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1950: Tragisches „Endspiel“ im eigenen Land

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Da Brasilien 1942 nicht zeigen konnte, ob man ein titelreifes Team beisammen hatte, weil die WM wegen des Zweiten Weltkriegs ausfiel, musste man sich bis 1950 gedulden. Als Austragungsland wurde diesmal Brasilien gewählt. Für das Land war dies die große Chance, sich nicht nur mit seiner Fußballmannschaft, sondern auch durch die Organisation des Wettbewerbs darzustellen.

Insofern kam es gerade recht, dass Brasilien sich bei der WM 1938 den Ruf einer „Rainbow-Nation“ erworben hatte, also einer ethnisch gemischten Nation. Nachdem die diktatorisch-rassistische Ideologie der Nazis in Deutschland Europa in einen Krieg getrieben hatte, der in seiner zerstörerischen Kraft kaum zu überbieten war, konnte Brasilien nun ein neues, modernes Gegenbild entwerfen und sich als tolerantes und demokratisches Land präsentieren.

Dies sollte unter anderem durch den Bau des Maracanã in Rio de Janeiro als größtes Stadion der Welt geschehen. Es sollte allen Brasilianern, unabhängig von Beruf, Geschlecht, Alter oder Hautfarbe, einen Platz bieten. Mit 200.000 Plätzen fasste es rund zehn Prozent der Einwohner Rio de Janeiros. Im Gegensatz zu den schon bestehenden Stadien Brasiliens wurde das Maracanã kreisförmig gebaut. Jeder Fan sollte den gleichen Blickwinkel auf den Rasen haben, und der Unterschied zwischen billigen und teuren Plätzen sollte verringert werden. Insofern ist das Maracanã ein aus Beton gegossenes Manifest des brasilianischen Demokratieverständnisses.

Es wurde der Begriff der „Rassischen Demokratie“ entworfen, der aussagen sollte, dass es in Brasilien keinen Rassismus gibt und alle Bürger, unabhängig von ihrer Hautfarbe, die gleichen Chancen haben. Zum entsprechenden Aushängeschild wurde die „bunte“ Nationalmannschaft, die als haushoher Favorit in das Turnier startete. Das war im Übrigen das einzige Turnier in der WM-Geschichte, dass nicht mit einem Finale endete, sondern komplett im Gruppenmodus ausgespielt wurde.

Mit Leichtigkeit wurde die Vorrunde überstanden, und in der Endrunde waren auch Schweden (7:1) und Spanien (6:1) keine ernsthaften Gegner. Am 16. Juli 1950 kam es im Maracanã zum letzten und entscheidenden Gruppenspiel gegen Uruguay. Eine Partie, die unter dem Begriff „Maracanazo“ in die Fußballgeschichte eingehen sollte.

Brasilien hätte zwar schon ein Unentschieden zum Weltmeistertitel gereicht, doch alles war auf Sieg eingestellt. Die Spieler wurden in der letzten Nacht nicht mehr in ihrem entlegenen Hotel in Joá untergebracht, sondern in der Spielerherberge des unweit des Maracanã gelegenen Stadions von Vasco da Gama. Dort hatten sie allerdings keine Ruhe mehr. Ständig drängten sich Freunde, Familienangehörige, Journalisten und vor allem Politiker um sie. Ende des Jahres waren Wahlen in Brasilien, und jeder wollte sich im Ruhm der künftigen Weltmeister sonnen.

Die Tageszeitungen Brasiliens machten mit der Schlagzeile „Heute wird Brasilien Weltmeister!“ auf. Den Spielern wurden schon vor dem Spiel Medaillen überreicht. Als das Spiel um 15 Uhr angepfiffen wurde, drängten sich auf den Tribünen rund 200.000 Menschen. Jeder von ihnen glaubte, das Ergebnis schon zu kennen.


Der Moment, der Brasiliens Schicksal entscheidet: Gigghia trifft zum 2:1 für Uruguay.

In der ersten Halbzeit war die brasilianische Elf zwar spielbestimmend, traf aber das Tor nicht. So ging man mit einem 0:0 in die Halbzeit. Mit diesem Ergebnis wäre Brasilien Weltmeister. Nach dem Pausentee kamen die Brasilianer besser aus der Kabine, und Friaça traf in der 47. Minute zum 1:0 für die Hausherren. Die Partie schien nun gelaufen. Fröhlicher Jubel und Gesänge machen sich breit.

Was dann geschah, ist von vielen Mythen und Mysterien umrankt. Man erzählt sich, dass der Kapitän der Uruguayer Obdulio Varela kurz nach diesem Tor dem Brasilianer Bigode nicht nur den Ball aus der Hand gerissen habe, sondern ihn zudem geschlagen habe. Mit den Worten: „Gehen wir, gehen wir, das schaffen wir noch“, soll er seine Kollegen angefeuert haben, die plötzlich einen ganz anderen Eifer zeigten. Die Aktion von Obdulio gilt gemeinhin als der Wendepunkt in dem Spiel. Die Brasilianer wirkten plötzlich träge und eingeschüchtert, während die Uruguayer frisch aufspielten. In der 66. Minute gelang Schiaffino der Ausgleich. Doch auch das Unentschieden hätte den Gastgebern ja zum Titel gereicht. Man musste das Ergebnis lediglich über die Zeit retten.

In der 79. Minute nahm die Tragödie ihren Lauf. Auf der rechten Seite bekam Gigghia den Ball und lief unbedrängt auf Torwart Barbosa zu. In der Mitte war Schiaffino mitgelaufen. Barbosa machte das kurze Eck auf, weil er mit einem Pass in die Mitte rechnete. Doch Gigghia zog scharf und direkt ins rechte untere Eck ab. Der Ball zappelte im Netz, und Uruguay führte mit 2:1. Der brasilianische Jubel brach jäh ab, stattdessen wurde das Maracanã in ein ohrenbetäubendes Schweigen getaucht. Gigghia sagte später einmal: „Es gibt nur drei Menschen, die das Maracanã zum Schweigen brachten: der Papst, Frank Sinatra und ich.“

Die Legende erzählt, FIFA-Präsident Jules Rimet habe schon vor dem 2:1 seinen Platz in der Ehrenloge verlassen, um sich mit dem Pokal und den Medaillen zum Spielfeld zu begeben und sie dort dem Sieger zu überreichen. Er hatte keine Rede für einen Sieg Uruguays vorbereitet. Doch als er am Spielfeld ankam, war Uruguay plötzlich Weltmeister. Die eigentlich vorgesehene Zeremonie entfiel. Es gab kein Militärspalier, kein Abspielen der Nationalhymne des Siegers und keine Rede des FIFA-Präsidenten, wie es bei vorherigen Turnieren üblich gewesen war. Auf dem Platz herrschte schlichtweg das Chaos, und Jules Rimet wurde orientierungslos sich selbst überlassen.

Nach einigen Minuten fand er endlich Obdulio Varela, dem er fast verschämt mit den Worten: „Herzlichen Glückwunsch, ich bin froh, dass Sie es sind“, den Pokal überreichte. Von dieser Szene gibt es nur ein einziges, recht schiefes Foto. Es handelt sich um die einzige WM-Pokalvergabe der Geschichte, die praktisch im Verborgenen stattfand.

Während sich die Uruguayer über ihren zweiten WM-Titel freuten, waren die Brasilianer fassungslos. Nur ganz langsam verließen Zuschauer und Spieler das Stadion. Augenzeugenberichten zufolge kam die Stimmung in der Stadt der eines riesigen Begräbnisses gleich. Die Enttäuschung entlud sich jedoch nicht in Gewalt, sondern führte zu einer Art nationaler Lähmung. Obdulio soll nachts sogar aus seinem Hotel gegangen sein, um in einer Eckkneipe ein Bier zu trinken. Obwohl ihn die Menschen erkannten, ist ihm nichts passiert. Im Gegenteil, er soll sich sogar komplett betrunken haben.

In der brasilianischen Gesellschaft schlug die Stimmung anschließend jedoch um. Der Schriftsteller Nelson Rodrigues beschrieb die Situation so: „Jedes Volk hat sein Hiroshima. Unseres ist der 16. Juli 1950.“ Der Mythos 1950 ging als größte Katastrophe in die Geschichte Brasiliens ein, die immer wieder neu erzählt wurde. Unzählige Bücher, wissenschaftliche Arbeiten und Filme zum Thema wurden veröffentlicht.

Eines der besten Bücher ist Perdigãos „Anatomie einer Niederlage“. Der Autor stellt das Spiel in allen Einzelheiten dar, analysiert es von verschiedenen Seiten und transkribiert den kompletten Radiokommentar. Es enthält auch eine poetische Aufarbeitung der Ereignisse: Der Autor stellt sich vor, er hätte eine Zeitmaschine und könnte nach 1950 zurückreisen, um die Geschichte zurechtzubiegen. Er sieht sich als kleiner Junge mit seiner Familie im Stadion. Er erkämpft sich seinen Weg zum Spielfeldrand, vorbei an den Sicherheitsbeamten, die wegen des Torjubels unaufmerksam sind. Als Gigghia aufs Tor zurennt, schreit der Junge Barbosa zu: „Ins kurze Eck! Ins kurze Eck!“ Doch genau diese Schreie verunsichern Barbosa so, dass er erneut das Tor kassiert.

Der Autor macht sich gewissermaßen selbst dafür verantwortlich, dass Brasilien verliert. Die Botschaft ist: Wir, als Volk, haben versagt. Unsere (weißen, europäischstämmigen) Politiker haben die WM geholt, das schöne Maracanã gebaut und so die Voraussetzungen für den Sieg geschaffen. Aber die (farbigen) Volksvertreter auf dem Platz haben versagt, und somit hat das ganze Volk versagt.

Der Mythos 1950 treibt völlig absurde Blüten. So habe ich ein Kinderbuch mit dem Titel „So entstand das Maracanã“ gefunden, das mit kindgerechten Illustrationen eine ähnliche Geschichte wie Perdigão erzählt: Ein Bauarbeiter ist Teil einer Firma, die das Stadion errichtet. Am Finaltag nimmt er die ganze Familie mit, um das Spiel im Maracanã zu sehen. Doch Brasilien verliert. Wie kann es sein, dass sich ein Volk immer wieder selbst eine so traurige und selbstzerstörerische Geschichte erzählt? Sogar den Kindern wird sie schon eingetrichtert.

Es ist schwierig, Bücher über die fünf brasilianischen WM-Siege zu finden. Zu den Niederlagen, speziell 1950, hingegen gibt es Publikationen wie Sand am Meer. Unter dem Titel „Tragödien, Schlachten und Versagen“ widmet sich Pacheco sogar ausschließlich den Niederlagen zwischen 1950 und 1982 und lässt damit die drei ersten WM-Titel aus. Der Versagenskult nimmt bisweilen bizarre Züge an.

Nach dem Endspiel 1950 begann die Suche nach den Schuldigen. Die involvierten Politiker distanzierten sich rasch wieder von der Nationalmannschaft. Trotzdem wurde Präsident Dutra nicht wiedergewählt, und Vargas kehrte zurück ins höchste Amt des Staates. Weitaus schlimmer erging es Stadionverwalter Herculano Gomes, der nie mehr in seinem Beruf Fuß fassen konnte und bis an sein Lebensende Korruptionsvorwürfe zurückweisen musste.

Die Spieler der Nationalmannschaft wurden ebenso abgestraft. Sie waren in der Seleção fortan unerwünscht. Nur fünf der Spieler, die 1950 gegen Uruguay auf dem Platz gestanden hatten, schafften es in den Kader der WM 1954, bei der sie dann nur Ersatzspieler waren. Am härtesten traf es Torwart Barbosa, der zu einer Persona non grata wurde. Im Jahr 2000 sagte er in einem Interview: „In Brasilien beträgt die Höchststrafe 30 Jahre, ich leide nun schon 50.“ 1963 wurden die Torpfosten des Maracanã ausgetauscht. Das hölzerne und viereckige Gebälk wurde durch ein modernes und rundes aus Kunststoff ersetzt. Die Stadionverwaltung kam dabei auf die absonderliche Idee, die alten Pfosten Barbosa als Andenken zu schenken. Dieser nahm das Geschenk an und nutzte das Holz für einen Grillnachmittag. Er versuchte also der Tragödie Herr zu werden, indem er die Pfosten verbrannte. Barbosa wurde so zum umgekehrten Aschenputtel: Nicht aus der Asche zum Ruhm, sondern vom Ruhm in die Asche ging er seinen Weg.

Der Sündenbock Barbosa hatte eine hohe symbolische Bedeutung, denn er war einer der schwarzen Spieler im Team. Die weiße Elite hatte sich schnell gefangen und schob die Schuld der dunkelhäutigen Unterschicht in die Schuhe. Barbosa wurde zur Galionsfigur der nationalen Schande.

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