Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 11

18:50 Uhr

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Nach dem Gespräch mit Rettenbacher brauchte Weininger noch einen Kaffee in seinem Arbeitszimmer, um ungestört eine Zeit lang über die ganze vertrackte Situation nachdenken zu können. Als er im Polizeikommando eintraf, war zu seiner Überraschung die Amtsstube noch hell erleuchtet. Margreiter, Nicole und Viktor diskutierten lebhaft die Ergebnisse der heutigen Arbeit.

„Was macht Ihr denn noch hier?“, fragte er. „Wollt Ihr den Mord schon am ersten Tag lösen?“

„Wir haben über Einiges nachgedacht“, erwiderte Margreiter, „vor allem über den Ablauf. Es ergibt sich schon eine Menge durch den Todeszeitpunkt, der eigentlich kaum Spielraum lässt.“

„Das hab ich euch schon am Telefon gesagt, als das Ergebnis der Obduktion gekommen ist“, erklärte Weininger, dem, als er zum Nebentisch sah, ein Tablett mit einer Tortenauswahl der Konditorei Hofmüller ins Auge sprang, Schwarzwälder Kirsch, Sacher, Kastanientorte und noch Einiges mehr. Nicole musste zwischendurch bei ihren Eltern vorbeigeschaut haben.

„Jetzt ist mir klar, warum ihr heute noch alle hier seid“, bemerkte er, „darf ich?“

„Dafür sind sie da“, antwortete Nicole, die ihm auch gleich die Kanne mit dem Kaffee reichte.

Weininger lud sich die Kastanientorte, die es so frisch nur jetzt zur Maronizeit gab, auf einen Teller und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Wie fast immer fiel ihm ein Teil der wegen ihrer Größe über den Rand hinausreichenden Torte, original Hofmüller-Format eben, vom Teller und wie meistens, wenn er sich selbst einschenkte, drehte er den Kannendeckel so weit auf, dass er beim Eingießen vornüber fiel.

„Hoppla“, bemerkte er nur. Obwohl Nicole mit der Küchenrolle sofort zur Stelle war, ließ sich nicht verleugnen, dass für morgen eine frische Hose angesagt war.

„Hast du ein Glück, dass du nicht verheiratet bist“, bemerkte Margreiter, „falls du’s einmal beabsichtigen solltest, tu’s nicht, es kann nur böse enden.“

„Ja, ja, schon gut!“, erwiderte Weininger auffallend humorlos.

Obwohl Margreiter natürlich längst wusste, dass sein Chef auf derlei Witzchen merkwürdig reagierte, gab es eine diabolische Seite in ihm, die gelegentlich austesten wollte, ob dieses Spielchen noch funktionierte. Und es funktionierte immer.

„Im Grunde ergibt sich folgende Situation“, begann Nicole, die erkannte, dass es besser war, das Thema zu wechseln, „siebzehn Uhr vierzig kommt der Landstreicher zum Tatort, da ist noch weit und breit nichts zu sehen. Er schläft kurz darauf ein. Ein paar Minuten später treffen die beiden Schwarzen das Mädchen und bringen es um. Motiv derzeit noch unbekannt. Unser dem Alkohol zusprechender Freund wacht auf, als die beiden die Leiche gerade im Gebüsch versteckt haben und sieht sie dann noch fortgehen. Ich meine, das muss unsere Ausgangsüberlegung sein. Was fehlt, ist das Motiv, aber da kann’s viele spontane Gründe geben.“

„Na ja, möglich“, sagte Weininger, der durch die Rückkehr zur Sache auch sein normales Verhalten zurückerlangt hatte, „obwohl ich nicht so unbedingt an diese Art der Spontaneität glaube. Eine Frage stellt sich mir dabei aber sofort: Da bringen zwei Männer ein Mädchen um, das vermutlich geschrien hat, aber der unbemerkt gebliebene Obdachlose, der ein paar Meter weiter schläft, wacht erst auf, als alles vorbei ist und sie nur noch leise miteinander reden. Ach ja, da fällt mir ein, was ist bei euch beiden im Lager heraus gekommen?“

„Noch nicht besonders viel. Wir haben eine Liste der Lagerinsassen bekommen mit den Informationen, die wir benötigen, also vor allem Herkunftsland und Geburtsdatum“, begann Margreiter, „sie haben sie uns auch per E-Mail geschickt, was die Auswertung vereinfacht. Insgesamt sind es achthundertneunundvierzig Personen, davon dreihundertvierundsechzig, also fast die Hälfte, aus Afrika. Jetzt stellt sich die große Frage: Wie gehen wir die Suche nach unseren beiden Verdächtigen an? …… Ach ja, was ich mit dir besprechen wollte, meinst du, wir sollten irgendwas unternehmen, um eine Flucht der beiden, die ja mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Lager kommen, zu verhindern?“

„Was willst du tun?“, entgegnete der Chefinspektor, „aus dem Lager ein Gefängnis machen, solange wir nicht wissen, wer es ist? Nein, wir können momentan, so lange es noch keine konkreten Verdächtigen gibt, gar nichts tun. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, sie wissen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, dass jemand sie gesehen hat und eine Flucht käme einem Schuldeingeständnis gleich. Glaub mir, die werden so schnell nicht davonlaufen.“

„Die Frage ist, wie wir die, die ernsthaft für die Täterschaft in Frage kommen, eingrenzen können“, überlegte Margreiter laut, „dazu haben wir einmal die Hautfarbe, es waren Schwarze, also Herkunft Afrika.“

„Muss nicht sein, ist aber anzunehmen“, bestätigte der Chefinspektor.

„Dann hätten wir noch zwei wichtige Hinweise, erstens, sie waren nicht alt“, setzte Margreiter fort, „also würde ich einmal die Annahme wagen, alles vor Geburtsjahrgang neunzehnhundertachtundachtzig scheidet aus, in Ordnung?“

„Vom Ansatz her schon, aber ich würde einmal nachsehen, wie viel du damit überhaupt gewinnst“, meinte Weininger, „die sind nämlich alle ziemlich jung.“

„Ich kann nachsehen, wenn ihr wollt“, bemerkte Viktor. Als Neuling hielt er sich meistens zurück, wenn seine erfahreneren Kollegen ihre Theorien entwickelten, obwohl Weininger seine Meinung schätzte, da das, was er sagte, fast immer Hand und Fuß hatte.

„Dauert nicht lange“, sagte er, „ich muss nur den Computer hochfahren.“

Ein paar Minuten später hatte er die Liste, die Frau Ziegelmeier schon übermittelt hatte, auf dem Schirm.

„Die Auswertung nach Geburtsdaten achtundachtzig und später bringt nicht allzu viel. Es bleiben noch dreihundertneun Personen übrig. Und wer sagt eigentlich, dass es nicht jung aussehende Dreißiger waren? Der Landstreicher hat sie ja gar nicht so genau gesehen“, sagte er.

„Ja“, meinte Weininger, „diese Einschränkung ist zu vage, aber ich habe eine andere Idee, sieh dir einmal die Erstaufnahmedaten an. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass zwei, die zusammen hier herumziehen, schon zu zweit oder in einer Gruppe hergekommen sind und damit das gleiche Aufnahmedatum haben. Werte die Afrikaner einmal danach aus.“

„Gute Idee“, sagte Viktor, um nach einer halben Minute anzufügen: „Es wird nicht einfach werden. Jeden Tag haben sie hier bis zu zehn Neuaufnahmen, hin und wieder sind es weniger. Da ist zum Beispiel ein Tag mit nur zwei, aber eine davon ist eine Frau.“

„Selbst wenn sie wirklich zu zweit hergekommen wären, bedeutet das nicht, dass an diesem Tag nur zwei aufgenommen worden sind“, warf Nicole ein, „aber mit dem Herkunftsland könnte man sie weiter eingrenzen. Es ist zwar nicht hundertprozentig, dass sie aus demselben Land stammen, aber sehr wahrscheinlich. Ich glaube, das Land steht doch auch dabei.“

„Ja, ist drauf“, bestätigte Viktor, und gab das Herkunftsland als zusätzliches Kriterium ein.

„Da lässt sich schon einiges erkennen“, sagte Margreiter, der sich neben Viktor gestellt hatte und auf den Bildschirm starrte, während langsam die neu aufbereitete Liste erschien, „es sind zwar immer noch einige Paare, aber sie sind überschaubar, vierzehn, wenn ich richtig gezählt habe. Das wäre ein Ansatz, um morgen mit den Vernehmungen zu beginnen.“

„Übrigens, Nicole, was ist bei den, wie heißen sie doch gleich …, Zeiringers heute heraus gekommen?“, fragte der Chefinspektor.

„Nichts außergewöhnliches“, antwortete sie, „die Familie scheint unter Schock zu stehen, und das ist sicher nicht gespielt. Sie werden eine Zeit lang brauchen, bis sie sich von all dem erholt haben. Ich hab heute nur mit der Mutter und der Großmutter gesprochen, die haben beide keine besonderen Angaben machen können. Keinerlei Mutmaßungen in Richtung Täter. Ein Bruder ist vorhanden, vier Jahre alt. Morgen Früh geh’ ich noch einmal hin, um mit dem Vater zu sprechen. Da möcht’ ich den Bekanntenkreis noch genauer hinterfragen. Ich hoffe, wir bekommen da wenigstens ein paar Anhaltspunkte.“

„Bitte sei sorgfältig“, sagte Weininger ungewöhnlich schulmeisterlich, aber bei diesem Fall hatte er das Gefühl, auf keinen Fall etwas übersehen zu dürfen, „du weißt ja, ein großer Teil derartiger Verbrechen haben einen familiären Hintergrund.“ Wieder zu allen gewandt, bemerkte er: „Die Obduktion hat außer dem Todeszeitpunkt mit siebzehn Uhr fünfzig nichts Neues ergeben. Todesursache Ersticken, wobei deutliche Würgemale am Hals erkennbar waren. Sonst keine auffälligen Verletzungen. Leichte Hämatome am rechten Arm und im Bereich des Thorax, von denen sich aber nicht sagen lässt, ob es einfach blaue Flecken sind, die sich Kinder gelegentlich zuziehen oder ob sie mit dem Mord zusammen hängen.“

„Am Telefon hast du gesagt, sexueller Missbrauch wurde nicht festgestellt“, ergänzte Margreiter, um das Fehlen dieses Umstandes herauszustreichen.

„Eigentlich merkwürdig“, sagte Nicole, „da wird ein Mädchen einfach so umgebracht, als ob man es auf sie abgesehen hätte. Scheint fast so, als wollte jemand genau sie töten, aus Rache, aus Berechnung oder aus welchem Motiv auch immer. Ich meine, das gibt’s doch normalerweise gar nicht.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. „Und mir soll einer erklären, was zwei afrikanische Einwanderer für einen Grund haben sollen, so einen Mord zu begehen. Ein achtjähriges Mädchen kann kein Geld haben, etwas anderes wollten sie offenbar auch nicht von ihr. Ich kann mir keinen Reim drauf machen.“

„Dieser Mord hat etwas Seltsames.“ Diesmal war es Viktor, der etwas zu sagen hatte. „Irgendwie hat es den Anschein, als sollte sie vielleicht gar nicht sterben, als wollte der Mörder sie gar nicht umbringen, aber es ist eben geschehen, wie wenn jemand mit einer Puppe spielt, und weil er nicht aufpasst, geht sie kaputt.“

„Was meinst du damit?“, fragte Nicole.

„Das weiß ich selber nicht genau, war nur so eine Idee“, antwortete Viktor.

„Was hast du heute den ganzen Tag eigentlich gemacht?“, fragte Margreiter den Chefinspektor.

„Darum brauchst du mich wirklich nicht zu beneiden“, erwiderte dieser. „Das Gespräch, das ich gerade im Dreistättner Rathaus geführt hab’, war so ziemlich die unterste Schublade, die man öffnen kann. Ich hätt’ so was, ehrlich gesagt, nicht für möglich gehalten.“

„Was war los? Ist der Bürgermeister durchgedreht“, fragte Margreiter, „wegen unserem Mord? Weißt du was? Der kriegt Arschsausen, weil ihn die Sache eine ganze Menge Stimmen kosten könnte. Nächstes Jahr wird ja gewählt.“

Weininger, im Grunde ein unpolitischer Mensch, der nur im Zuge seiner Ermittlungen immer wieder zwischen die Fronten der politischen Lager geriet, konnte diese Diagnose, auf die er selbst bisher noch gar nicht gekommen war, nur bestätigen.

„Liegt auf der Hand“, sagte er, „dabei ist er mir im Grunde völlig egal, er kann mir ja genau genommen nicht viel anhaben. Das Problem ist nur, dass er zu viele Verbindungen hat. Damit kann er mir das Leben bis zu einem gewissen Grad schwer machen.“

„Lass dir von dem nicht die Laune verderben, ist doch ein Arschloch“, bemerkte Margreiter auf seine unverblümte Art.

„Nein, schlimmer noch, ein Politiker“, setzte Nicole hinzu und konnte dem Chefinspektor damit immerhin ein Lächeln entlocken.

„Na gut“, bemerkte Weininger schließlich, „für morgen weiß jeder, was er zu tun hat, Ihr beiden“ – er zeigte auf Margreiter und Viktor – „führt die Vernehmungen im Lager durch. Nicole, du befragst den Vater, und versuch’, die Namen sämtlicher Verwandten zu bekommen, die Kontakt zur Toten gehabt haben. Ich selbst werd’ mich in der Schule umsehen.“ Mit den letzten Worten öffnete er die Tür zu seinem Arbeitszimmer. „Kann mir vielleicht jemand einen frischen Kaffee bringen?“, sagte er noch, bevor er die Tür schloss, worauf Nicole aufsprang und in die Teeküche ging. Aus Erfahrung wusste sie, dass ein anderer als der Kaffee, den sie kochte, für ihren Chef nur eine Notlösung darstellte.

Flucht

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