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cc) Grundrechtecharta

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Seit 2006 – also noch vor ihrer Rechtsverbindlichkeit durch den Vertrag von Lissabon – erkennt der EuGH auch der am 7.12.2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) eine mittelbare Rechtserheblichkeit zu. Durch den Reformvertrag von Lissabon hat die Charta eine deutliche Aufwertung gegenüber dem bisherigen Rechtszustand erfahren. Der (gegenüber der ursprünglichen Version aktualisierte) Text der Charta (2007/C 303/01) ist zwar nicht Teil von EUV/AEUV; durch den Verweis in Art. 6 Abs. 1 EUV wird die Charta aber den Verträgen (EUV, AEUV) gleichgestellt und somit als Teil des EU-Primärrechts rechtsverbindlich. Nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wird außerdem die EMRK zu einem Mindeststandard erklärt, hinter dem die Unionsorgane bei der Anwendung der GRC nicht zurückbleiben dürfen.

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Die Charta enthält einen Kohärenzartikel in Art. 52 Abs. 3:

„Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weitergehenden Schutz gewährt.“

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Im Gegensatz zur EMRK hat die Charta in der deutschen Rechtsordnung nicht nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Sie genießt vor nationalen Gerichten und Behörden als Teil des Unionsrechts einen Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht. Dies ist aber nur der Fall in Verfahren mit „europarechtlichem Bezug“, wenn also in Verfahren Unionsrecht aus- bzw. durchgeführt oder umgesetzt wird, was der EuGH aber in „zunehmendem“ – durchaus fragwürdigen – Umfang annimmt.[39]

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Beispiel

EuGH Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10 = NJW 2013, 1415 (Fransson/Schweden): Hier stellte sich für ein Strafgericht die Frage, ob nach steuerlichen Sanktionen in Form von Steuerzuschlägen wegen Steuerhinterziehung auch noch eine strafrechtliche Verurteilung am Maßstab des Art. 50 EU-Grundrechtecharta zulässig sei. Nach dem EuGH sind steuerliche Sanktionen und ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung als Durchführung mehrerer Bestimmungen des Unionsrechts über die Mehrwertsteuer und die finanziellen Interessen der Union anzusehen. Daher seien auch die Charta und das in ihr enthaltene Doppelbestrafungsverbot anwendbar und konnten in diesem Fall vom EuGH ausgelegt werden. In der Sache urteilte er jedoch, dass nur wenn die steuerliche Sanktion tatsächlich strafrechtlichen Charakter habe, die Einleitung des Strafverfahrens den Grundsatz der Doppelbestrafung verletze.

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Die Entscheidung des EuGH geht zu weit. Die vom BVerfG im Antiterrorurteil[40], bei der es zu recht eine Durchführung des Rechts der Union i.S.d. Art. 51 Abs. 1 S. 1 der Grundrechtecharta der EU verneinte, geäußerten Vorbehalte sind verständlich. Wenn eine Regelung – so das BVerfG – nur innerstaatliche Ziele verfolgt, die das Funktionieren der unionsrechtlich geordneten Rechtsbeziehungen nur mittelbar beeinflussen können, dann besteht keine Vorlagepflicht.[41] Die Drohung des BVerfG mit einer „ultra-vires“-Entscheidung kann aber mit Latzel[42] nur als „mißlungene Karlsruher Trotzreaktion“ bewertet werden.

Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde

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