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Donnerstag, 7. Oktober 8:30 Uhr

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Punkt halb neun Uhr morgens erschienen Margreiter und Viktor bei Direktor Schirmer und übergaben ihm die Liste der Lagerbewohner, die sie im Laufe des Tages befragen wollten. Durch die Auswahlkriterien, die den Personenkreis immer weiter eingegrenzt hatten, waren es jetzt nur noch sechzehn Namen. Es sollten immer zwei von ihnen gleichzeitig an die Reihe kommen, und zwar jeweils die beiden mit übereinstimmendem Einreisedatum und Herkunftsland. Sie erzielten mit Schirmer auch Einvernehmen über die genaue Vorgangsweise, wie das Ganze ablaufen sollte. Zwei der Aufseher wurden angewiesen, beim Frühstück alle Betroffenen zu informieren, dass sie heute das Lager wegen der Befragung nicht verlassen durften. Nach Beendigung ihres Frühstücks sollten die ersten beiden dann vorgeführt werden.

„Ich hoffe nur, wir haben nichts übersehen“, sagte Viktor, während sie vor dem Raum, den ihnen Schirmer für die Vernehmungen zur Verfügung gestellt hatte, warteten.

„Keine Angst“, erwiderte Margreiter, bemüht, seine Sicherheit und Routine hervorzukehren, „ich bin sicher, die haben wir schneller, als wir glauben.“

Er setzte sich auf eine im Flur neben der Zimmertüre aufgestellte Holzbank und begann, in einer mitgebrachten Zeitung zu blättern, während Viktor auf und ab ging.

„Ist eigentlich wie im Bau hier“, begann Viktor nach einer Weile. Seltsamer Weise weckten die Stille und die bedrückende Atmosphäre dieser Mauern in ihm das Bedürfnis, Margreiter seine spontan ins Bewusstsein gerückten Gedanken mitzuteilen, obwohl das sonst gar nicht zu ihm passte. „Knast mit gelegentlichen Ausflügen, mehr ist das nicht. Hier hast du das Gefühl, als müsstest du mit dem Kopf gegen die Wand donnern. Wenn ich in diesem Bunker ein paar Wochen verbringen müsste, würd’ ich sicher durchdrehen. Keine drei Tage hielte ich’s hier aus, dann wär’ ich schon weg. Irgendwo, wo’s besser ist als in diesem Loch.“ Er schlurfte zum Fenster. „Und wenn ich mir die mit den Wachhunden da draußen ansehe, dann komm’ ich mir sowieso vor wie im KZ.“

Viktors plötzliches Mitteilungsbedürfnis stieß bei Margreiter nicht auf grenzenlose Begeisterung.

„Hat’s dich jetzt erwischt?“, fragte er entgeistert.

„Wieso soll’s mich erwischt haben?“, erwiderte Viktor. „Du willst doch nicht bestreiten wollen, dass das hier ein Anachronismus ist. Man denkt, man ist in einen Film über das dritte Reich hineingeraten.“

Langsam aber sicher ging er Margreiter auf die Nerven.

„Alles klar! Wir sind hier im KZ und die in der Uniform sind natürlich die Bösen“, antwortete er scharf, „wenn du so denkst, was machst du dann eigentlich bei der Polizei? Die Wärter hier wissen schon, warum sie mit Hunden patrouillieren, das garantier’ ich dir. Die, die irgendwo auswandern, sind nämlich nicht immer die besten Köpfe des Landes. Die meisten davon kann man wohl eher als Bodensatz beschreiben. Was glaubst du, warum fast jeder Drogenhändler, den wir dran kriegen, schwarz ist? Das liegt daran, dass die meisten das tun, was sie zu Hause gelernt haben und am besten können, nämlich sich ohne geregelte Arbeit mit Kleinkriminalität über Wasser zu halten. Wenn das die Leute sind, die du gern bei uns im Land haben möchtest, dann ohne mich. Und wenn wir keine Schranken setzen, strömen die in Massen zu uns.“

Einen Moment lang wusste Viktor nicht, was er darauf sagen sollte.

„Außerdem, was hast du eigentlich gegen Hunde?“, setzte Margreiter nach, der durch seine allwöchentlichen Ringkämpfe mit Riesenkalibern von Rottweilern, Doggen und Hovawarts eine besondere Beziehung zu seinen Vierbeinern aufgebaut hatte.

„Bei uns hat jeder das Recht, menschenwürdig behandelt zu werden“, erwiderte Viktor schließlich, „“wenn ich diese Überzeugung bei der Polizei aufgeben muss, bin ich hier wahrscheinlich wirklich fehl am Platz. Für jeden Einheimischen gilt die Unschuldsvermutung. Aber Ausländer, die die schlimme Verfehlung begehen, bei uns leben zu wollen, werden von Anfang an behandelt wie Schwerkriminelle.“

„Hast du diesen Scheiß in der Polizeischule auch schon von dir gegeben? Wenn ja, würd’s mich wundern, dass du noch dabei bist, denn normalerweise kriegen’s solche Typen von den Kameraden so in die Fresse, dass sie’s nicht einmal mehr wagen, unter der Tür durchzukriechen. Und von wegen menschenwürdige Behandlung: Fahr einmal dorthin, wo diese Möchtegern-Asylanten alle herkommen und benimm’ dich so, wie die’s hier tun. Mich würd’ interessieren, in wie vielen Einzelpaketen sie dich dann zurückschicken.“

„Ich bin stolz, dass es was gibt, was uns von diesen Ländern unterscheidet, oder zumindest unterscheiden sollte, denn manchmal frag ich mich, wo ich lebe. So was wie ein faires Asylverfahren gibt’s doch nur auf dem Papier. Die Asylwerber, die zu uns kommen, sind meistens schneller wieder weg, als sie bis drei zählen können ……“

„Das ist auch kein Wunder“, unterbrach ihn Margreiter, „die können nämlich gar nicht bis drei zählen, jedenfalls nicht auf Deutsch.“

Viktor würdigte diese Äußerung keiner Bemerkung. „Unser Asylverfahren ist nicht auf Wahrheitsfindung aufgebaut“, fuhr er fort, „sondern hat nur den Zweck, all’ die, die nicht auf ihre Rechte pochen und zu wenig Eloquenz haben, um ihren Asylanspruch ausreichend darlegen zu können, sofort dorthin zurück zu schicken, wo sie herkommen, egal ob sie dort vergewaltigt, interniert oder umgebracht werden. Du kannst mir glauben, ich weiß, wovon ich rede, ich war während meiner Ausbildungszeit einen Monat lang einer Erstaufnahmestation zugeteilt, dort hab’ ich mitbekommen, wie die Asylwerber in der Praxis behandelt werden.“

Gerade als Margreiter zur Antwort ansetzte, waren Schritte hörbar. Ein Aufseher – natürlich mit Schäferhund – kam mit zwei Schwarzen den Gang herunter. Während der Übergabe erklärte er ihnen, dass er den Auftrag habe, für die Dauer des Verhörs vor dem Zimmer zu bleiben. Margreiter war nicht ganz klar, warum, es konnte nur eine Idee Schirmers sein. Er hatte aber nichts dagegen, denn falls sich Einzelbefragungen als notwendig erweisen sollten, konnte er in der Zwischenzeit den zweiten Verdächtigen in Gewahrsam nehmen.

Schließlich saßen sie nach kurzem Händeschütteln zu viert im kahlen Zimmer, das außer einem Holztisch mit vier dazu passenden Sesseln, einem Aktenschrank und einer vergilbten Fotografie in einem schmalen Holzrahmen an der Wand – dem Motiv nach eine Impression aus den Alpen – nichts enthielt. Auf dem Tisch stand ein Notebook samt Drucker, Dinge, die Viktor vom Polizeikommando mitgenommen hatte, um die Protokolle sofort schreiben zu können. Durch ein recht hohes Fenster, bei dem die weiße Farbschicht schon abzublättern begann, kam aufgrund des trüben Oktobertages gerade so viel Licht herein, dass Margreiter darauf verzichtete, die über der Mitte des Raumes schwebende Leuchtstoffröhre einzuschalten, da er das sterile Neonlicht tagsüber nicht leiden konnte. Von der Beiziehung eines Dolmetschers hatte man abgesehen. Viktor sprach ausgezeichnet Englisch.

„Wir sind von der Kriminalpolizei und haben ein Verbrechen aufzuklären“, wandte er sich an die beiden Schwarzen, die dasaßen wie beim Firmungsunterricht und der Dinge harrten, die sie erwarteten. Einer war fünfundzwanzig, der andere sechsundzwanzig Jahre alt. Sie kamen beide aus Nigeria und waren seit knapp fünf Wochen hier im Lager in Dreistätten.

„Wir halten es für möglich, dass Sie uns Hinweise geben können, die dazu beitragen, dieses Verbrechen aufzuklären“, sprach Viktor weiter, „bitte nennen Sie uns zunächst Ihre Namen.“

„Mein Name ist Kafil Obeti“, sagte der eine, worauf auch der andere mitteilte, wie er hieß. Sie sprachen beide weitgehend korrektes Englisch, wenn auch mit deutlichem Akzent. Um die Identität eindeutig festzustellen, fragte Viktor auch ihre Geburtsdaten ab und kam anschließend gleich zur Sache.

„Bitte sagen Sie uns, was Sie vorgestern zwischen vier und sechs Uhr nachmittags gemacht haben.“

Kurzes Schweigen entstand. Der Afrikaner ließ sich noch einmal die genaue Zeit angeben.

„Wir waren …… beide hier im Lager“, sagte Kafil, offensichtlich der Sprecher der Beiden. Sein Englisch war etwas besser als das seines Freundes. „Wir haben drüben im Speisesaal den ganzen Nachmittag gespielt.“

„Gibt es Personen, die das bestätigen können?“, fragte Viktor weiter, während er nebenbei in sein Notebook hämmerte.

„Ja, jede Menge, sicher zehn Personen.“ Er nannte Viktor eine Reihe von Namen in einer Geschwindigkeit, die diesen mehrmals nachfragen ließ. Die richtige Schreibweise blieb dabei ohnehin ein unlösbares Problem. Von den meisten wusste Kafil auch den Nachnamen. Margreiter kontrollierte daraufhin ihre eigene Vernehmungsliste auf diese Namen und entdeckte zwei sehr ähnlich klingende, die er auf einen Zettel schrieb und den Afrikanern mit der Frage hinhielt, ob es die waren, was sie bejahten.

Viktor wusste daraufhin, was er zu tun hatte. Er öffnete die Tür und ersuchte den Wärter, die beiden als nächste zu holen, um zu verhindern, dass sie in der Zwischenzeit, während andere befragt wurden, mit Kafil und seinem Freund reden konnten. Wenn sie das Alibi bestätigten, konnten sie die vier von ihrer Liste streichen.

„Haben Sie bei irgendeinem der Lagerbewohner vorgestern Abend oder gestern ein Verhalten bemerkt, das Sie als auffällig bezeichnen würden, wirkte jemand besonders nervös oder legte ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag?“, fragte Margreiter, während sie auf die nächsten beiden warteten, nicht in so gekonntem Englisch wie Viktor, aber es reichte, um von den Afrikanern einigermaßen verstanden zu werden.

Kafil, der sich automatisch angesprochen fühlte, dachte kurz nach, um schließlich zu verneinen.

„Wie verbringen sie ihre Tage hier im Lager?“, fragte Viktor.

„Wir machen nichts Besonderes, meistens sind wir hier drinnen und vertreiben uns irgendwie die Zeit, nur hin und wieder gehen wir in die Stadt. Vorgestern waren wir fast den ganzen Tag hier.“

„Gibt es andere, die öfter unterwegs sind?“, fragte Margreiter, der den Faden, den Viktor gesponnen hatte, aufnahm.

„Ja, schon, …, das heißt, ich weiß nicht“, antwortete Kafil ausweichend.

In diesem Moment klopfte es und die nächsten beiden standen mit dem Aufseher vor der Tür.

Sie wurden angewiesen, noch etwas zu warten, während Viktor das Protokoll ausdruckte, das von den beiden Afrikanern ohne weiteres unterschrieben wurde.

Schließlich öffnete er die Tür, übernahm die einen und entließ die beiden anderen. „Das wird heute noch ein langer Tag“, flüsterte Margreiter Viktor zu, während sie sich ihren zweiten Gesprächspartnern gegenüber an den Tisch setzten.

Flucht

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