Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 15

14:40 Uhr

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Margreiter und Viktor waren gerade von einem der Heurigenlokale der Umgebung zurückgekommen. Gesättigt und gegen den toten Punkt nach dem Mittagessen ankämpfend saßen sie jetzt in ihrem Vernehmungszimmer und warteten auf die nächsten beiden Afrikaner, die vom Aufseher gerade geholt wurden.

„Obike Moury und Rasul Nkoma, aus dem Kongo, beide noch sehr jung, sechzehn Jahre“, las Viktor vom Blatt Papier vor sich. Am Vormittag hatten sie zehn der insgesamt sechzehn aufgelisteten Afrikaner befragt, ohne dass dabei etwas Eindeutiges herausgekommen wäre. Acht hatten ziemlich lupenreine Alibis gehabt, teilweise sogar vom Bewachungspersonal bestätigt, nur bei zwei nicht mehr ganz so jungen waren die Angaben noch zu prüfen. Weder Margreiter noch Viktor glaubten allerdings, sie könnten etwas damit zu tun haben. Es waren zwei Familienväter, zu behäbig, zu saturiert.

„Sechzehn?“, fragte Margreiter. Es waren die mit Abstand Jüngsten, die sie bisher vernommen hatten. „Das sind ja praktisch noch Kinder.“

„Na, ja“, erwiderte Viktor, während er den vor ihm liegenden Akt durchblätterte, „bei ihrer bewegten Vergangenheit könnten sie schon doppelt so alt sein. Nach dem, was sie bisher im Asylverfahren angegeben haben, müssen sie im Kongo mit Verfolgung rechnen, da sie von einer bewaffneten Gruppe geflohen sind. Der Anführer soll sie über ein Jahr gezwungen haben, für ihn zu kämpfen.“

„Du meinst, Kindersoldaten“, erwiderte Margreiter, und er machte dazu einen halb erstaunten, halb erfreuten Gesichtsausdruck, so als hätten sie jetzt eine wesentliche Tatsache herausgefunden, „Jugendliche, die das Töten gelernt haben in einem Alter, in dem andere in die Schule gehen und so etwas wie moralische Werte vermittelt bekommen.“

„Ist wohl anzunehmen, ja“, sagte Viktor, ohne genau zu wissen, worauf Margreiter hinaus wollte.

„Am Ende der Lehre in dieser Vergewaltigungs- und Tötungsmaschinerie, die in großen Teilen Afrikas gang und gäbe ist, kommen sehr oft perfekte Killer heraus, denen jedes moralische Gewissen fehlt und die ……“

„Jetzt versuch’, dich wieder auf die Reihe zu kriegen“, unterbrach Viktor, „du hast sie noch nicht einmal gesehen und redest schon so, als säßen hier zweifelsfrei die Mörder vor uns. Immerhin sind sie dieser Tötungsmaschinerie entflohen, sicher nicht ganz ohne Gefahr für ihr eigenes Leben. Das spricht doch eindeutig für sie. Gerade solche wie die haben eine faire Chance verdient, und wenn sie zu uns kommen, müssen eben wir ihnen die Chance geben.“

„Theoretisch absolut in Ordnung“, erwiderte Margreiter, „allerdings sollten sie sich dann abgewöhnen, kleine Kinder umzubringen. Aber gut, ich geb’s zu, das wissen wir noch nicht. Ich glaube allerdings, ich muss dir deine Träume doch ein wenig zurecht rücken.“

Indem er es sagte, brachte er seine Sitzposition in Ordnung, offenbar um für das folgende Zurechtrücken mehr Standfestigkeit zu haben.

„Bist du wirklich so blauäugig, zu glauben, die kommen her, um endlich ein wertvolles Leben im Dienste der Gemeinschaft zu führen? Soll ich dir sagen, warum die kommen? Es spricht sich nämlich auch nach Afrika durch, dass du hier durchgefüttert wirst und daneben noch gefahrlos Drogen verkaufen kannst. Es muss schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie dich mit Crack oder Ecstasy erwischen. Und wenn das wirklich einmal geschieht, wenn du also blöd genug bist, dich kriegen zu lassen, wie sieht dann die Strafe aus? Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist, dass sie dich dorthin zurückschicken, wo du hergekommen bist, und das auch wieder nur, wenn du ihnen nicht irgendwann durch die Lappen gehst und als U-Boot hier genauso weiter machst wie vorher. Die kommen her, um rauszuholen, was drin ist. Das sind Spieler, sonst nichts. Wenn du sie zurückschickst, tust du nur etwas, was sie ohnehin erwarten.“

„Ja, ja, und alle sind sie natürlich genau gleich. Es sind ja Afrikaner, da gibt’s keine Unterschiede, wie bei uns. Wahrscheinlich sind sie alle geklont. Von denen kommt keiner, um ehrlich zu arbeiten, weil das bei ihm zu Hause nicht möglich war, nein, ganz sicher nicht.“ Viktor konnte nicht verhindern, dass er sich hineinsteigerte. „Überhaupt, Heimat, so was kennen die ja gar nicht. Die wollen was zu fressen haben, und dafür schlagen sie dir bedenkenlos den Schädel ein. Dieser Abschaum, der uns unsere Drittes-Auto- und Fünfter-Fernseher-heile-Welt gefährdet, muss mit aller Härte behandelt werden. Die haben kein Mitleid verdient, die gehören zurückgeschickt, wo sie herkommen, auch wenn sie dort abgeknallt werden, verhungern oder sonstwie verrecken. Mit ihren Flüchtlingskähnen, in denen immer die halbe Besatzung ersäuft, Frauen und Kinder als erste, wollen sie uns ja nur unser gemütliches Abendessen bei den Nachrichten verderben, die Misthunde. Die gehören zertreten wie lästige Kakerlaken. Da sind wir uns natürlich alle einig.“ Nach einer Pause setzte er hinzu: „Also, ehrlich, bei diesem Mist krieg’ ich das Kotzen.“

Margreiter war harte Bandagen gewohnt und konnte damit umgehen. Er hatte auch brav bis zum Schluss mit halb erstauntem, halb belustigtem Gesicht zugehört, inzwischen darauf gefasst, dass Viktor dazu tendierte, in seinen Ansichten etwas unberechenbar zu sein.

„Schön langsam kannst du dich wieder auf die Reihe kriegen, du Rächer der Enterbten“, erwiderte er, „Gott sei Dank hast du die absolut objektive Sicht. Du kennst dich aus, das merkt man wirklich. Ich möcht’ dich sehen, wenn ……“

Ein Klopfen an der Tür beendete das Geplänkel, gerade rechtzeitig, bevor die Anwürfe begannen, persönlich zu werden. Viktor stand auf, öffnete und nahm die beiden Afrikaner vom Aufseher in Empfang. Sie wirkten auf ihn wie verschüchterte Kinder. Einen kurzen Moment lang kam es ihm absurd vor, diese harmlosen, fast Mitleid erregenden Gestalten in Verbindung mit einem Mordfall zu bringen. Aber unmittelbar darauf dachte er an einige der Kriminellen, die er in seiner Ausbildung kennen gelernt hatte. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vor Schüchternheit kein Wort herausbrachte, wenn man ihm eine Frage stellte, aus dessen Akt aber hervorging, dass es wegen zwanzig Euro eine alte Frau mit einem Stein erschlagen hatte. Oder die Eltern, die ihren Säugling zu zweit – so als würde es einer nicht schaffen und bräuchte Verstärkung – mit dem Bügeleisen, kochendem Wasser und anderem traktiert hatten und beim Verhör wirkten wie du und ich, nette Typen, mit denen man einen Kaffee trinken geht oder eine Partie Schach spielt. Nein, nach dem Äußeren zu gehen, hieß, der Wahrheit von Beginn an jede Chance zu nehmen. Und doch hatte er sich immer dagegen gewehrt, zu akzeptieren, dass sein Gefühl – im Grunde das Einzige, auf das er wirklich vertraute – ihn so in die Irre führen konnte.

„Bitte, nehmen Sie Platz“, begann er in seinem perfekten Schulenglisch und ließ dann ein paar erklärende Worte folgen, wie bei allen anderen, die sie in der Zwischenzeit befragt hatten. Die Vorgeschichte der beiden – Kindersoldaten im Kongo – veranlasste ihn zu etwas genaueren Fragestellungen darüber, was sie in ihrem Heimatstaat gemacht hatten. Es waren aber kaum Einzelheiten aus ihnen herauszubekommen. Wo es ging, antworteten sie ausweichend.

„Was haben Sie am Donnerstag zwischen vier und sechs Uhr nachmittags gemacht?“, kam er schließlich zur Sache.

„Wir sind in der Stadt spazieren gegangen.“ Es war Rasul, der es gesagt hatte. Sein Englisch war ganz gut verständlich. Sofort als die Worte seinen Mund verlassen hatten, kam allerdings sowohl Viktor als auch Margreiter irgendetwas seltsam vor. Sie sahen sich kurz an und wussten es plötzlich beide. Rasul hatte nach der Frage so gut wie gar nicht nachgedacht, so als hätte er sie erwartet.

„Können Sie das etwas genauer beschreiben? Welchen Weg haben Sie genommen? Sind Sie bei Ihrem Spaziergang gesehen worden?“, fragte Viktor weiter, da keiner der beiden Anstalten machte, der recht allgemein gehaltenen Antwort etwas hinzuzufügen.

„Es war im Stadtzentrum, da ist um diese Zeit am meisten los“, erwiderte Rasul, diesmal nach einer kurzen Nachdenkpause, „ich glaube nicht, dass sich jemand an uns erinnern kann, es waren sehr viele Leute dort.“

Welchen Weg sind Sie gegangen?“, wiederholte Viktor die Frage, auf die er keine Antwort bekommen hatte.

„Den Weg, den wir meistens gehen, einfach die Hauptstraße hinunter“, antwortete Rasul.

Margreiter flüsterte Viktor etwas ins Ohr, stand auf, ging zu Obike und bat ihn kurz hinaus. Draußen saß der Aufseher, der sie hergebracht hatte, und nahm etwas überrascht den ihm Anvertrauten in Gewahrsam. Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte, legte Margreiter Rasul den Stadtplan, den er vorsorglich mitgenommen hatte, hin und bat ihn, den Weg, den sie ins Stadtzentrum und zurück genommen hatten, einzuzeichnen.

„Ich verstehe dieses Papier nicht. Wie soll ich wissen, wo wir da gegangen sind? Ich kann mich auch gar nicht mehr so genau erinnern“, sagte Rasul, ohne sich überhaupt mit dem Plan auseinander zu setzen. „Wir gehen oft in die Stadt und nehmen jedes Mal irgendeinen Weg. Ich habe keine Ahnung, wie wir an dem Tag, den Sie genannt haben, gegangen sind?“

„Aber Sie haben doch sofort gewusst, dass Sie in der Stadt waren“, bemerkte jetzt wieder Viktor. „wieso fällt es Ihnen plötzlich so schwer, sich an den Weg zu erinnern?“

Man konnte zusehen, wie Rasul mit jedem Moment nervöser wurde und unruhig auf seinem Sessel hin- und her rutschte. Er sagte nichts mehr. Margreiter und Viktor warteten etwa eine Minute, ohne die Miene zu verzeihen. Schließlich stand Margreiter auf, öffnete die Tür und wandte sich leise an den Aufseher.

„Wir können doch davon ausgehen, dass die Personen, die Sie zu uns bringen, keine Messer oder sonstigen Waffen bei sich tragen.“

„Ja, ja, selbstverständlich“, erwiderte das Wachorgan, „wir haben sie nach Verlassen des Speisesaals durchsucht, die sind garantiert sauber.“

„Gut“, erwiderte Margreiter, „wir müssen mit unseren beiden Freunden hier eine etwas genauere Befragung durchführen, bei der wir sie wahrscheinlich mehrmals abwechselnd vernehmen werden. Ich würde ihnen sicherheitshalber raten, einen Kollegen beizuziehen, man weiß nicht, was ihnen einfallen kann, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen.“

„In Ordnung“, sagte der Aufseher dienstbeflissen und rief einen Kollegen am Handy an, der nach ein paar Minuten erschien.

Sofort als er kam, wurde Obike hereingeholt, während Rasul draußen zu warten hatte. Man sah Margreiter an, dass er Blut geleckt hatte, denn er übernahm jetzt das Fragen, während er Viktor anwies, so genau wie möglich zu protokollieren.

„Ihr Freund hat uns auf dem Plan gezeigt, welche Straße Sie in die Stadt und welchen Weg Sie wieder zurück zum Lager genommen haben. Damit wir die Sache abhaken können, ersuche ich Sie, uns ebenfalls zu beschreiben, wie Sie gegangen sind.“

Margreiter stand auf, ging auf die andere Seite des Tisches und hielt ihm den Plan hin, während er neben ihm stand und jede seiner Bewegungen beobachtete. Obike trat sichtbar der Schweiß auf die Stirn. Eine halbe Minute lang sah er verzweifelt auf das Papier.

„Ich kann nicht sagen, wie wir gegangen sind, ich kenne mich auf dieser Karte nicht aus und ich habe es auch vergessen.“

„Könnten Sie es rekonstruieren, wenn wir mit Ihnen den Weg gehen?“, fragte Margreiter.

„Nein, ich habe es vergessen“, entgegnete Obike.

Viktor sah seinen Gesichtsausdruck an, als er verzweifelt versuchte, der taktischen Übermacht der beiden Erhebungsbeamten zu trotzen. Es erkannte Angst darin, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Dennoch sagte sein Gefühl ihm etwas anderes als das, was die offensichtlichen Fakten nahe zu legen schienen. Sie hatten hier zwei ausgebildete Mörder vor sich, die nicht willens waren, einfache Fragen zu beantworten, weil sie fürchteten, sich in Widersprüche zu verwickeln. Für eine Festnahme würde das eigentlich schon ausreichen und auf dem Revier würden sie sie dann ohne jede Frage weichkochen. Aber Viktor konnte es nicht glauben.

Plötzlich, ohne Vorwarnung, hielt Margreiter dem jungen Afrikaner ein Bild von Jacqueline Zeiringer hin.

„Haben Sie dieses Mädchen schon einmal gesehen?“, fragte er, so streng er konnte.

Obike zuckte so auffällig zusammen, dass er nicht ernsthaft glauben konnte, den Polizisten wäre dies entgangen.

„Nein“, sagte er unverzüglich, ohne darüber auch nur nachgedacht zu haben.

„Ihre Reaktion hat aber etwas anderes gesagt“, bemerkte Margreiter.

Schweigen von Obike.

Margreiter öffnete wieder die Tür und führte einen Wechsel bei den Befragten durch. Er zeigte auch Rasul das Bild, der angab, keine Ahnung zu haben, wer das sei. Er habe sie noch nie gesehen. Anschließend ließ er ihn wieder eine halbe Minute sitzen.

„Wissen Sie eigentlich, warum Sie beide hier sitzen?“, fragte er schließlich.

„Sie haben gesagt, dass es um ein Verbrechen geht, mehr weiß ich nicht“, antwortete Rasul mit undurchdringlicher Miene.

„Und haben Sie keine Idee, warum wir gerade Sie hier so lange befragen?“

„Nein!“

Es war offensichtlich, dass aus Rasul nur schwer etwas herauszubekommen sein würde. Margreiter, der das erkannt hatte, stellte ihm daraufhin plötzlich Fragen, die mit dem Verbrechen nichts zu tun hatten. Von wo genau er kam, was er in seiner Heimat gemacht habe. Schon vom Verlauf zu Beginn der Vernehmung hätte er eigentlich wissen müssen, dass Rasul in diesen Dingen nicht besonders redselig war. Viktor, der protokollierte, wusste zuerst mit Margreiters Vorgangsweise nichts anzufangen, bis er verstand. Es ging nicht um Rasul, aus dem war ohnehin nichts herauszukriegen. Margreiter wollte damit Obike weich kochen, der draußen wartete, und für den sich die Tür jederzeit wieder öffnen konnte. Je länger aber Rasul drinnen blieb, umso mehr musste er erzählt haben.

Flucht

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