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Ein Land im Stillstand

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Am Tag des Auftaktspiels gegen Nordkorea stehen kurz nach Mittag etwa 50 Reisebusse auf dem sandigen Platz vor den Fabriktoren bereit, die uns nach Hause bringen sollen. Fröhlich verabschieden sich die Kollegen. Viele von ihnen haben die blaue Arbeitskleidung gegen das berühmte kanariengelbe Trikot getauscht. Die meisten gehen direkt zu einer Grillparty mit der Familie oder Freunden.

Um halb eins machen sich die Busse auf den Weg ins Stadtzentrum. Eine Fahrt, die normalerweise etwa eine Stunde dauert. Doch schon kurz nach der Auffahrt auf die Stadtautobahn beginnt das Problem: Weil alle Arbeitgeber ihren Mitarbeitern früher freigegeben haben, machen sich alle gleichzeitig auf den Heimweg, und wir stehen fast durchgehend im Stau. Der Stimmung tut das zunächst keinen Abbruch, denn man ist in Feierlaune. Brasiliens Gegner heißt Nordkorea, und der Sieg scheint reine Formsache zu sein. Man winkt den Insassen anderer Busse zu, macht Witze, diskutiert die Aufstellung.

„Wenn du ein bisschen Druck gegen die Koreaner machst, dann könnte das heute sogar ein Torfestival geben“, sagt Rodrigo aus der Verwaltung.

„Aber Dunga ist so ein defensiver Trainer, der hat sicher nicht den Mut, drei Stürmer zu bringen“, zweifelt sein Kollege Marcelo.

Der Ingenieur Assad ergänzt: „Dunga ist bisher nur durch seine Kleidung aufgefallen, aber nicht durch sein Spiel. Warum hat er Ronaldinho und Neymar daheim gelassen? Das wäre doch die offensive brasilianische Spielweise.“

„Heute wird’s einfach, aber in der K.-o.-Runde werden uns diese Spieler fehlen! Ohne diese besonderen Spieler, die Genies, wird man nicht Weltmeister. Warum versteht er das nicht? Ich mag diese grobschlächtige, defensive Art nicht“, schaltet sich Rodrigo wieder in die Unterhaltung ein.

„Sei nicht so pessimistisch“, unterbricht ihn die Sekretärin Juliana, „wir sind Brasilien, wir sind das Land des Fußballs, wir gewinnen! Hauptsache, Kaká spielt.“

Und so scherzt man noch eine Weile weiter. Als der Bus gegen drei Uhr noch immer nicht an seinem Ziel angekommen ist, werden die Angestellten unruhig und der Fahrer nervös. Er fragt: „Kann ich eine Abkürzung fahren, um zu versuchen, den Stau zu umgehen?“ Sein Vorschlag wird angenommen. Für mich bedeutet das allerdings, dass ich relativ weit von meiner Wohnung abgesetzt werde. Zehn Minuten vor dem Anpfiff kommen wir endlich im Stadtteil Laranjeiras an. Weil ich es nun nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffe, schaue ich mir das Spiel in einer Kneipe an.

In der Stadt herrscht Karneval. Pärchen und kleine Gruppen eilen mit Fahnen, Trikots und bemalten Gesichtern durch die Straßen. Die Rua das Laranjeiras ist mit Autos verstopft. Die Menschen tragen Six-Packs unter ihren Armen. Der Trubel ist enorm. Zehn Minuten später ist dann alles vorbei. Von einem Moment auf den anderen ist die Straße wie ausgestorben. Ich geselle mich zu einer Traube von Fußballbegeisterten vor einem Fernseher in einer dieser typischen brasilianischen Snackbars, deren Straßenseite komplett geöffnet ist. Auf dem Gehsteig sieht man niemanden mehr, und Autos fahren auch keine mehr. Nach zehn Minuten Spielzeit kommt ein Linienbus angerattert. Abgesehen vom Fahrer und dem Kontrolleur ist er völlig leer. „Die Armen!“, denke ich mir.

Nicht nur Rio de Janeiro, sondern ganz Brasilien gibt sich für 90 Minuten seinem nationalen Ritual hin. Banken und Geschäfte sind geschlossen, Regierung und Militär außer Kraft gesetzt. Kurzum: Das Land befindet sich im Ausnahmezustand. Gerade hat sich mein Bus noch knapp drei Stunden über die Stadtautobahn gequält – nun würde ich den Weg in einer knappen halben Stunde schaffen, weil sich absolut niemand mehr auf der Straße befindet. Mehr noch als Karneval, Weihnachten und der Unabhängigkeitstag ist die alle vier Jahre stattfindende Weltmeisterschaft ein Ereignis, das die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Brasilianer auf sich zieht, das öffentliche Leben lahmlegt und die nationale Identität zum Diskussionsthema macht.

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