Читать книгу Flucht - Marian Liebknecht - Страница 22

08:10 Uhr

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Viktor holte am Eingang seinen Dienstausweis hervor und teilte dem Portier mit, dass er polizeiliche Erhebungen führen müsse, worauf er zu Direktor Schirmer geführt wurde. Am Morgen im Polizeikommando hatte er den Chefinspektor überzeugen können, dass es sinnvoll wäre, das Umfeld der beiden Afrikaner noch genauer zu beleuchten. Die darauf folgende Bemerkung Margreiters, ob er vielleicht auch eine Dienstreise in den Kongo vorhabe, hatte zwar an ihm genagt, seit er dessen Einstellung zu den beiden Verdächtigen kannte, nahm er diese Dinge allerdings nicht mehr besonders ernst. Etwas mehr störte ihn da schon, dass er sich bei Weiniger aufgrund der eher gleichgültigen Einwilligung in seinen Vorschlag nicht sicher war, ob er ihn die Nachforschungen aus Überzeugung anstellen ließ oder mit dem Hintergedanken, er werde sich dort schon die Hörner abstoßen, um in Zukunft von solchen Ideen geheilt zu sein. Aber egal, was der Grund auch sein mochte. Am Wichtigsten war ihm, dass er weiter versuchen konnte, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.

In solchen Dingen war Viktor immer Idealist gewesen. Mit achtzehn war er für ein Jahr nach Amerika gegangen. Danach hatte er ein Studium angefangen, Rechtswissenschaften, um ein halbes Jahr später dahinter zu kommen, dass ihn im Grunde nur das Strafrecht interessierte. Mit den anderen Fächern, Bürgerliches Recht, Verwaltungsrecht, Wirtschaftsrecht und was es sonst noch gab, hatte er nicht viel anfangen können. Vor allem hatte er sich nie an den Gedanken gewöhnen können, die nächsten Jahre in kaum etwas anderes vertieft zu sein als in dicke Wälzer zu diesen Themen. Auch was das Strafrecht betraf, war es weniger die Theorie gewesen, die Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte, als vielmehr die praktische Lösung der Fälle vor Ort. Als er noch in die Schule gegangen war, hatte er in Unterrichtsstunden, die ihn langweilten, oft Agatha-Christie-Romane unter dem Bankfach gelesen, fasziniert über den Scharfsinn, mit dem Hercule Poirot auch noch die letzten Geheimnisse eines Falles ans Tageslicht brachte. Aus diesen Gründen war er unmittelbar nach seinem Intermezzo an der Universität zur Polizei gegangen, und zwar von Anfang an mit dem erklärten Ziel, in die Kriminalabteilung zu kommen, was ihm durch seine Hartnäckigkeit, die zwar nichts Aufdringliches, aber etwas sehr Beständiges an sich hatte, nach verhältnismäßig kurzer Zeit auch gelungen war. Seit ein paar Monaten war er jetzt im Team von Chefinspektor Weininger, den er von Beginn weg sehr geschätzt hatte wegen seiner Fähigkeit, das große Ganze in einer Fülle von Details nie aus den Augen zu verlieren. Bei manchen Gelegenheiten hatte er zu erkennen geglaubt, dass umgekehrt auch dem Chefinspektor aufgefallen war, zu welch weitreichenden, oft gar nicht nahe liegenden Schlussfolgerungen Viktor fähig war, und dass seine Einschätzung einer Angelegenheit sehr oft den Tatsachen entsprach. Vielleicht hatte ja auch das eine Rolle gespielt, als er heute seinem Wunsch, im Lager weitere Ermittlungen durchzuführen, entsprochen hatte.

Im Sekretariat Schirmers wurde er diesmal ohne Umschweife in dessen Büro eingelassen.

„Ich hab’ gedacht, ihr habt die Mörder schon gefasst“, bemerkte Schirmer mit leicht ironischem Unterton, „wieso komme ich jetzt zum zweiten Mal zu dieser Ehre?“

„Wir haben zwei Personen, die auf Grund bestimmter Verdachtsmomente vorläufig verhaftet wurden, nicht mehr und nicht weniger“, erwiderte Viktor in formellem Ton, „jetzt ist es notwendig, mehr über den Hintergrund der beiden Verdächtigen in Erfahrung zu bringen. Dazu möchte ich Personen befragen, die hier mit ihm zu tun gehabt haben, aber ich benötige diesmal kein eigenes Vernehmungszimmer.“

„Na gut, wie Sie wollen“, bemerkte Schirmer, „tun Sie, was Sie nicht lassen können. Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich einfach an das Wachpersonal, sonst haben Sie freie Hand. Wenn ich allerdings höre, dass Sie Unruhe unter den Lagerinsassen stiften, bekommen Sie Probleme, da können Sie sicher sein.“

„Seh’ ich aus wie ein Unruhestifter?“, fragte Viktor unschuldig.

„Wir haben hier nicht immer ganz einfache Klienten. Auf der Welt gibt es Kriege. Die Flüchtlinge, die nach Österreich kommen, führen manchmal ihre Auseinandersetzungen hier im Lager fort, und oft bedarf es nur eines kleinen Auslösers, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen. Ich bin deshalb von solchen Untersuchungen nicht begeistert.“

Die Sorgen, die Schirmer zum Ausdruck brachte, hatten ihre Ursache in einem konkreten Ereignis, das kurz nach Übernahme des Lagers durch die Firma Humano Serve in allen Zeitungen gestanden war. Dabei waren afrikanische Heiminsassen aus Ruanda, die unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehörten, aufeinander losgegangen. Ein junger Mann von gerade siebzehn Jahren war damals ums Leben gekommen. Wegen dieses Vorfalls hatten seinerzeit viele die Entscheidung, die Firma Humano Serve mit der Führung des Lagers zu betrauen, kritisiert. Vor allem wurde die Kompetenz der handelnden Personen, allen voran Geschäftsführer Schirmer, bezweifelt. Mittlerweile hatten sich die Wogen wieder geglättet und Schirmer wollte diesen einigermaßen friedlichen Zustand, der im Lager herrschte, nicht gefährden. Allein durch die Verhaftungen sah er ohnehin schon genug Unheil heraufziehen.

„Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde keinen im Unklaren lassen, dass es lediglich um Auskünfte zu den beiden Verhafteten geht und dass hier im Lager niemand verdächtig ist“, bemerkte Viktor in der Hoffnung, jetzt endlich an die Arbeit gehen zu können.

„Dann ist ja alles gesagt“, kam Schirmer zum Ende, „ich hoffe, Sie bekommen alle Informationen, die Sie benötigen, denn, ehrlich gesagt, kann ich mir gar nicht vorstellen, was hier zu erfahren sein soll. Die Schuldigen haben Sie ja schon gefunden. Was hoffen Sie hier noch zu finden?“

„Wie Sie eben sagten, Informationen“, erwiderte Viktor kryptisch. Er hatte das unbestimmte Gefühl, die Konversation dreht sich im Kreis. „Schuldig ist jemand erst, wenn er rechtskräftig verurteilt ist. Es ist nicht alles so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht, in dieser Sache gilt es noch sehr viel in Erfahrung zu bringen.“

Damit stand er auf und verabschiedete sich. Draußen vor dem Sekretariat wurde ihm bewusst, dass er sich hier im Gebäude kaum auskannte. Außer in Schirmers Büro, dem Vernehmungszimmer und dem Raum, in dem Obike Moury und Rasul Nkoma ihr Quartier gehabt hatten, war er noch so gut wie nirgendwo gewesen. Deshalb sah er sich erst einmal im Lager um. Es war ein Bau aus dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts, der früher einmal als Kadettenschule, später dann als Militärakademie und unter den Nazis als Erziehungsanstalt gedient hatte. Während der Besatzungszeit war es von den Russen als Kaserne und Lazarett verwendet worden. Nach dem Abzug der Alliierten hatte man begonnen, es provisorisch als Auffanglager für asylsuchende Flüchtlinge zu nutzen. Diese Bestimmung war ihm bis zum heutigen Tag geblieben, wie so oft, wenn in Österreich etwas als „provisorisch“ bezeichnet wird.

Von Schirmers Zimmer im ersten Stock des Gebäudes ging Viktor über die Treppe ins Erdgeschoß zum Speisesaal, zu dem mehrere Pfeile den Weg wiesen. Der recht große Raum, der für gut und gern vierhundert Personen Platz bot, wirkte im ersten Moment fast pompös auf ihn. Über die ganze Decke erstreckte sich ein schon recht blasses Fresko, das rundherum reichlich mit Stuck verziert war. Was es darstellte, konnte er nicht erkennen. Zu Zeiten, als hier die Kadettenschule und die Militärakademie eingerichtet waren, musste dieser Saal als eine Art Aula gedient haben. Im ersten Moment wunderte sich Viktor, dass keinem der Anwesenden, weder Wärter noch Insassen, die etwas verfallene Schönheit des Raumes aufzufallen schien, aber die hatten sicher andere Sorgen.

Es war gerade zwanzig nach acht, Frühstückszeit. Um das Buffet, an dem Kaffee, Semmeln, Butter und Marmelade ausgegeben wurden, herrschte geschäftiges Treiben. Man merkte, dass das Lager im Moment sehr gut gefüllt war. Trotz der Größe des Saales fanden nicht alle Insassen gemeinsam darin Platz, weshalb die Essenszeiten gestaffelt waren.

Etwa die Hälfte der Personen im Raum war von dunkler Hautfarbe. Es war ein seltsames Gefühl, sich hier in Österreich inmitten einer solchen Menge Andersfarbiger zu bewegen. Viktor konnte die Gedanken der Schwarzen nachfühlen, wenn sie in einem Bus oder einer U-Bahn mit einem Haufen Weißer zusammengepfercht waren.

Während er all die fröhlichen Gesichter beim Essen sah – denn fröhlich waren sie, vor allem die Afrikaner – bekam er selbst Hunger. Mit dem Hinweis, dass er von der Polizei komme und hier zu tun habe, fragte er einen Aufseher, ob er ein Frühstück haben könne, gegen Bezahlung natürlich. Der Aufseher sagte, er solle sich hinten anstellen, zahlen müsse er nichts. Wenn der Küchenhelfer, der den Kaffee und das Essen ausgab, irgendwelche Probleme sähe, sollte er einfach auf ihn zeigen, er gebe ihm dann schon einen Wink.

Knappe zehn Minuten später setzte sich Viktor mit seinem Tablett an einen der wenigen Tische, die noch freie Plätze boten. Mit ihm am Tisch saß eine dreiköpfige afrikanische Familie. Die Mutter war gerade dabei, ihr Kind mit Marmeladebrotstückchen zu füttern, keine ganz ungefährliche Sache, da der kleine Satansbraten dazu neigte, alles, was ihm mit flehentlichem Zureden irgendwie in den Mund gestopft wurde, in hohem Bogen wieder auszuspucken. Nur ein verschwindend geringer Teil der halb zerkauten Brotstückchen hatte überhaupt die Chance, dorthin zu gelangen, wofür sie bestimmt waren. Als er sich an den Tisch setzte, blickte Viktor den Kleinen, der im Übrigen entzückend aussah, mit gespielt strenger Miene an, was zur Folge hatte, dass dieser für einen Moment sein Spiel vergaß. Kurz darauf ging es mit dem Spucken aber weiter, als ob nichts gewesen wäre.

als Viktor sich gesetzt, hatte, sah er sein unmittelbares Gegenüber an, das weniger Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Er blickte in zwei unergründlich dunkle Augen, die zu einem ebenso schmalen wie ausdrucksvollen Gesicht gehörten. Es war eine junge Frau, vielleicht zwanzig Jahre alt, die seinen Blick erwiderte. Unter ihren Augen lagen zarte Schatten, Spuren unruhigen Schlafes. An einem ihrer Unterarme waren vernarbte Wunden zu sehen. Was mochte diese junge Frau wohl alles mitgemacht haben? Ein paar Sekunden sahen sie einander stumm an, bis Viktor zu Bewusstsein kam, dass er irgendetwas sagen sollte.

„Hallo!“ Er wunderte sich, dass die Stimme so leise aus ihm herauskam, fast geflüstert.

„Hallo“, sagte sie kaum hörbarer zu ihm und wendete gleich darauf ihren Blick ab, so als sei ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie ihn anstarrte.

Wenngleich Viktor sonst ein Typ war, der mit Unbekannten kaum ein Gespräch begann, hatte er das Bedürfnis, mehr über die junge Frau zu erfahren.

„Woher kommst du?“, fragte er. Da sie ihm zu verstehen gab, dass sie kein Deutsch verstehe, wiederholte er die Frage auf Englisch.

„Ich bin aus … Tschetschenien“, sagte sie zögernd, so als sei sie sich nicht ganz sicher, ob sie dieses Geheimnis verraten dürfe.

„Wie bist du hierhergekommen?“, fragte Viktor weiter. Die Fragen, die er stellte, schienen ihm einfallslos, aber es war das, was ihn interessierte.

„Ich …. habe dort Schlimmes erlebt, sehr Schlimmes“, antwortete sie. Viktor fiel auf, dass sie offenbar große Hemmungen hatte, über das, was ihr widerfahren war, zu reden.

„Mit wem bist du hier“, fragte er.

„Mit einer Gruppe von Landsleuten“, antwortete sie, „aber ich kenne sie nicht besser als all die anderen hier in diesem Lager. Ich habe mich ihnen nur für die Flucht aus Tschetschenien angeschlossen. Im Grunde bin ich hier alleine ….“

Es fiel ihr augenscheinlich immer schwerer, weiterzureden. Viktor begann daher etwas, was er sonst so gut wie nie tat, besonders wenn er einen Gesprächspartner nicht kannte. Er erzählte von sich selbst.

„Ich komme von hier, nicht genau von hier, aber hier in der Nähe“, sagte er etwas unsicher, wie jemand, der sich auf einem Terrain bewegt, das er nicht kennt und das ihm deshalb nicht sonderlich behagt. „Ich habe eine Zeit lang in Wien studiert, weißt du, wo Wien ist?“

„Natürlich, ich wollte in Tschetschenien auch studieren, aber dazu ist es nicht gekommen“, antwortete sie beinahe vorwurfsvoll, dass er sie so unterschätzte.

„Ich habe Rechtswissenschaften studiert“, erzählte er weiter, „bin aber bald dahinter gekommen, dass mich eigentlich nur Teile davon interessieren, nämlich alles, was mit der Aufklärung von Verbrechen zu tun hat. Also habe ich das Studium an den Nagel gehängt und bin zur Polizei gegangen.“

„Und was machst du jetzt dort“, fragte sie, „regelst du den Verkehr oder so etwas?“

Jetzt war es an ihm, ein leicht vorwurfsvolles Gesicht aufzusetzen. „Ich bin bei der Kriminalpolizei“, sagte er nachdrücklich, „und löse Verbrechen.“

Seine Miene, in der ein nicht ganz ernsthafter Anflug von Kränkung über die gerade erfahrene verbale Degradierung zu lesen war, brachte sie zum Lachen, ein Lachen, das wohl schon lange nicht mehr über ihr hübsches, schmales Gesicht gehuscht war.

„Und, hast du schon einmal einen Mord aufgeklärt?“, fragte sie ihn.

„Na ja, ich bin noch nicht so lange dabei und arbeite natürlich nicht alleine, aber irgendwann gelingt es mir sicher, den entscheidenden Puzzlestein in einem rätselhaften Fall an die richtige Stelle zu setzen.“ Während er das sagte, überkam ihn das Gefühl, dass es schon lange nicht mehr so gut getan hatte, einfach mit jemandem zu reden.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte er sie schließlich.

„Seit knapp einer Woche“, antwortete sie.

„Und gibt es eine Möglichkeit, dass du hier bleiben kannst?“ Viktor wusste selbst nicht genau, warum er das fragte.

„Das weiß ich noch nicht“, erwiderte sie ernst, „ich bin vorläufig für die Dauer meines Asylverfahrens hier. Aber wie es ausgeht, weiß ich nicht. Wenn ich kein Asyl bekomme, werde ich irgendwohin abgeschoben.“

„Aber das können sie nicht machen“, sagte Viktor aufgebracht, „wenn du kein Recht auf Asylgewährung hast, wer dann? Man muss dich ja nur ansehen, um zu wissen, was du in deiner Heimat zu erwarten hast.“

„So einfach ist es leider nicht“, erwiderte sie, „Tschetschenien ist nicht irgendein Staat, in dem es Krieg gibt oder bis vor nicht allzu langer Zeit gegeben hat. Die Lage ist viel komplizierter. Auch die Interessen Russlands können eine Rolle spielen. Sicher ist deshalb nichts. Man muss abwarten, wie euer Staat entscheidet. Mein Rechtsberater hier im Lager hat mich sehr genau aufgeklärt. Ich danke ihm, denn er hat sehr offen gesprochen, obwohl ….., wenn ich wirklich zurückgeschickt werde, weiß ich nicht, was ich tue.“

„Keine Angst, du wirst nicht zurück geschickt“, sagte Viktor im vollen Vertrauen darauf, dass in Österreich so eine Entscheidung nicht möglich sein könne, „wir leben in einem Rechtsstaat, du kannst nicht in ein Land abgeschoben werden, in dem dir ungerechtfertigte Verfolgung droht. Wie heißt du eigentlich?“

„Mein Name ist Tamasha, mich nennen aber alle Masha“, sagte sie, „und wie heißt du?“

„Ich heiße Viktor“, antwortete er, „leider muss ich jetzt gehen, denn ich habe hier noch etwas zu tun. Können wir uns wiedersehen?“

„Ja“, sagte sie nur.

„Montagabend, um sechs?“

So etwas wie ‚Vielleicht sehen wir uns einmal wieder?’ war Viktor zu wenig. Er wollte Masha unbedingt wieder treffen.

„Da essen wir gerade zu Abend“, antwortete sie, etwas besorgt, dass er nun aufgeben könnte.

„Na gut, wie wäre es um sieben?“

„Ja, um sieben geht es.“

„Gut, ich warte draußen vor dem Haupteingang auf dich. Auf Wiedersehen.“

Er blickte noch einmal in ihre dunklen Augen. Dann stand er auf, brachte seine Tablett zurück und verließ den Saal in Richtung des Zimmers der Afrikaner. Masha sah ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

Viktor hatte zwar die Absicht gehabt, sich alle Etagen des Lagers anzusehen, aber da das Frühstück einige Zeit in Anspruch genommen hatte, beschloss er, gleich mit seiner Arbeit zu beginnen. Er versuchte sich zu orientieren, was allerdings gar nicht so einfach war. Der Speisesaal des mächtigen dreistöckigen Gebäudes befand sich zentral gelegen im Erdgeschoß, überhaupt waren in diesem Teil vor allem Gemeinschafts- und Verwaltungseinrichtungen untergebracht. Seit Übernahme des Lagers durch Humano Serve wurden allerdings viele Dienstleistungen, für die es früher eigene Angestellte gab, wie zum Beispiel der Reinigungsdienst und die Wäscherei, von außen zugekauft und die dadurch frei werdenden Räumlichkeiten wiederum zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt. Diese Politik, die zu einer immer dichteren Belegung des Gebäudes geführt hatte, war einer der Kritikpunkte, die vor allem der Bürgermeister immer wieder gegen die jetzige Führung des Lagers vorbrachte. Die Gesellschaft hatte diesen Argumenten auch nur wenig entgegenzusetzen. Es ließ sich nun einmal schwer wegdiskutieren, dass durch das Zusammenpferchen möglichst vieler auf kleinem Raum das Aggressionspotential der Betroffenen stieg, was sich nicht nur auf die Beziehungen untereinander, sondern auch im Verhalten zu Außenstehenden, also der einheimischen Bevölkerung, negativ auswirkte.

Das Zimmer, das Viktor zu finden hoffte, befand sich im zweiten Stock, der ausschließlich für Wohnzwecke genutzt wurde. Nach einigen Minuten des Umherirrens in immer gleich aussehenden Gängen wurde er schließlich von einem der Aufseher, der von den Verhafteten wusste, zum richtigen Raum geführt.

Vor der Tür stehend dachte er noch einmal kurz darüber nach, wie die Sache am besten anzugehen sei und drückte dann die Klinke.

Im Inneren lagen zwei farbige junge Männer auf ihren Betten und unterhielten sich. Am Tisch in der Mitte des Raumes saß ein Vertrauen erweckender älterer Mann, aus dessen Gesicht eine wohl durch manche Schicksalsschläge erworbene abgeklärte Freundlichkeit sprach. Neben ihm las eine etwa gleichaltrige Frau aus einer Zeitung vor, die in unbekannter Schrift verfasst war. Sie hatte brünettes schulterlanges Haar. Die beiden schienen ein Ehepaar zu sein. Als Viktor in den Raum trat, sahen ihn alle mit unverhohlenem Interesse an.

„Guten Morgen“, begann er auf Englisch, als das Schweigen unangenehm zu werden drohte, „ich bin von der Polizei und habe ein paar Fragen über zwei Personen, die bis vor kurzem in diesem Zimmer gewohnt haben. Wer von Ihnen kennt Obike Moury und Rasul Nkoma?“

Die beiden Schwarzen schüttelten reflexartig den Kopf, so dass Viktor nicht sicher war, ob sie die Frage überhaupt verstanden hatten, während der ältere Mann nickte. Viktor ging zu ihm zum Tisch, streckte ihm die Hand entgegen und nannte seinen Namen.

„Wir führen Ermittlungen in einem Mordfall“, erklärte er, „vor zwei Tagen ist hier in Dreistätten ein Mädchen Opfer eines Verbrechens geworden und auf Grund der bisherigen Erhebungen deutet einiges darauf hin, dass die beiden Afrikaner, die bis gestern hier untergebracht waren, etwas mit dem Mord zu tun haben. Deswegen bin ich heute hier. Ich möchte von Personen, die die beiden kennen gelernt haben, etwas über sie erfahren. Bitte sagen Sie mir zunächst, wie Sie heißen und wie lange Sie schon hier sind.“

Viktor nahm einen kleinformatigen Block und einen Bleistift aus der Seitentasche seines Rocks und legte ihn auf den Tisch, um sich Notizen zu machen.

„Mein Name ist Levon Markarian und das ist meine Frau Sona“, sagte der Angesprochene in leidlich gutem Deutsch. Das zu Beginn gezeigte freundliche Lächeln war einem deutlich zurückhaltenderen Gesichtsausdruck gewichen, seit Viktor erwähnt hatte, dass es um den Mord an einem kleinen Mädchen ging. „Wir kommen aus Armenien.“

„Seit wann sind Sie schon hier?“, wiederholte Viktor seine bereits gestellte Frage.

„Seit etwas mehr als einer Woche“, antwortete Levon, „Was haben Sie eben gesagt, Rasul und Obike haben ein kleines Mädchen umgebracht? Das ist unmöglich!“ Es war deutlich sichtbar, dass sich alles in ihm gegen diese Vorstellung wehrte.

„Warum sind Sie so sicher, dass sie es nicht waren? Sie können sie doch noch nicht lange gekannt haben“, erwiderte Viktor verwundert, aber gleichzeitig interessiert.

„Das ist richtig“, gab Levon zu. „Ich habe sie erst hier kennen gelernt, aber manche Menschen muss man nicht lange kennen, um zu wissen, ob sie etwas wert sind. Und bei diesen beiden Afrikanern habe ich das sofort gewusst.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Viktor.

„Die beiden haben in ihrem Leben schon zu viel Schlimmes gesehen“, sprach Levon weiter, „sie wollen damit nichts mehr zu tun haben. Sie haben viel mit mir geredet. Alles, was sie wollten, war die Möglichkeit, ein normales, anständiges Leben zu führen, um das, was sie bisher getan haben …. oder richtiger, wozu sie bisher gezwungen wurden, zu vergessen.“

„Gut, Sie haben mit ihnen gesprochen“, sagte Viktor, „aber man kann nicht immer nur nach dem gehen, was die Menschen einem sagen.“

„Mein lieber Junge“, sagte Levon, und er sagte es auf eine so väterliche Weise, dass Viktor nicht auf die Idee kam, verletzt zu sein, „ich habe in meinem Leben schon viele Menschen kennen gelernt und ich weiß, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Ich versichere Ihnen, diesen beiden hätte ich alles anvertraut, was ich besitze. Ich habe schon mehrere hier im Lager kennen gelernt und es sind genug darunter, die keinen Pfifferling wert sind. Aber gerade Obike und Rasul so etwas in die Schuhe zu schieben, ist absurd. Sie waren geradezu besessen vom Gedanken, neu zu beginnen. Sie wollten ihre Chance, die sie hier bekamen, nutzen. Nur davon haben sie gesprochen.“

Viktor wusste einen Moment nicht, was er sagen oder was er noch fragen sollte. Er war sich nicht sicher, warum, aber offenbar war an Levons Meinung über Rasul und Obike nicht zu rütteln, und wenn er an seinen eigenen Eindruck dachte, den er während der Verhöre gewonnen hatte, konnte er dem auch gar nichts entgegen setzen. Ihn störte nur, dass er von Levon keinerlei zusätzliche Fakten erfahren hatte. Und mit der Nachricht, dass auch ein Armenier im Lager die Afrikaner für unschuldig hielt, brauchte er gar nicht erst bei Weininger zu erscheinen.

Da er sich von Levons Frau keine zusätzlichen Informationen erwartete, wandte er sich an die beiden Afrikaner, die noch immer auf ihren Betten lagen.

„Wie lange sind Sie schon hier?“, fragte er in ihre Richtung, jetzt wieder auf Englisch.

„Erst seit gestern“, sagte einer der beiden.

Viktor sah unwillkürlich zu Levon.

„Sie haben die freien Betten von Rasul und Obike bekommen“, sagte dieser, „sie haben sie also nicht kennen gelernt.“

Viktor warf den Afrikanern einen Blick zu, aus dem zu lesen war, dass er keine Fragen mehr an sie hatte und wandte sich dann wieder an Levon.

„Es sind acht Betten hier im Zimmer“, fragte er, „sind alle belegt?“

„Nein, nur fünf, drei der Bewohner kennen Sie ja bereits“, antwortete Levon, „die beiden übrigen sind Ukrainer, die vor uns gekommen sind. Ich weiß aber nicht, ob Sie von ihnen viel erfahren, sie sind nicht sehr gesprächig, und sie sind auch nicht besonders oft hier im Zimmer zu sehen.“

„Ich würde trotzdem ganz gerne mit ihnen reden“, sagte Viktor, „ich werde mich an die Leitung des Lagers wenden. Die sollen das Notwendige veranlassen. Wie heißen sie?“

„Ich glaube, einer heißt Constantin und der andere Pavel“, meinte Levon, „die vollen Namen stehen an der Tür.“

Viktor ging zum Schild und notierte sich die Namen.

„Sie haben gesagt, Sie kommen aus Armenien“, wandte er sich, wieder zurück im Zimmer, noch einmal an Levon. „Warum sind Sie weggegangen? Es herrscht doch dort kein Kriegszustand.“

„Es ist ein Land, in dem es für uns keine Zukunft gibt“, erklärte Levon mit entschlossenem, aber auch traurigem Blick, der bewies, dass ihm die Entscheidung nicht leicht gefallen war. „Von dem, was wir gearbeitet haben, konnten wir immer schlechter das Auskommen finden und unser einziges Kind lebt hier in Österreich. In einem Land, in dem die Rente für ein Arbeitsleben umgerechnet hundertzwanzig Euro im Monat ausmacht, bedeuten Kinder auch so etwas wie eine Alterssicherung. Sie unterstützen dich, weil sie noch arbeiten können.“

„Wie viele Kinder haben Sie?“, fragte Viktor.

Nach einer Pause, die Viktor das Gefühl gab, Levon wollte etwas vor ihm verbergen, sagte er schließlich: „Eines, ich habe ein Kind, einen Sohn, er lebt in Wien mit seiner Frau. Vor allem die Tatsache, dass unsere nächsten Verwandten hier leben, gibt uns Hoffnung, dass wir hier bleiben können. Wissen Sie, ich bin Musiker, ich spiele Cello. Wenn ich nur die nötigen Arbeitsbewilligungen bekomme, kann ich mich hier sicher durchschlagen. Im schlimmsten Falle spiele ich in Wien auf der Straße.“

„Ja, ich bin sicher, Sie schaffen das“, erwiderte Viktor, der Sympathie für das ältere Ehepaar empfand. Was für ein Gefühl musste es sein, in diesem Alter noch einmal völlig neu anfangen zu müssen?’

„Sie haben gesagt, Ihr Sohn lebt in Wien“, fragte er Levon weiter, „was macht er dort?“

„Er ist Musiker wie ich, er gibt Stunden am Wiener Konservatorium“, antwortete dieser nicht ohne Stolz, „aber seine Lehrverpflichtung ist noch so gering, dass er sich so recht und schlecht durchschlagen muss, vor allem auch, da seine Frau momentan keine Arbeit hat.“

„Waren Sie in Armenien auch am Konservatorium?“, fragte Viktor weiter.

„Ja, in Jerewan an der Musikhochschule, die Arbeit ist dort allerdings so schlecht bezahlt, dass man davon nicht leben kann. Ich habe daneben auch in einem Kammerorchester gespielt, aber mit den gelegentlichen Konzerten, die wir gegeben haben, war es ein Kampf von einem Monat zum anderen. Wenn in einem Land alle wenig Geld haben, gibt es kaum jemanden, der für eine Konzertkarte viel bezahlen kann.“ Levon machte ein nachdenkliches Gesicht. „Was uns nicht verzweifeln lässt, ist die Hoffnung, dass es hier besser wird.“ Während er das sagte, sah er seine Frau an, die während der gesamten Unterhaltung ruhig neben ihm gesessen hatte und ihn jetzt anlächelte.

„Eine Frage zu den verhafteten Afrikanern habe ich noch, bevor ich gehe“, sagte Viktor, „kennen Sie weitere Heimbewohner, mit denen die beiden Kontakt hatten und die möglicherweise Angaben über sie machen können?“

„Ich glaube nicht, dass es noch welche gibt“, antwortete Levon, „sie haben sich von den anderen meistens ferngehalten. Ich weiß nicht, ob Sie die Situation hier drinnen kennen, aber es sind viele da, die anders denken als Rasul und Obike oder meine Frau und ich. Für diese Leute, egal welcher Nationalität sie sind, ist das Ganze ein Abenteuer, das nur dazu dient, irgendwie zu Geld zu kommen. Das sind jene, die dann in den Supermärkten, wo es geht, Sachen mitgehen lassen, Drogen verkaufen und wahrscheinlich noch Schlimmeres tun würden, wenn man sie dafür bezahlt. Meine Frau und ich wollen mit diesen Personen nichts zu tun haben, ebenso wie Obike und Rasul.“

„Na gut“, erwiderte Viktor, „ich danke Ihnen für die Beantwortung meiner Fragen. Sollten noch welche auftauchen, werde ich mich wieder an Sie wenden.“

„Machen Sie nicht den Fehler, Rasul und Obike dieses Verbrechen anzulasten“, sagte Levon, als Viktor schon im Gehen war, „wenn Sie es tun, müssen Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren.“

Viktor blieb kurz stehen. „Wissen Sie, so etwas sagt sich leicht, aber alle Indizien sprechen in dieser Sache gegen die beiden. Das einzig Entlastende sind nur Ihr und mein Gefühl, aber solange wir niemand anderen haben, dem wir das Verbrechen nachweisen können, werde ich damit nichts ausrichten. Aber warten wir ab, was wir noch herausfinden, wir sind erst am Anfang.“

Levon sah Viktor besorgt an, als dieser ging. „Auf Wiedersehen!“, murmelte er schließlich.

Bevor er das Lager verließ, machte Viktor noch einen Abstecher zu Geschäftsführer Schirmers Büro, traf aber nur Frau Ziegelmeier an und hinterließ bei ihr das Ersuchen um Nachricht, sobald die beiden Ukrainer aus dem Zimmer der verhafteten Afrikaner vernommen werden konnten.

Als er anschließend das Lager über den Haupteingang verließ, dachte er wieder an Masha und das Treffen, das er mit ihr für morgen sieben Uhr abends vereinbart hatte. Seine Bekanntschaft mit ihr kam ihm auf einmal so unwirklich vor. Dennoch sehnte er sich danach, sie wieder zu sehen. Er war begierig darauf zu erfahren, was ihr zugestoßen war und würde ihr helfen, ihre körperlichen und seelischen Verletzungen zu überwinden. Undeutlich fühlte er, dass ihn diese Bekanntschaft weit weg von allem Vertrauten führen könnte, auf einen Weg, der sich grundlegend von den ausgetretenen Pfaden unterschied, die er bisher in seinem Leben beschritten hatte. Aber wenn er auch einen Anflug von Furcht beim Gedanken daran nicht ganz unterdrücken konnte, wusste er doch, dass er sich darauf einlassen würde.

Flucht

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