Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 4

Dienstag, 28. September 15:45 Uhr

Оглавление

Das Zimmer war groß und unpersönlich. Insgesamt standen acht Betten an den seelenlosen weißen Wänden, die aussahen, als wären sie erst vor kurzem getüncht worden. Nur an einzelnen Stellen liefen hässliche schwarze Striemen die Mauern entlang, gleich Narben, die das Gesicht des Raumes entstellten. Sie stammten von den Zimmerinsassen, die ihre Schuhe nur selten auszogen, wenn sie sich auf ihre Liegestätten legten. Vier der Betten waren bezogen und zum Teil mit Kleidern und allem möglichen Gerümpel belegt. Die hintere Seite des Zimmers bildete eine Kastenfront im selben sterilen Weiß, das auch die Wände bedeckte. Bei kurzem Hinsehen drängte sich auch hier der Eindruck einer kahlen Wand auf.

Sofort, als der Wachebeamte die Tür geöffnet hatte, war Levon klar geworden, dass seine Frau Sona und er noch nicht die Station ihrer Reise erreicht hatten, an der sie sich heimisch fühlen durften. Dieses Domizil, das sie für die Dauer ihres Asylverfahrens beziehen mussten, war nicht mehr als ein notwendiges Übel, das auf ihrem Weg in das erhoffte bessere Leben eben zu ertragen war.

Gerade zehn Stunden war es her, dass die beiden die Tür ihrer Wohnung in Jerewan, die mehr als zwanzig Jahre das Zentrum ihres Lebens gewesen war, zum letzten Mal geschlossen und das Taxi zum Flughafen bestiegen hatten. Es sollte sie ihrem Traum entgegen bringen, die Zeit, die ihnen noch blieb, in der Nähe ihres Sohnes Raffi zu verbringen, der vor acht Jahren mit seiner Frau Leniya nach Europa gegangen und schließlich in Österreich hängen geblieben war. Als talentierter Musiker hatte er sehr bald eine Arbeit als Violinlehrer am Wiener Konservatorium bekommen und seitdem immer wieder seine Eltern bearbeitet, sie mögen ihm nachkommen, damit die Familie wieder an einem Ort vereint wäre, in einem Land, das allen die Möglichkeit bot, ein gutes Leben zu führen.

Auf ihre große Reise hatten Sona und Levon nur das Notwendigste mitgenommen, zwei große Koffer mit Wäsche und zwei kleinere mit Büchern und einigen Sachen, von denen sie sich nicht hatten trennen wollen und die nicht viel Platz einnahmen. Ein Stück, an dem Levons Herz besonders gehangen hatte, war zurück geblieben, sein Cello, dem er immer die wehmütigsten Töne entlockt hatte. Zu groß und zu sperrig für die Reise, hatten sie es zusammen mit den Einrichtungsgegenständen, die sie in ihrer Wohnung in Jerewan zurück gelassen hatten, ihrem Vermieter für gerade einmal zweihundert Dollar verkauft. Geld, das sie jetzt brauchen konnten, um über die erste Zeit zu kommen. Ihr Sohn würde sie zwar nach Kräften unterstützen, war aber selbst alles andere als auf Rosen gebettet. Er bewohnte mit seiner Frau Leniya eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Simmering, einem Stadtteil Wiens, der nicht das reichste Publikum beherbergte. Dennoch war die Miete für ihre Verhältnisse hoch und seine Lehrverpflichtung am Konservatorium umfasste nicht allzu viele Stunden. Dazu kam, dass Leniya noch immer ohne Arbeit dastand, nachdem sie erst vor kurzem ihre Stelle als Aushilfskraft in einem Lebensmittelmarkt verloren hatte.

In Armenien war Levon Musiker gewesen, hatte in Jerewan an der Musikhochschule Cello und Klavier unterrichtet, eine Beschäftigung, die ihn zwar erfüllte, von der man aber dort, wo er herkam, kaum leben konnte, schon gar nicht, wenn die Ehefrau, wie es bei Sona der Fall war, zu Hause blieb.

Die beiden hatten ein Alter erreicht, das dem Begriff Heimat zwar einen hohen Stellenwert beimaß, ihn aber noch nicht zu absoluter, unveränderbarer Wichtigkeit erhob, wie es im letzten Lebensabschnitt oft der Fall ist, wenn bei Verlassen der vertrauten Umgebung mit den eigenen Wurzeln mitunter auch der Inhalt des Lebens verloren geht. Außerdem hatte Levon seit jeher mit Heimat vor allem seine Familie und die Musik verbunden und erst in zweiter Linie einen bestimmten Ort dieser Welt. Von den beiden war Sona es gewesen, der es anfangs schwer gefallen war, loszulassen. Allein die Aussicht auf ein familiäres Beisammensein mit ihrem Kind hatte den Ausschlag gegeben, dass sie der Abreise zugestimmt hatte.

Am Flughafen Schwechat war es verhältnismäßig schnell gegangen, nachdem Raffi ihre Ankunft bereits vorher den Behörden gemeldet und gleichzeitig ein Aufenthaltsansuchen gestellt hatte. Sie waren von zwei Wachebeamten empfangen und in ein Vernehmungsbüro geführt worden, in dem sie eine ganze Litanei von Fragen über die Gründe ihrer Einreise und ihre damit verbundenen Absichten über sich ergehen lassen mussten. Diese seltsame Prüfungssituation – bei jeder Antwort von der ungewissen Angst überschattet, einen all ihre Hoffnungen zunichtemachenden Fehler zu begehen – hatte aber immerhin nur eine halbe Stunde gedauert, auch wenn es den beiden viel länger vorgekommen war. Nach Unterfertigung des unverzüglich erstellten Protokolls waren die beiden von zwei Polizisten hierher ins Flüchtlingslager gefahren worden. Verglichen mit anderen hatten sie Glück, denn die Tatsache, dass ihr Sohn Raffi seit Kurzem die österreichische Staatsbürgerschaft besaß, ermöglichte ihnen eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung, auf deren Grundlage die Betreuung in der Flüchtlingsaufnahmestelle Dreistätten ohne weitere Prüfung möglich geworden war.

„Sie können Ihre Sachen jetzt auspacken“, bemerkte der Wachebeamte, der sie am Eingang von den Polizisten übernommen und ins Zimmer geführt hatte, mit mechanischer Routine, „hier ist der Schlüssel für den Kasten. Ihrer ist der ganz rechts.“

Er drehte sich um und sah Sona an. „Sie haben Ihr Bett im angrenzenden Zimmer und können Ihre Sachen dort auspacken. Ich bringe Sie gleich hin.“

Wieder zu Levon gewandt, bemerkte er: „Kommen Sie in einer halben Stunde hinunter ins Aufnahmezimmer. Sie erhalten dort die Schlüsselkarte für den Eingang und Ihre Essenskarten.“

Der Wärter öffnete die Tür, um mit Sona ins Nebenzimmer zu gehen. Im selben Moment stieß der Wind eines der alten, hohen Fenster des Zimmers auf und brach sich für einen Moment Bahn ins Innere. Dabei wirbelte er einige auf einem Bett liegende Zeitungen durcheinander und stieß eine auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers stehende Vase mit ein paar dunklen Nelken um. Sie war das einzige im gesamten Raum, das man mit etwas gutem Willen als Dekoration bezeichnen konnte. Obwohl sie hart am Tisch aufschlug, zerbrach sie nicht. Nur der trübe, grünliche Inhalt begann sich auf der hölzernen Oberfläche auszubreiten und mit ihm ein Geruch nach Fäulnis und Verwesung. Ohne darauf zu achten, verschwand der Aufseher mit Sona und schloss die Tür, was den Luftstrom zur Ruhe kommen ließ. Levon nahm ein im Eck liegendes Bodentuch und wischte den Tisch sauber. Danach schloss er das Fenster, so gut es bei diesen alten Hebeln und Scharnieren möglich war, setzte sich an den Tisch und dachte eine Minute an gar nichts. Er war müde. Der Tag hatte sehr früh begonnen und ihm schien es, als sei heute mehr passiert als sonst in einem Monat. Schließlich stand er auf und begann, den Inhalt des Koffers, der auf dem Bett lag, langsam im Kasten unterzubringen und mit jedem Kleidungsstück, das hinter dem anonymen Weiß der Schranktür verschwand, wurde ihm klarer, dass das glückliche Leben, das ihnen beim Auszug aus ihrer Heimat vorgeschwebt war, noch auf sich warten lassen würde.

Flucht

Подняться наверх