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Fußball als zentrales Element der brasilianischen Kultur

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Ist der Fußball an sich schon wichtig, so ist eine WM ein nationales Ritual, dem niemand entgehen kann und die das brasilianische Selbstverständnis definiert. Nicht jeder mag von den Vereinen Flamengo und Fluminense fasziniert sein, aber an die WM 1998 kann sich jeder erinnern, der alt genug dazu ist. Wobei es manchmal sogar so scheint, als würden sich selbst 20-jährige Burschen detailliert an die WM 1950 erinnern können.

Dieses Phänomen beschreiben verschiedene bekannte brasilianische Anthropologen, die sich seit den 1970er Jahren mit dem Thema Fußball beschäftigt haben. So schrieb Simoni Lahud Guedes: „Es scheint mir, […] dass, wenn man sich im Falle Brasiliens nicht mit Phänomenen wie dem Fußball, dem Karneval und dem Umbanda beschäftigt, wäre das genau so, wie wenn man sich nicht mit der Hexerei unter den Azandes, den Zeremonien der Gê-Gruppen in Zentralbrasilien oder dem Schamanismus unter den Tupi beschäftigte.“1 Damit erklärt die Autorin den Fußball zu einem zentralen Element der brasilianischen Kultur, das nicht außer Acht gelassen werden darf.


Eine Straßenkreuzung in der Rua das Laranjeiras in Rio de Janeiro. Oben zehn Minuten vor dem Spiel Brasilien – Nordkorea, darunter während der ersten Halbzeit.

Hexerei, Magie oder Schamanismus werden oft als Rituale verstanden, in denen die beteiligten Personen ihre Identitäten repräsentieren. Diesem Gedankengang folgend, erklärte der Anthropologe Roberto Da-Matta den Fußball zum nationalen Ritual Brasiliens. In seinen Augen sind Rituale eine Form, in der eine bestimmte soziale Gruppe eine Geschichte über sich selbst erzählt, die ihr in irgendeiner Art wichtig erscheint. Meist werden aktuelle Probleme dramatisiert. Was sind das also für Geschichten, die die Brasilianer alle vier Jahre über sich selbst erzählen?

Der Fußball eignet sich nahezu perfekt als Bühne dieser Geschichten, denn er bedeutet zunächst einmal nichts. Man spielt Fußball um des Fußballs willen und nicht, weil es der Nation gerade wirtschaftlich oder politisch gut oder schlecht geht. Aber der Fußball ist auch so flexibel, dass er praktisch jede gewünschte Bedeutung annehmen und so Information mit ihm transportiert werden kann. Guedes erklärte deshalb den Fußball zur „Institution Null“ der brasilianischen Gesellschaft. Zu einer Ur-Institution, eigentlich wertneutral, die jedoch in alltäglichen Gesprächen mit jeder beliebigen Bedeutung oder mit jedem Argument besetzt werden kann.

Diese „Institution Null“ hat eine unkontrollierbare Eigenschaft: Sie kann sowohl etwas Positives als auch etwas Negatives bedeuten. Sie ist ein Grenzgänger zwischen den Welten. Als Brasilien den WM-Titel 2002 holte, fühlte man sich als die Elite einer Welt, in der brasilianische Qualitäten wie Lebensfreude und Verspieltheit die wichtigsten und begehrlichsten Güter überhaupt sind. Als man dann aber 2006 im Viertelfinale ausschied, fiel Brasilien in tiefste Trauer und sah auf sich selber wie auf ein Dritte-Welt-Land, das nur neidvoll zu den angeblich fortschrittlichen Europäern aufschauen kann. Der Weg von nationaler Selbstüberschätzung zu einem selbstzerstörerischen Minderwertigkeitskomplex ist in Brasilien kurz, und der Fußball wird so zu einem Statement zur Lage der Nation. Die „Institution Null“, die eigentlich nichts bedeutet, ist plötzlich bedeutungsschwer.

Insbesondere während Weltmeisterschaften wird beim Thema Fußball kontinuierlich diskutiert, was es heißt, Brasilianer zu sein. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass sich diese nationale Identität stets im Wandel befindet und keineswegs ausschließlich als positiv interpretiert wird. Man könnte sogar sagen, dass Brasilianer ein gewisses Faible für Niederlagen haben. Die Lage der Nation und die brasilianische Identität wird also in dem Ritual Fußball nicht nur erzählt, sondern aktiv diskutiert. Und die Fußball-Weltmeisterschaften sind die zentralen Bühnen für diese Ereignisse.

Es lohnt sich daher, einen Blick auf die Geschichte der Weltmeisterschaften zu werfen und zu schauen, welche Themen zu der entsprechenden Zeit aktuell waren, wie sie interpretiert wurden und welche Folgen sie für die nationale Identität hatten.

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