tochter bei irgendeinem Verein oder etwas ähnlichem?“

„Bevor ich antworte, würde ich Ihnen gern eine Frage stellen“, bemerkte Karl Zeiringer plötzlich.

„Bitte, kein Problem“, bemerkte Nicole überrascht, „wenn ich kann, werde ich Ihnen antworten.“

„Meine Tochter wurde doch in unmittelbarer Nähe des Flüchtlingslagers gefunden, ein Ort, wo es von Leuten wimmelt, über die man so gut wie nichts weiß. Sie kommen teilweise aus Kriegsgebieten, haben oft selbst an Kampfhandlungen teilgenommen und viele von ihnen sind traumatisiert, ihnen ist alles zuzutrauen.“

Er musste durchatmen und sah von dem, was er sagte, beinah’ etwas mitgenommen aus.

„Ein Großteil von diesen Leuten handelt mit Drogen, für viele von ihnen ist ein Menschenleben nichts wert und sie würden ein Kind wie meine Tochter wahrscheinlich nur deshalb umbringen, weil sie ihnen lästig ist. Und Sie kommen zu mir und befragen mich bis ins kleinste Detail nach Personen, die mit dem Ganzen absolut nichts zu tun haben. Die meisten von ihnen wohnen nicht einmal in der Nähe. Ich würde vorschlagen, sie kümmern sich etwas mehr um jene Personen, die wirklich für die Tat in Frage kommen.“

Zeiringer war während dieser Erregung kontinuierlich lauter geworden und mit dem Oberkörper in die Höhe gegangen. Jetzt schien er richtiggehend in sich zusammenzusinken. Nicole war zwar überrascht über die plötzliche und heftige Reaktion Zeiringers, aber sie kannte ähnliche Situationen von anderen Verhören, die sie geführt hatte.

„Sie können mir glauben, wir ermitteln auch und mit besonderer Intensität im Bereich des Flüchtlingslagers, aber zur Polizeiarbeit gehört es, jeder Möglichkeit nachzugehen, und sei es nur um Dinge auszuschließen, die ohne genaue Erhebungsarbeit vielleicht unklar geblieben wären. In einem Fall wie diesem werden wir nicht umhin kommen, auch das persönliche Umfeld Ihrer Tochter genau zu durchleuchten, um abschätzen zu können, ob hier vielleicht ein Hinweis auf den Täter zu finden ist.“

Er sagte nichts, sondern starrte nur in die Leere. In diesem Moment hatte Nicole nicht die geringste Ahnung, was in ihm vorging. Als sie gerade wieder etwas sagen wollte, begann er weiter zu sprechen, so als hätte es die vorherige Szene gar nicht gegeben.

„Wir haben hier mehrere Bekannte, mit denen wir uns gelegentlich treffen. Wir gehen zu ihnen, sie kommen zu uns oder wir gehen gemeinsam zum Heurigen. Ich schreibe Ihnen die Namen auf, das geht schneller, als wenn Sie sie notieren.“

„Gut, … danke!“ Sie reichte ihm einen Zettel von ihrem Block und einen Kugelschreiber, worauf er zu notieren begann.

„Einige der Kinder sind ……, waren Schulkolleginnen meiner Tochter, ich schreibe das dazu.“

Nach ein paar Minuten gab er ihr den Zettel, auf dem insgesamt etwa zehn Namen standen, in einzelne Gruppen eingeteilt, an denen man die Familien erkannte.

„Gibt es zu diesen Personen noch irgendetwas zu sagen“, fragte Nicole, „sehen Sie manche vielleicht besonders oft, haben Sie beste Freunde?“

„Mit den Hannaks sind wir öfter zusammen als mit den anderen, ihr Sohn ist mit meiner Tochter in die Schule gegangen“, antwortete er ohne irgendeine sichtbare Regung.

„Eine letzte Frage hätte ich noch.“ Nicole sprach sehr langsam, da sie ihren Gesprächspartner in seiner offensichtlich überreizten Stimmung nicht aus der Fassung bringen wollte. „Ist Ihnen im Zusammenhang mit ihrer Tochter, deren Freunden oder mit anderen Personen – also völlig unabhängig davon, worüber wir vorher gesprochen haben – irgendetwas aufgefallen, etwas Ungewöhnliches, das aus irgendeinem Grund in Ihrem Gedächtnis haften geblieben ist?“

Noch während sie die Frage stellte, begann er, den Kopf zu schütteln. Plötzlich hielt er inne und schien an etwas zu denken.

„Jetzt, wo sie mich fragen, fällt mir etwas ein, was ich ganz vergessen hatte. Eine Begegnung, im Grunde völlig belanglos, aber nach dem, was geschehen ist, vielleicht doch bedeutsam.“

Er machte wieder eine längere Pause.

„Woran denken Sie?“, fragte Nicole schließlich, da er nicht weiter sprach.

„Letztes Wochenende sind wir zu viert durch den Park hinter der Kirche spaziert, meine Frau, meine Kinder und ich. Jacqueline ist zu den Spielgeräten gegangen, die dort aufgestellt sind. Knapp bevor sie ihr Ziel erreicht hat, ist mir aufgefallen, dass ein älterer Mann sie angesprochen hat. Sie war so weit weg, dass sie nicht zu hören waren, aber da Jacqueline am Gespräch offenbar Gefallen gefunden hat und kein Grund bestanden hat, einzugreifen, haben wir uns auf eine nahe Bank gesetzt, nicht ohne sie im Blickfeld zu behalten. Ein paar Minuten später ist sie wieder zu uns gekommen und hat uns erzählt, wie nett der Mann war. Er habe ihr einiges von sich erzählt und gefragt, was sie alles so macht.“

„Würden sie den Mann wiedererkennen, wenn Sie ihn vor sich haben?“, fragte Nicole.

„Nein, das glaube ich nicht, er ist halb mit dem Rücken zu uns gestanden. Außerdem hat uns die Nachmittagssonne geblendet. Ich habe auch nicht erfahren, was genau er mit meiner Tochter gesprochen hat, da sie gleich darauf eine Freundin getroffen hat. Der alte Mann ist uns dann gar nicht mehr in den Sinn gekommen.“

„Ist Ihnen sonst irgendetwas Besonderes an ihm aufgefallen? Wie war er gekleidet, hat Ihre Tochter noch etwas über ihn gesagt?“ Es war sichtlich nicht leicht für ihn, seine Tochter in seinen Antworten ständig zum Leben erwecken zu müssen. Die Ereignisse waren noch zu frisch.

„Nein“, sagte er nur, und es war offenbar die Antwort auf die letzte Frage. Nach einer Pause setzte er hinzu: „Ich weiß nicht mehr genau, was er angehabt hat, aber er war nicht gut gekleidet. Ich glaube, er hat irgendeinen ziemlich zerschlissenen Anorak getragen. Im Ganzen hat er aber nicht ungepflegt gewirkt.“

„Glauben Sie, er war von hier, hat er mit Akzent gesprochen?“, fragte Nicole nach.

„Das kann ich nicht sagen, Jacqueline hat darüber nichts erwähnt und ich habe ihn, wie gesagt, nicht genau gesehen. Dreistätten ist nicht so klein, dass man jeden kennen muss. Falls Sie aus der abgetragenen Kleidung auf einen Ausländer schließen, werden Sie wahrscheinlich Recht haben. Allerdings haben wir auch hier in Dreistätten Leute, die sich nicht jedes Jahr neue Kleidung leisten können.“ Er hielt wieder kurz inne. „Meinen Sie, er könnte etwas damit zu tun haben?“, fragte er schließlich.

„Ich weiß es nicht“, antwortete Nicole, weil sie nichts anderes sagen konnte.

Flucht

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