Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 3

Montag, 20. September 20:30 Uhr

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Sie erwachte auf einem Bett in einem fensterlosen Raum. Ihr Kopf war schwer, sie vermochte ihn kaum zu heben. Zweifellos hatte man ihr ein Narkotisiakum verabreicht. Nur langsam fand sie den Weg zurück in die Realität. Die Dunkelheit um sie herum ließ die wirren Träume, die ihren Schlaf beherrscht hatten, noch weiter wirken.

Was war passiert? Welche ihrer Erinnerungen waren wirklich geschehen und was entstammte den Trugbildern, die noch immer ihr Bewusstsein beherrschten?

Sie dachte zurück, an die Flucht aus ihrem Dorf, nicht weit von Urus-Martan, wo sie in Tschetschenien gelebt hatte. All ihre Ersparnisse waren für dieses ungewisse Abenteuer draufgegangen. Die beiden Männer, die den Transport geleitet hatten, hatte sie nicht einmal gekannt, es war eine Freundin gewesen, die ihr von der Möglichkeit erzählt hatte, ihre Heimat und ihr Elternhaus zu verlassen, um die Chance auf ein besseres Leben im Westen wahr werden zu lassen. Es hatte geheißen, dort, wo man sie hinbrachte, wären die Aufenthaltserlaubnis und ein Job, von dem man gut leben konnte, kein Problem, alles sei organisiert.

Die Fahrt Richtung Westen im Laderaum eines Klein-LKW verlief dann tatsächlich ohne größere Probleme. Trotz ständiger Angst, entdeckt zu werden, erwies sich ihr Versteck als so gut, dass sie es unbehelligt bis hierher schafften. Hier mussten sie plötzlich raus aus dem Wagen und wurden kurz darauf von Grenzwachebeamten aufgegriffen. Da sie sofort einen Asylantrag stellten, wurden sie schließlich in ein riesiges Flüchtlingslager überstellt. Die Fahrt dorthin hatte eine gute Stunde gedauert. Wo genau es sich befand, wusste sie nicht. Es war irgendwo in diesem Land, das sie nicht kannte und das sie auf so verschlungenen Wegen erreicht hatte.

Bis zu den Tagen im Lager – es konnten nicht viele gewesen sein – war ihre Erinnerung gestochen scharf. Danach fing alles an, nebelig und lückenhaft zu werden. Nur unscharfe Bilder von den weiteren Ereignissen tauchten immer wieder auf: wie sie in der Nacht von Männern durch die Gänge geführt wurde, wie sie sie zwangen, in ein Auto zu steigen, eine Art Lieferwagen. Dann verloren sich die Bilder, alles weitere bestand nur aus zusammenhanglosen Bruchstücken, die sie nicht mehr zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen vermochte, so sehr sie es auch versuchte.

Eine Zeit lang blieb sie liegen und ließ die Erinnerungen vorüberziehen, ohne darüber nachzudenken, wo sie sich befand und was das alles zu bedeuten hatte, so weit war sie noch nicht.

Irgendwann, unmerklich aber stetig, und ohne dass sie etwas dagegen zu tun vermochte, begann ein Gefühl der Angst in ihr hochzukriechen und sich in ihrem Kopf einzunisten. War es zunächst nur eine dumpfe Empfindung, die ohne ihr Zutun durch ihre Gedanken schweifte, so übernahm dieses Gefühl langsam in dem Maße die Oberhand, in dem ihr die völlige Ohnmacht ihrer Lage immer bewusster wurde.

Ekel stieg in ihr hoch, sie meinte, sich übergeben zu müssen und beugte sich über die Bettkante, aber nichts geschah. Dieser Abscheu, der sie durchdrang, lag tiefer, er konnte nicht durch die Entleerung des Magens überwunden werden. Sie streckte sich wieder auf dem Bett aus, und fühlte, nach und nach das volle Bewusstsein erlangend, dass sie nichts tun konnte als liegen zu bleiben und die Angst ihren Körper durchströmen zu lassen.

So verharrte sie eine Weile, vielleicht waren es Minuten, vielleicht eine Stunde. Irgendwann, so unmerklich, wie die Furcht von ihr Besitz ergriffen hatte, begann sie langsam, sich an dieses Gefühl, wenn es sie auch nicht verließ, zu gewöhnen. Sie fand sich damit ab, dass es bei ihr bleiben würde und schaffte es dennoch, wieder Gedanken zu fassen und festzuhalten.

Sie blickte um sich, versuchte, trotz der Dunkelheit, die sie umgab, etwas zu erkennen und schaffte es schließlich, einen schwachen Lichtschimmer hinter dem Bett wahrzunehmen. Bedächtig erhob sie sich. Der Schwindel, der sie durchfuhr, machte ihr das Mittel, das in ihrem Körper wirkte, wieder bewusst. Zu stehen gelang ihr nur mit Mühe. So hatte es sich als Kind angefühlt, wenn das Fieber sie am Höhepunkt einer Grippe niederdrückte und sie jeden Gang zur Toilette nur schwankenden Schrittes, sich an jedes verfügbare Möbelstück klammernd, zurücklegen konnte. Schließlich gelang es ihr, die Ursache des kaum wahrnehmbaren Schimmers zu erkennen. Es war eine Tür, an deren unteren Ende sich der selbst nur schwache Lichtschein des angrenzenden Zimmers einen Spalt breit Eintritt verschaffte.

Plötzlich wurde der Spalt unter der Tür heller und Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Zwei oder drei Männer hatten das Nebenzimmer betreten und dort helleres Licht eingeschaltet. Sie sprachen russisch, soweit sie es verstehen konnte. Augenblicklich fühlte sie wieder, wie die Angst lähmend von ihr Besitz ergriff und sie stürzen ließ, da öffnete sich auch schon die Tür, ein vierschrötiger Kerl erschien darin und schaltete auch in diesem Raum das Licht ein, eine Neonröhre an der Decke, die mehrmals flimmerte, bevor sich ihr Leuchten beruhigte.

„Was liegst du da am Boden, verdammte Schlampe“, schrie der Mann auf Russisch, während er sie mit grobem Griff am Arm packte, „der Chef will dich sehen.“

Sie spürte schmerzhaft seine zupackenden Hände und ließ sich fort ziehen, ohne Widerstand zu leisten oder auch nur zu wissen, wie ihr geschah. Als sie das angrenzende Zimmer durchquerten, erkannte sie im Vorübergehen einen Kellerraum, eine Art Kammer, spärlich möbliert und mit seltsamen Utensilien ausgestattet. Über eine Treppe gelangten sie in einen Gang, in dem von einem angrenzenden Raum Musik hörbar war.

An dessen Ende erschien eine Tür, vor der sie stehen blieben. Der muskelbepackte Russe klopfte, während er sie weiter festhielt. Es öffnete ein Typ von ähnlichem Kaliber und ihr Begleiter stieß sie hinein.

Der Raum, den sie betraten, war im Gegensatz zu allem anderen, was sie in diesem Gebäude bisher gesehen hatte, gediegen, fast luxuriös eingerichtet. Die Wände verbreiteten einen rötlichen Schimmer durch die Samttapeten, mit denen sie ausgeschlagen waren. Sie trugen Kristallluster mit Jugendstilornamenten. Auch das Mobiliar strahlte durchwegs fast übertriebene Eleganz aus. Neben einem in stilvollem Mahagoni gehaltenem Schreibtisch erstreckte sich eine geschwungene cremefarbene Ledersitzgruppe mit einem Couchtisch aus geschliffenem Kristallglas.

An einem Schreibtisch am anderen Ende des Raums saß jemand, dessen Aussehen ihr verborgen blieb, da zwei Männer mit dem Körperbau von Bodyguards vor ihm standen, um ihn zu verdecken. Sie durfte sein Gesicht nicht sehen, so viel war klar. Zwischen den beiden vierschrötigen Gestalten hindurch konnte sie nur wahrnehmen, dass er einen Anzug trug.

Er sagte etwas in ihre Richtung, seine Stimme hatte etwas Unbestimmtes, Seelenloses in ihrem Klang, etwas, das nichts über die Person dahinter verriet. Sie konnte ihn nicht verstehen, glaubte aber, die harten Betonungen der deutschen Sprache erkannt zu haben.

Ihr Begleiter stieß sie grob in die Rippen.

„Ich hoffe, jetzt wirst du mich verstehen.“ Der Mann im Anzug versuchte es diesmal auf Englisch, das sie leidlich beherrschte. Er sprach nicht unfreundlich, aber gerade dadurch bekam seine seltsam leere Stimme etwas zutiefst Beunruhigendes.

„Lajla, richtig?“, fragte er.

Sie nickte.

„Du weißt, wo du hier bist?“

Kaum wahrnehmbar schüttelte sie den Kopf.

„Nun, dann wird es Zeit, dass es dir jemand erklärt. Wir sind hier ein Club. Die Leute, die zu uns kommen, haben eine Menge Geld, das sie hier ausgeben wollen. Deswegen soll ihnen auch etwas geboten werden. Dafür seid ihr zuständig, du und die anderen Mädchen. Du wirst sie bald kennen lernen. Sie werden sich um dich kümmern und dir alles beibringen, was du benötigst.“

Er machte eine Pause.

„Dafür kümmern wir uns auch um dich. Du brauchst keine Angst zu haben, du wirst nicht dorthin zurück geschickt, wo du herkommst. Alles ist ganz legal, wir besorgen dir auch Papiere. Die bleiben natürlich bei uns, für den Fall, dass wir kontrolliert werden.“

Wieder unterbrach er seinen Redefluss.

„Mit Außenstehenden, egal ob Kunde oder jemand anderer, hast du keine Gespräche zu führen, sonst wirst du Probleme bekommen. Mach deine Arbeit, und das gut, im Übrigen halt’ den Mund.“

Die Art, wie er das sagte, diese seltsame Mischung aus Freundlichkeit und Drohung, ließ Lajla mehr erschauern, als wenn er sie angebrüllt hätte.

„Im Grunde wär’s das“, setzte er fort, „am besten du suchst jetzt die anderen auf, damit sie gleich mit deiner“ – er machte eine Pause – „,Einschulung‘ beginnen.“

Der Russe nahm sie wieder mit dem bereits bekannten durchdringenden Griff am Arm mit sich.

„Ach ja, etwas habe ich noch vergessen.“ Kurz vor Erreichen der Tür zwang ihr Begleiter sie, sich noch einmal umzudrehen. „Es wäre nicht klug von dir, zu versuchen, von hier wegzukommen. Es ist noch keiner gelungen. Du kannst mir glauben, wir kriegen dich, und was dich dann erwartet, willst du lieber nicht wissen. Aber damit du auch einen Eindruck davon bekommst, was in so einem Fall mit dir geschieht, wird dir Sergej einen Vorgeschmack davon geben. Das kann ich dir leider nicht ersparen.“

Nach diesen Worten öffnete ihr Begleiter die Tür und riss sie, etwas grober und brutaler als zuvor, mit sich, die Richtung, die sie zuvor gekommen waren, zurück. Sie ging mit wie in Trance. Als sie die Stufen ins Kellerabteil hinab stieg, überfiel sie das Gefühl hinabzugleiten, einzutauchen in einen See, einen kalten See aus Schmerz und Tränen, in dem sie ertrinken würde, ohne irgendetwas dagegen tun zu können.

Flucht

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