Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 19

18:45 Uhr

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Eine knappe Stunde später betrat der Chefinspektor das Lager. Margreiter und Viktor warteten mit den beiden Verdächtigen bereits auf ihn. Neben ihnen stand ein uniformierter Beamter, den sie zu ihrer Unterstützung angefordert hatten. Weininger nahm die offizielle Verhaftung der Afrikaner vor und belehrte sie über ihre Rechte. Damit sie ihn auch verstehen konnten, bediente er sich der Englischkenntnisse Viktors, der diesmal als Simultanübersetzer in Erscheinung trat. An den Gesichtern der beiden Sechzehnjährigen, denen Margreiter gleichzeitig Handschellen anlegte, konnte Weininger die Korrektheit von Viktors Übersetzungen ablesen. Schließlich klärten sie mit einem Bediensteten der Lagerbetriebsgesellschaft – Schirmer war offenbar nicht im Haus – die Formalitäten wegen der Überstellung der beiden Insassen in Polizeihaft. Zwanzig Minuten später waren sie auf dem Weg zum Polizeikommando – Weininger nahm seinen eigenen Wagen, die anderen fuhren mit den Verdächtigen im Streifenwagen – und betraten kurz darauf die verlassene Stube der Kriminalabteilung von Fürstenberg.

„Also, wo stehen wir jetzt wirklich?“, fragte Weininger, nachdem er die Tür des Vernehmungszimmers geschlossen hatte. Es war ein kleiner, schmuckloser, aber sehr hell erleuchteter Raum. In der Mitte stand ein noch ziemlich neuer Tisch, der nicht zum Rest des Zimmers mit den mehr grauen als weißen Wänden und dem abgetretenen Linolfußboden passte.

„Im Grunde hat sich seit unserem Telefonat nicht mehr viel geändert“, berichtete Margreiter, „der eine gibt zu, über die Leiche gestolpert zu sein, nicht aber, den Mord begangen zu haben. Der andere hat dicht gemacht und sagt gar nichts mehr. Die Schuhe haben wir ihnen übrigens abgenommen. Die, die sie anhaben, sind aus dem Fundus des Lagers.“

„Na gut, und was hast du für einen Eindruck?“, fragte der Chefinspektor. „Glaubst du, sie waren es?“

„So, wie die Dinge liegen, sieht’s danach aus. Ich meine, wer soll’s sonst gewesen sein?“ Margreiter schien kaum Zweifel an der Lage der Dinge zu haben.

„Und was denkst du, Viktor“, wandte sich Weininger an den Angesprochenen, der, etwas verwundert über die Ehre, seiner Meinung in dieser Frage Ausdruck verleihen zu dürfen, den Kopf Richtung Chefinspektor hob.

„Ich weiß nicht recht“, erwiderte er, „ich kann diesen Optimismus nicht ganz teilen.“ Viktor versuchte, sich durch den zwiespältigen Blick, mit dem Margreiter ihn nun ansah, nicht beirren zu lassen. „Es ist möglich, sicher, aber ich kann nicht wirklich glauben, dass sie es waren. Sie haben kein Motiv, und es wird auch nicht leicht sein, eines zu finden. Was soll zwei Afrikaner, die hier Asyl beantragt haben, weil sie den Krieg und das Töten in ihrem Land nicht mehr aushalten, dazu bringen, ohne jeden Grund ein kleines Mädchen umzubringen? Für mich ist die andere Version, nämlich dass das Mädchen schon tot war, logischer.“

Margreiter sah aus, als ob er etwas sagen wollte, ließ es aber dann, während Weininger kurz nachdachte.

„Na gut, sehen wir zuerst den an, der noch leugnet“, sagte er schließlich. „Wie heißt er?“

„Rasul Nkoma“, antwortete Viktor.

„Du machst wieder den Dolmetsch“, sagte der Chefinspektor sicherheitshalber zu Viktor, um mögliche Zweifel, die daran bestehen könnten, von vornherein auszuschließen.“

Er machte Margreiter ein Zeichen, den Verdächtigen, der mit seinem Freund und dem Uniformierten vor dem Vernehmungsraum wartete, hereinzubringen.

Mit undurchdringlichem Blick schlurfte Rasul ins Zimmer und setzte sich auf den Sessel, den Margreiter ihm zuwies.

„Wie heißen Sie?“, fragte er auf väterliche Art, worauf der Afrikaner seinen Namen sagte, der – trotz einer gewissen Ähnlichkeit – bei ihm anders klang als bei Viktor.

„Sie wissen, warum Sie hier sind?“, fragte Weininger ihn. „In unserer Stadt ist ein schweres Verbrechen passiert, ein Mädchen wurde getötet und wir haben Grund zur Annahme, dass Sie in diese Sache verwickelt sind und uns etwas dazu sagen können.“ Er wollte mit offenen Karten spielen, da er wusste, dass die bisherigen Verhörmethoden bei seinem Gegenüber keine Wirkung gezeigt hatten.

„Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass wir Sie nicht zwingen können, eine Aussage zu machen“, fuhr er fort, „alles, was Sie uns sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden, aber auch Ihr Schweigen kann im Rahmen der freien Beweiswürdigung als Indiz Ihrer Schuld ausgelegt werden. Deshalb stelle ich noch einmal die Frage, die Ihnen bereits mehrmals gestellt wurde. Können Sie uns irgendetwas im Zusammenhang mit dem Mord an dem Mädchen mitteilen?“

Rasul sagte kein Wort.

„Ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Bei uns gibt es keine Todesstrafe, egal um welches Verbrechen es sich handelt, und es gilt jeder so lange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Ein solcher Beweis der Schuld ist aber erst nach einem sehr umfangreichen Verfahren möglich. Sie brauchen also nicht zu fürchten, wegen eines Verbrechens bestraft zu werden, das Sie nicht begangen haben.“

Der Chefinspektor glaubte zwar selbst nicht so richtig, was er da sagte, aber es war etwas außerordentlich Vertrauen Erweckendes in seiner Stimme. Auch wenn Rasul erst die Übersetzung von Viktor verstand, verfehlten seine Worte nicht ganz ihre Wirkung.

„Sie werden mich zurückschicken und dort wird man mich umbringen, egal, ob ich etwas getan habe oder nicht. Das wird die bei mir zu Hause gar nicht interessieren“, erwiderte Rasul plötzlich.

„Bei einem Kapitalverbrechen wie diesem kann ich Sie beruhigen. Wenn eine solche Tat in Österreich an einem Österreicher verübt wird, dann werden Sie auch hier abgeurteilt.“ Auf diese Art hatte Weininger bisher noch nie argumentieren müssen. Als Privileg wurde es normalerweise nicht angesehen, in Österreich einen Mordprozess am Hals zu haben.

„Wir haben es aber nicht getan, wir haben nichts getan!“ Langsam begann Rasul, mit dem, was in ihm schlummerte, herauszurücken.

„Ich glaube, dann wäre es das Beste, Sie erzählen uns alles genau so, wie es sich zugetragen hat“, erwiderte Weininger, worauf Rasul nachdachte. Vom Verhör mit Margreiter wusste er, dass Obike etwas gesagt haben musste. Den Inhalt der Aussage kannte er aber nicht.

„Wir sind an diesem Tag nach dem Mittagessen in die Stadt gegangen“, begann er irgendwann. „Beim Hinweg haben wir den kürzesten Weg genommen, also den über die Schule und den Bahnhof. Wir haben uns dann auf eine Bank gesetzt, etwas getrunken und uns über Gott und die Welt unterhalten. Das hat eine Zeit lang gedauert. Wie lange genau, kann ich nicht mehr sagen. Als dann die Dämmerung einsetzte, sind wir zurück gegangen, ohne uns sehr zu beeilen. Dabei haben wir uns auch eine Weile in der Wohngegend herum getrieben, die an das Lager anschließt. Irgendwann, wir wollten gerade wieder ins Lager, ist Obike plötzlich auf der linken Seite unter einem Busch etwas aufgefallen. Warum er in diesem Moment dorthin gesehen hat, weiß ich nicht, denn normalerweise wäre dieser helle Fleck im Gras kaum erkennbar gewesen. Wir sind dann hingegangen und haben festgestellt, dass dort eine Leiche lag.“ Rasul nahm einen Schluck Wasser aus einem Glas, das Margreiter ihm hingestellt hatte. „Es war die Leiche eines kleinen Mädchens, die jemand offenbar unter dem Strauch verbergen wollte.“ Er hielt kurz inne. „Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wenn wir zur Polizei gegangen wären, hätte man doch sicher uns verdächtigt.“

Wieder machte er eine Pause. Margreiter sah den Chefinspektor an, dessen Blick aber nicht verriet, was er dachte.

„Irgendwann kam ich dann auf die Idee, dass es wohl am besten wäre, wenn wir nie hier gewesen wären und das alles nicht zu Gesicht bekommen hätten. Da wir im Umkreis der Stelle, wo die Leiche lag, niemanden gesehen oder gehört hatten, schlichen wir uns davon und versuchten, es zu vergessen, genauso wie wir all das vergessen wollen, was wir bei uns zu Hause erlebt haben.“

Als Viktor in Rasuls Augen sah, während er dessen Erzählung übersetzte, konnte er darin die Enttäuschung und die Verbitterung erkennen, die sein bisheriges Leben geprägt hatten. In diesem Moment schien ihm, dass dieses halbe Kind, das vor ihnen saß, kein Mörder sein konnte. Er blickte zu Weininger hinüber, ob er an ihm die gleichen Gedanken ablesen konnte, aber dessen Gesichtsausdruck war undurchdringlich.

„Sie sagen, das Kind war tot, als Sie hinkamen“, fragte der Chefinspektor weiter. „Ist ihnen an der Stelle, wo es gelegen hat, irgendetwas aufgefallen, das Sie bisher vielleicht nicht für wichtig erachtet haben? Versuchen Sie, sich die Situation wieder zu vergegenwärtigen. Jedes Detail könnte von Bedeutung sein.“

Rasul dachte eine Zeit lang nach. „Ich kann mich an nichts erinnern, wir waren auch nur ganz kurz dort und haben uns die Umgebung so gut wie gar nicht angesehen. Wir wollten nur so schnell wie möglich weg“, antwortete er schließlich.

„Na gut, das reicht“, bemerkte der Chefinspektor, und setzte, zu Margreiter gewandt, hinzu: „Führ’ ihn bitte hinaus und ruf’ unten an, es soll jemand rauf kommen, der ihn in die Zelle bringt. Bevor ich mir den zweiten ansehe, möchte ich dann noch ein paar Worte reden.“

Als Margreiter mit Rasul draußen war, platzte es aus Viktor heraus: „Die sind unschuldig, er sagt die Wahrheit!“

Weininger sah ihn etwas überrascht an. „Und woher willst du das wissen?“ fragte er.

„Das war doch offensichtlich“, erwiderte Viktor, „die Geschichte ist absolut logisch und glaubwürdig, und sie stimmt mit dem überein, was uns der andere heute schon gesagt hat.“

„Ja, logisch und glaubwürdig, oder gut abgesprochen“, bemerkte der Chefinspektor, der zu Viktors Überraschung gar nicht so sicher schien, was er glauben sollte.

„Wieso gut abgesprochen? Sie haben es nicht geschafft, sich über den Weg zu einigen, den sie genommen haben, aber darüber, wie sie sich am Tatort verhalten haben, sollen sie alles bis ins Kleinste vorher festgelegt haben. Das ist doch absurd.“

„Langsam, langsam“, erwiderte Weininger in sehr väterlichem Ton, um Viktors Erregung etwas zu beruhigen, „vielleicht hab’ ich irgendwas nicht mitbekommen. Kannst du mir das noch einmal genau erklären?“

„Ich meine, wenn sie sich vorher wirklich abgesprochen hätten, dann hätten sie doch einfach einen anderen Weg vereinbart, den sie uns übereinstimmend genannt hätten. Dann hätten wir ihnen erst einmal nachweisen müssen, dass sie am Tatort waren. Diese Absprache wäre doch wesentlich nahe liegender und einfacher gewesen, als das zu vereinbaren, was sie beide ziemlich übereinstimmend angegeben haben.“ Viktor versuchte so ruhig wie möglich zu sprechen.

„Was du sagst, ist nicht falsch“, erwiderte Weininger, „aber so einfach liegen die Dinge nicht. Zu leugnen, dass sie am Tatort waren, wäre höchstwahrscheinlich erfolglos gewesen. Wir haben Fußspuren und einen Zeugen. Wenn sie intelligent sind, konnten sie nicht ernsthaft damit rechnen, dass wir es nicht herausbekommen. Da ist die Geschichte mit dem Mädchen, das schon tot war, weit schwerer zu widerlegen. Aber ein Problem werden sie nicht so leicht los. Sie waren zur Zeit des Mordes am Tatort und es ist weit und breit niemand da, der es sonst gewesen sein könnte.“

In diesem Moment kam Margreiter, der Rasul dem diensthabenden Wachebeamten übergeben hatte, herein.

„Lass dich bloß nicht ins Bockshorn jagen“, sagte er zum Chefinspektor, „das klingt alles recht nett, aber die werden dir alles erzählen, wenn sie sich davon irgend einen Vorteil versprechen.“

„Keine Angst, ich kann sie ohnehin nicht laufen lassen. Was hat denn der andere gesagt, außer dass sie dort waren, es aber nicht getan haben?“ fragte er.

„Eigentlich nicht viel, er hat alles ähnlich geschildert wie sein Kumpel, nur geredet hat er nicht so viel. Ehrlich gesagt, ich hätte nicht gedacht, dass du den harten Knochen so schnell zum Reden bringst, Glückwunsch!“, antwortete Margreiter, und die Anerkennung, die er Weininger zollte, fiel ihm sichtlich nicht ganz leicht.

„Also meiner Meinung nach haben sie es nicht getan“, mischte sich Viktor ein, „zwei Versionen, die so übereinstimmend sind, kann man nicht so ohne Weiteres absprechen. Wenn es nicht so gewesen wäre, wie sie sagen, hätten sie sich im Detail in viel mehr Widersprüche verwickelt.“

Viktor war überzeugt von dem, was er sagte, allerdings weniger wegen der Aussagen selbst, als vielmehr wegen des Ausdrucks, den er in den Gesichtern der beiden Afrikaner gesehen hatte.

Den Chefinspektor amüsierte die Unterschiedlichkeit der Überzeugungen, die in diesem Raum aufeinander prallten.

„In Ordnung“, sagte er zu Viktor, „wenn du mir erklärst, welche Details du eigentlich meinst, außer dass der Ort und die Zeit stimmen, wäre ich dir dankbar. Weißt du, mich erinnert das ein wenig an einen schon sehr lang zurückliegenden Fall. Ein junger Mann war in Verdacht, seine Mutter mit einer Flasche erschlagen zu haben. Ich war damals sehr schnell überzeugt, dass er die Tat begangen hatte. Wir haben in der Folge auch alles sehr genau recherchiert, den Tathergang nachvollziehbar rekonstruiert und durch eine Reihe von Indizien belegt: Streit mit der Mutter, kumulierender Zorn und Hass und schließlich der Schlag mit der Flasche auf den Kopf. Vor Gericht hat er dann – offenbar auf Anraten seines Anwalts – alles zugegeben, den Streit, das Geschrei und was es sonst noch gab. Nur eine einzige Sache hat er hartnäckig geleugnet, nämlich dass er den Schlag mit der Flasche ausgeführt hat. Der medizinische Gutachter hat sich davon so beeindrucken lassen, dass er in sein Gutachten alle möglichen Thesen aufgenommen hat, wonach die tödlichen Verletzungen auch von einem Sturz oder einem Anprall ohne Fremdeinwirkung aufgetreten sein könnten. Na ja, das Ergebnis war, dass er im Zweifel freigesprochen wurde. Die Berufsrichter waren damals knapp dran, den Freispruch wegen Rechtsirrtums der Geschworenen aufzuheben, aber sie haben davon wegen der Wirkung in der Öffentlichkeit abgesehen. So ist es eben in der Demokratie, einem Spruch des Volkes wird fast immer entsprochen, auch wenn er noch so dumm ist. Durch dieses Urteil ist dieses Monstrum dann freigekommen. Und was hat er getan? Zwei Tage danach hat er mich beim Einkaufen abgepasst und mir grinsend mitgeteilt, wie sehr er es genießt, dass er der alten Schlampe eins über den Schädel gezogen hat und sie so losgeworden ist.“

„Aber das hat doch nichts mit unserem Fall zu tun“, bemerkte Viktor nachdenklich.

„Doch, ich glaube schon, dass das etwas mit der jetzigen Situation zu tun hat“, entgegnete Weininger darauf, „ich habe gesehen, wie einfach es sein kann, unsere ganze Justiz auszuhebeln. Der einzige Fehler, den du nicht machen darfst, ist zu gestehen. Mit einem Geständnis bringst du dich selbst um Kopf und Kragen. Wenn du aber die Tat selbst standhaft leugnest und die Umstände passen, hast du gute Chancen, ungeschoren davon zu kommen. Genau das haben wir hier. Dass ihre Angaben weitgehend übereinstimmen, ist nicht schwer zu erreichen, auch wenn sie es getan haben. Sie brauchen sie sich ja nur den Mord selbst wegzudenken, dann haben sie schon erreicht, was sie wollen.“

„Also werden sie in Untersuchungshaft überstellt?“, fragte Viktor.

„Wenn in den nächsten achtundvierzig Stunden nicht noch etwas Entscheidendes passiert, werden sie das in jedem Fall, aber das bedeutet nicht, dass ich sie unbedingt für die Mörder halte“, antwortete der Chefinspektor, „wir benötigen zusätzliche Vernehmungen und einen Ortsaugenschein. Den erledigen wir am besten gleich morgen. Solange wir niemand anderen haben, der es getan haben könnte, muss ich bei dieser Beweislage davon ausgehen, dass sie es gewesen sind, auch wenn das Gebäude noch auf etwas wackeligen Beinen steht.“

„Hör dir erst einmal den anderen an“, bemerkte Margreiter erwartungsvoll, „den könnten wir vielleicht heute noch zu einem Geständnis bringen, er ist bei weitem nicht so abgebrüht wie sein Freund.“

„Also, jetzt einmal in Ruhe!“ Für Margreiter und Weininger war überraschend, dass Viktor langsam begann, die Geduld zu verlieren. „Ich meine, interessiert euch eigentlich so etwas wie ein Motiv? Warum sollten die beiden ein achtjähriges Mädchen umbringen?“, fragte er.

„Warum sollte irgendjemand ein achtjähriges Mädchen umbringen?“ Es war offensichtlich, dass Margreiter Viktors plötzliche Probleme weder begreifen konnte noch wollte. „Wenn du jetzt nicht bald von deinem hohen Ross runterkommst und dich einmal mit den Fakten beschäftigst, dann mach am besten Feierabend und überleg’ dir, was für einen Job du zu erledigen hast.“

„Schon gut, Peter“, erwiderte der Chefinspektor. Immer, wenn er Margreiter bei seinem Vornamen nannte, was selten vorkam, horchte dieser auf, denn dann war die Botschaft, die Weininger rüberbringen wollte, von besonderer Art. „Nicht so streng, er macht es noch nicht lang, wir mussten am Anfang auch einige Ideale begraben, um in der Wirklichkeit unsere Arbeit machen zu können.“

Viktor sah ihn etwas schuldbewusst an, er war zu sehr aus sich herausgegangen.

„Es geht nicht um Ideale“, brachte er schließlich als eine Art Rechtfertigung vor, „aber ich kann mir nicht helfen, ich halte die beiden für unschuldig. Man muss ihnen doch nur in die Augen schauen, um zu erkennen, dass sie es nicht getan haben können.“

„Sind das jetzt unsere neuen Ermittlungsmethoden?“ Obwohl er Viktors Erklärung als eine Art Entschuldigung schon akzeptiert hatte, konnte Margreiter sich diese Bemerkung nicht verkneifen. „Ich glaube, wir sollten uns den zweiten Afrikaner noch schnell anhören und dann nach Hause gehen und das Ganze überschlafen. Eine gesunde Nachtruhe bringt festgefahrene Gedanken wieder in Bewegung, und es kommen neue Einsichten, die verhindern, dass man irgendwelchen Hirngespinsten nachläuft.“

„Du hast recht“, bemerkte der Chefinspektor, dem der Gedanke, bald ins Bett zu kommen und morgen alles in Ruhe abzuwägen, gefiel, „bring ihn rein!“

Als Obike den Raum betrat, wirkte er noch schüchterner als am Nachmittag. Nachdem er sich gesetzt hatte, begann Weininger das Gespräch auf ähnliche Art wie bei Rasul.

„Wie hat sich das Ganze aus Ihrer Sicht abgespielt?“, fragte er.

„Das habe ich alles schon gesagt.“ Er zeigte auf Margreiter. „Zu ihm.“

„Ja, das weiß ich, ich möchte aber, dass Sie es mir noch einmal sagen, und wenn Sie sich in der Zwischenzeit an weitere Details erinnern können, möchte ich sie auch hören“, sagte der Chefinspektor wieder mit seiner väterlichen Art.

„Es gibt nichts Neues, ich habe alles gesagt“, erwiderte Obike noch einmal, um dann seine bereits gemachte Aussage zu wiederholen.

„Wir sind in der Siedlung hinter dem Lager spazieren gegangen, wie wir es oft tun, wenn wir von der Stadt kommen. Ich habe dann plötzlich auf der Seite im Gras etwas liegen gesehen. Auch wenn ich es am Anfang kaum glauben konnte, war mir sofort klar, was es war. Rasul und ich haben dann überlegt, ob wir jemanden verständigen sollten, hatten aber Angst, dass alle denken würden, wir wären die Mörder. Deshalb haben wir uns umgesehen, ob uns jemand beobachtet hatte und sind dann einfach weggegangen.“

„Das ist alles? Sonst gibt es nichts zu sagen?“, fragte Weininger.

„Nein“, antwortete Obike, „mehr ist nicht passiert.“

„Wieso haben Sie geglaubt, für die Mörder gehalten zu werden, wenn Sie gleich zur Polizei gehen? Ein Mörder zeigt sein Verbrechen doch normalerweise nicht selbst an, warum sollte die Polizei gerade in diesem Fall so etwas denken?“

Einen Moment lang schien Obike nicht zu wissen, was er darauf erwidern sollte, schließlich begann er aber nachdenklich zu sprechen.

„Wir kommen aus einem Land, in dem es eine gefährliche Sache war, zur Polizei zu gehen, und bei so einer Sache hätte man gute Aussichten gehabt, sofort verhaftet, abgeurteilt und erschossen zu werden. Deshalb gibt es bei uns kaum jemanden, der sich dieser Gefahr aussetzt. Wir haben jetzt so gehandelt, wie wir es von früher gewohnt waren.“

Die Erklärung hatte etwas für sich.

„Ihnen ist klar, dass Sie die einzigen Verdächtigen sind, die wir im Moment haben? Und Sie waren zur Tatzeit am Ort des Verbrechens.“, sagte Weininger. „Glauben Sie nicht, es wäre besser, ein Geständnis abzulegen?“

„Ich kann nicht etwas gestehen, was ich nicht getan habe“, sagte Obike, und seine Lippen begannen dabei zu zittern. „Außerdem waren wir nicht zur Tatzeit am Tatort. Als wir hingekommen sind, war das Mädchen schon tot.“

„Ich habe schon Ihrem Freund gesagt, in Österreich kann man nicht hingerichtet werden, man kann nur lebenslänglich ins Gefängnis kommen, als Jugendlicher aber nicht einmal das. Ein Geständnis ist ein Milderungsgrund. Wenn Ihr Freund vor Ihnen gesteht, werden Sie sicher schwerer bestraft als er, und ich habe das Gefühl, er ist ein ausgekochter Junge. Er wird bald erkannt haben, was das Beste für ihn ist.“ Weininger war nicht besonders stolz auf sich, als er das sagte.

„Wollen Sie, dass ich etwas gestehe, was ich nicht getan habe?“, fragte Obike nicht mehr so ruhig wie vorher, „Und Sie brauchen mir keine Geschichten zu erzählen. Rasul wird bestimmt nichts zugeben. Wir haben schon genug solcher Tricks und noch viel Schlimmeres über uns ergehen lassen, da können Sie sicher sein.“

Der Chefinspektor sah Margreiter an, der neben ihm saß. „Ganz so leicht wird es nicht werden“, sagte er leise zu ihm.

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