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1930: Fehlende nationale Einheit

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Brasilien ist das einzige Land der Welt, dessen Fußballauswahl an allen Weltmeisterschaften teilgenommen hat. Somit beginnt die WM-Geschichte der Seleção 1930 beim ersten Turnier in Uruguay. Aufgrund organisatorischer Probleme stand jenes Turnier unter keinem guten Stern. Viele europäische Mannschaften weigerten sich, die lange Reise nach Übersee anzutreten, und so wäre die WM beinahe an fehlendem Interesse gescheitert. Eine Qualifikation war aufgrund dessen nicht notwendig, und Brasilien musste nur entscheiden, wer die Spieler sein würden, die das Land vertreten sollten. Das freilich war nicht einfach in einem Land, das damals erheblich von regionalen Großgrundbesitzern gelenkt wurde und keinesfalls über eine echte nationale Einheit verfügte.

In der noch jungen Fußballgeschichte Brasiliens hatten sich zwei Verbände entwickelt: einer in der Hauptstadt Rio de Janeiro und ein weiterer im aufstrebenden Wirtschaftszentrum São Paulo. In beiden Städten gab es bereits spielstarke Klubs und Ligen, die von den lokalen Landesfürsten organisiert und finanziert wurden. Beide Verbände verstanden Fußball als Amateursport. Das war wichtig, denn nur reiche Söhne der Oberschicht konnten es sich leisten zu trainieren, ohne dafür bezahlt zu werden. Parallel zu diesen Amateurverbänden existierten auch Ligen mit Arbeitervereinen, die ihre Spieler bezahlten. Das Amateurideal stellte also ein Instrument der Klassentrennung dar, und das bedeutete in der Regel eine Benachteiligung der dunkelhäutigen Bevölkerung.

Die Berufung der Nationalspieler für die ersten drei Weltmeisterschaften 1930, 1934 und 1938 war bestimmt von Diskussionen über soziale, ethnische und regionale Diskriminierung bzw. Bevormundung. Zudem waren die 1930er Jahre in Brasilien geprägt durch eine radikale Umstrukturierung des Staatsapparats. Der Fußball wurde zu einem wichtigen Instrument innerhalb dieser politischen Auseinandersetzungen.

Noch im Jahr 1929 schienen Politik, Wirtschaft und Sport fest in der Hand der alten Landoligarchien zu sein. Präsident des Landes war der ehemalige Gouverneur von São Paulo, Washington Luís, der als Vertreter der Kaffee-Aristokratie galt. Die Regierung des Landes wurde nicht durch freie und allgemeine Wahlen gebildet, sondern durch Abkommen zwischen mächtigen Großgrundbesitzern der beiden reichen „Kaffee-mit-Milch“-Agrarstaaten São Paulo und Minas Gerais. Diese bestimmten auch, was im Fußball geschehen sollte.

Am 24. Oktober 1929 wurden die Landoligarchien jedoch von einer Katastrophe heimgesucht: In New York brach an jenem „Schwarzen Freitag“ die Börse ein und vernichtete weltweit die Preise für diverse Agrarprodukte, darunter den des Kaffees. Die brasilianische Elite sah sich der größten Krise ihrer Geschichte ausgesetzt. Gleichzeitig schritt die Industrialisierung der großen Zentren rasch voran. Das hatte zwei Konsequenzen: Zum einen wuchs eine neue städtische Industrieelite heran, zum anderen bildete sich eine riesige Masse an Fabrikarbeitern. Die neuen erfolgreichen Fußballvereine wie Corinthians und Palestra Italia in São Paulo oder Vasco da Gama in Rio de Janeiro bezogen ihr Geld, ihre Zuschauer und ihre Spieler aus diesen neuen sozialen Schichten.

Für den Oktober 1930 waren Wahlen angesetzt. Angesichts der Krise versuchte Staatspräsident Washington Luís, seine Wahlmänner ruhig zu halten, um sein Amt gegen Ende des Jahres – wie geplant – an einen Vertreter aus Minas Gerais weiterzugeben. In Bezug auf die Nationalmannschaft suchte er ein salomonisches Urteil und entschied, dass Brasilien durch den Verband Rio de Janeiros vertreten werde, die Spieler aber je zur Hälfte aus São Paulo und der Hauptstadt kommen sollten. Der Rest des Landes hatte seinerzeit noch keine fußballerische Bedeutung.

Dem Fußballverband São Paulos genügte dieser Kompromiss jedoch nicht. Die Nationalmannschaft wurde daher von ihm boykottiert, und am 8. Juli 1930 bestieg ein lediglich von Spielern aus Rio de Janeiro gebildetes Team den Dampfer Conte Verde, um die Reise zur WM nach Montevideo anzutreten. Die regionalen Streitigkeiten in Brasilien hatten u. a. zur Folge, dass das größte Fußballgenie der Zeit, Arthur Friedenreich, zu keinem WM-Einsatz kam, da er in São Paulo spielte. Der einzige nominierte Paulista, wie die Einwohner São Paulos genannt werden, war Araken Patusca, der seinerzeit in Rio de Janeiro spielte. Die Seleção war ein Abbild der inneren Unruhen des Landes.

Stimmung, Vorbereitung und Turnierverlauf der brasilianischen Nationalmannschaft waren schlecht. Nach dem 1:2 zum Auftakt gegen Jugoslawien gab es zwar ein 4:0 gegen Bolivien, doch nach nur zwei Spielen war die erste WM-Teilnahme Brasiliens bereits wieder beendet.

Nur wenige Monate nach dem Weltturnier kam es zu einem politischen Umsturz in Brasilien. Getúlio Vargas, seinerzeit Gouverneur des südlichsten Bundesstaates Rio Grande do Sul, nutzte die Schwäche der traditionell starken Politiker der zentralen Bundesstaaten Brasiliens. Indem er volksnahe Forderungen stellte, gelang es ihm, die unzufriedenen Kräfte in Industrie und Militär zu bündeln. Am 3. Oktober begann er mit Unterstützung dieser Bevölkerungsschichten einen öffentlichkeitswirksamen Marsch aus seinem Heimatstaat in die Hauptstadt Rio de Janeiro, wo er Washington Luís aus dem Amt putschte und sich selbst zum Präsidenten Brasiliens erklärte. Damit begann die Zeit einer autoritären national-populistischen Regierung, die bis 1945 dauern sollte.

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