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Mittwoch, 6. Oktober 9:30 Uhr

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Als Margreiter und Viktor durch das große Tor des Lagers ins Innere traten, stieg ihnen der Geruch nach frischen Semmeln und Frühstückskaffee in die Nase. Viktor fühlte sich an seine Bundesheerzeit in der Marokkanerkaserne in Wien erinnert, die für ihre gute Verpflegung bekannt gewesen war. Während seines Militärdienstes hatte er freilich festgestellt, dass dieser Ruf wohl nur in Relation zu anderen militärischen Einrichtungen seine Berechtigung besaß.

Da sie ihren Besuch telefonisch angekündigt hatten, erwartete sie der Geschäftsführer des Lagers, Alexander Schirmer, bereits. Direktor Schirmer war von Humano Serve vor etwas mehr als einem Jahr mit der Führung des Lagers Dreistätten betraut worden. Humano Serve, das war eine private Gesellschaft, deren Geschäftszweck in der Verwaltung von Betreuungseinrichtungen aller Art bestand. Pflegeheime, Pensionistenheime, und eben Flüchtlingsbetreuungsstätten. Das Unternehmen war aus einem vom Ministerium durchführten langwierigen Ausschreibungsverfahren als günstigster Betreiber hervor gegangen und daraufhin mit der Verwaltung des Lagers beauftragt worden. Diese Übertragung einer öffentlichen Betreuungsinstitution in private Hände war Bestandteil eines weit reichenden Planes, mit dem eine ganze Reihe von Einrichtungen aus der unmittelbaren staatlichen Verwaltung entlassen werden sollten. Die Firma Humano Serve war seit den eineinhalb Jahren der Verwaltung des Lagers wegen ihrer in erster Linie auf Gewinnerzielung und nicht auf Verwirklichung gesetzlicher Vorgaben ausgerichteten Betriebsführung immer wieder lautstark kritisiert worden. Die Tatsache, dass sie bisher noch jedem Sturm erfolgreich getrotzt hatte, legte den Schluss nahe, dass die Gesellschaft und damit auch Schirmer in der Wirklichkeit des politischen Lebens sehr starke Verbündete besaßen. Es war nicht unausgesprochen geblieben, dass diese Verbindungen zur Politik auch beim Zuschlag für die Verwaltung des Lagers eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben könnten, allerdings wurden derartige Vermutungen aus Angst vor Klagen sehr vorsichtig geäußert. Es konnte auch nie etwas in diese Richtung bewiesen werden.

Schirmers Büro entsprach der offensichtlichen Philosophie der Organisation, Dinge so lange zu verwenden, solange sie noch nicht völlig unbrauchbar waren. Das war an der gesamten Ausstattung des Gebäudes erkennbar. Das Büro bestand aus einem kleinen Sekretariat mit Kästen, Regalen und einem Schreibtisch, alles in dunklem Nusston, wie er in den achtziger Jahren modern gewesen war. Die Sekretärin, die über diesen Bereich herrschte, passte erstaunlich gut in dieses Interieur, was zum Teil an ihrer Kleidung, zum Teil aber auch an ihrem heute kaum mehr anzutreffenden herrschaftlich herablassenden Ton lag. Offenbar zähle auch sie zu den Inventarstücken, die bei Übernahme des Gebäudes durch Humano Serve nicht völlig unbrauchbar gewesen waren.

Außer ihnen wollte augenscheinlich niemand etwas vom Geschäftsführer. Dennoch wurden sie ersucht, sich fünf Minuten zu setzen, um nach zwei Minuten ein Zimmer weiter gebeten zu werden.

Mit einem „Guten Morgen, meine Herren“ empfing sie Schirmer, ein untersetzter Mann, der die fünfzig schon überschritten hatte und einen Vollbart trug, dem man ansah, dass er jeden Tag mindestens fünfzehn Minuten Pflege vor dem Badezimmerspiegel erforderte, „dumme Sache, was da gestern passiert ist.“

„Ja, das kann man sagen“, bestätigte Margreiter, „wie ich schon am Telefon gesagt habe, besteht der Verdacht, Insassen Ihres Hauses könnten mit der Tat in Verbindung stehen.“

„Ich hoffe, sie haben Unrecht“, bemerkte der Lagerleiter. Der sorgenvolle Blick, den er auflegte, passte perfekt zum bekümmerten Ton.

‚Entweder war er Schauspieler oder er ist in der Politik aktiv’, dachte Viktor unwillkürlich, während er mit möglichst ausdruckslosem Gesicht neben Margreiter an der gegenüber liegenden Seite des Schreibtisches saß.

„Wissen Sie, ich bin noch nicht lange Leiter dieses Hauses. Eines aber habe ich, seit ich hier bin, gelernt: Halte dich aus den Schlagzeilen heraus. Jede Medienpräsenz des Lagers kann sich nur negativ auswirken. Deshalb sollten die Ermittlungen hier so diskret wie möglich geführt werden.“

Er sah Margreiter gespannt an und erwartete offensichtlich eine Antwort.

„Wir werden versuchen, den täglichen Betrieb mit unseren Ermittlungen so wenig wie möglich zu stören. Allerdings fürchte ich, dass bei einer Sache wie dieser, die durch alle Zeitungen gehen wird, unauffällige Erhebungen eine Illusion sind“, erwiderte dieser. In einem solchen Fall konnte er nichts weniger brauchen als jemanden, der ihn zwang, so vorsichtig wie möglich herum zu lavieren. „Auf Grund der Bedeutung des Falles ist es notwendig, dass Sie uns jede nur mögliche Unterstützung zukommen lassen.“

„Das werde ich gerne tun, erwarte mir aber im Gegenzug, dass ich immer über den letzten Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten werde“, erwiderte Schirmer.

„Das kann ich Ihnen nur soweit versprechen, als es aus ermittlungstaktischer Sicht möglich ist“, antwortete Margreiter auf die provozierend direkte Forderung Schirmers, „nicht mehr und nicht weniger.“

„Natürlich, was passiert ist, ist keine alltägliche Sache. Sie werden mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Methoden versuchen, so schnell wie möglich zu einer Lösung zu kommen. Das ist ja auch in unser aller Interesse.“ Schirmers Verständnis wirkte berechnend, „aber ich glaube, wenn es Insassen meiner Betreuungseinrichtung betrifft, sollten Sie mir unbedingt immer den aktuellen Stand mitteilen. Schließlich stehe ich in der Öffentlichkeit und muss wissen, worüber ich rede, wenn ich gefragt werde.“

„Keine Angst, wenn etwas für Sie von Bedeutung ist, werden Sie informiert, in Zweifelsfällen spreche ich mit meinem Chef“, erwiderte Margreiter, der genug Erfahrung hatte, um zu wissen, dass man bei jemandem wie Schirmer jedes Wort auf die Goldwaage legen musste. „Ich muss aber betonen, dass in diesen Dingen Mitteilungen an die Presse oder die Öffentlichkeit nur im Einvernehmen mit uns als ermittelnder Behörde möglich sind.“

„Nur keine Sorge, ich habe Erfahrung mit der Presse und der öffentlichen Meinung und weiß mit den Informationen, die ich erhalte, entsprechend umzugehen“, bemerkte Schirmer, als ob er Margreiters Einschränkungen nicht gehört hätte.

„Wenn möglich, würde ich gerne zu den heutigen Erfordernissen kommen“, sagte dieser, „wir benötigen eine vollständige Liste aller Lagerinsassen mit Namen, Geburtsdaten, Herkunftsland, Datum der Aufnahme und Fotografie. Außerdem wäre ein Vernehmungsraum hier direkt im Lager von Vorteil. Es wäre einfacher, als alle, die wir eingehender befragen müssen, zum Polizeiposten zu bringen.“

„Selbstverständlich“, beeilte sich Schirmer zu betonen, „wir können alles so einrichten, wie Sie es wünschen. Einzig die Fotos haben wir nicht im Computer. Alles andere lässt sich auswerten. Sie können aber zu jedem Insassen ein Foto aus dem Akt haben.“

„Wir benötigen von jedem Insassen, von dem wir es für nötig halten, den gesamten Akt“, stellte Margreiter die Verhältnisse richtig.

„Aber natürlich, den gesamten Akt“, verbesserte sich Schirmer betont zuvorkommend, „Einen Moment!“ und er rief die Sekretärin, sie hieß Ziegelmeier, herein, um ihr die Wünsche der Polizei mitzuteilen.

„Frau Ziegelmeier wird Ihnen alles, was Sie benötigen, besorgen“, bemerkte er abschließend und ersuchte Margreiter und Viktor, mit allen Anliegen zu ihr zu kommen. Er selbst stehe ihnen selbstverständlich auch jederzeit, wenn sie es wünschten, zur Verfügung.

„Danke, und auf Wiedersehen, zumindest fürs Erste“, verabschiedete sich Margreiter, und Viktor grüßte ebenfalls.

„Wir werden ja immer wieder miteinander zu tun haben“, bemerkte Schirmer, während die beiden Kriminalbeamten in Begleitung der Sekretärin das Zimmer verließen.

Flucht

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